Читать книгу Angel - Engel der Nacht - Eisgräfin - Claudia Rimkus - Страница 10

Kapitel 7

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Hanna bog gerade mit dem Wagen in ihre Straße ein, als ein Mann mit einem kleinen Hund die Fahrbahn vor ihr überquerte.

Nachbar am Morgen bringt Kummer und Sorgen, dachte sie, sein freundliches Nicken ignorierend. Sie wollte mit diesem Dr. Jensen nichts zu tun haben. In ihren Augen war dieser Mann nicht nur arrogant, sondern auch rücksichtslos und ohne jedes Taktgefühl.

In der zweiten Stunde hatte Jakob Unterricht in der 7. Jahrgangsstufe zu erteilen. Sorgfältig vorbereitet betrat er den Klassenraum.

„Guten Morgen“, begrüßte er die Schülerinnen und Schüler, während er seine Mappe auf das Pult legte. „Ich bin Dr. Jakob Jensen – euer neuer Geschichtslehrer.“

Keine Reaktion. Dadurch ließ er sich aber nicht aus dem Konzept bringen.

„Damit ich jeden von euch ansprechen kann, bitte ich euch, zunächst ein Namensschild anzufertigen und vor euch auf den Tisch zu stellen.“

Keiner der Schüler rührte sich. Gelangweilt schauten sie ihren neuen Lehrer an.

„Offenbar seid ihr des Schreibens nicht kundig“, bemerkte Jakob gelassen und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen das Pult. „Dann erzählt mir erst mal, an welchem Stoff ihr in den letzten Unterrichtsstunden gearbeitet habt.“

Keiner meldete sich zu Wort.

„Demnach fällt euch auch das Sprechen schwer“, schloss er daraus. „Mit fehlen zum Schweigen leider die richtigen Worte. Deshalb muss ich euch gestehen, dass ich ein wenig enttäuscht bin. Zu meiner Zeit war man viel einfallsreicher, um einen neuen Lehrer aus der Reserve zu locken ...“ Während er sprach, setzte er sich in Bewegung. An den Schülertischen vorbei schritt er gemächlich durch den Raum, so dass ihm die Blicke der Kinder erwartungsgemäß folgten. „Beispielsweise hatten wir damals einen Mitschüler, der keinen Fisch vertragen konnte. Immer, wenn er etwas von einem Wasserbewohner gegessen hatte, musste er sich anschließend übergeben. Also haben wir ihn mit einer Ladung Rollmöpsen gefüttert, kurz bevor unser neuer Mathelehrer in die Klasse kam. Der ahnungslose Pauker hatte sich kaum bei uns vorgestellt, da ist unser Fischers Fritzchen aufgesprungen, hat: Mir ist schlecht... gerufen und seinen Mageninhalt in hohem Bogen auf die blank geputzten Schuhe des Herrn Oberstudienrats befördert.“

Allgemeines Gelächter kam auf.

„Geile Performance“, erklang eine Jungenstimme aus der dritten Reihe. „Was ist dann passiert?“

„Jedenfalls kein Mathe“, schmunzelte Jakob. „Bis der Klassenraum gesäubert war – wozu sich keiner von uns so recht über- winden konnte – und die Schuhe des Lehrers wieder einiger-maßen tragfähig waren, läutete es zur Pause.“ Aufmerksam schaute er in die Runde, entdeckte ein bekanntes Gesicht. „Was haltet ihr davon, sozusagen als Einstieg, heute statt Geschichtsunterricht einfach nur ein bisschen zu plaudern, damit wir uns kennenlernen? – Ihr könnt mir auch Fragen stellen“, fügte er hinzu. „Ich werde sie euch, so gut ich kann, beantworten.“ Da sich niemand traute, den Anfang zu machen, schaute er ein Mädchen mit dunklem Haar an. „Möchtest du beginnen, Sara?“

„Nicht wirklich“, sagte sie, die erstaunten Blicke ihrer Mitschüler ignorierend. „Oder doch“, besann sie sich. „Weshalb heißt Ihr komischer kleiner Hund eigentlich Pavarotti?“

„Der komische kleine Hund ist ein Jack-Russell-Terrier“, erklärte Jakob bereitwillig. „Als ich ihn bekommen habe, war er ein putziger zehn Wochen alter Welpe. An unserem ersten gemeinsamen Abend lag er bei leiser Musik schlafend in einer Sofaecke. Plötzlich kam die raumfüllende Stimme von Luciano Pavarotti mit einer Arie aus dem Radio. Erschrocken ist mein neuer Hausgenosse vom Sofa auf den Teppich gesprungen und hat mit dem berühmten Tenor um die Wette gejault. Seitdem nenne ich den kleinen Kerl Pavarotti.“

Mit zögernd erhobenem Zeigefinger meldete sich ein anderes Mädchen.

„Ja!?“, sagte Jakob freundlich. „Leider weiß ich deinen Namen nicht.“

„Melissa“, stellte es sich schüchtern vor. „Haben Sie Kinder, Herr Dr. Jensen?“

„Soviel ich weiß, nicht“, antwortete er offen. „Ich bin nicht verheiratet. Allerdings wohne ich mit meinem Bruder und seinen drei Jungens unter einem Dach. Das ist auch nicht immer ein leichter Job.“

Beim Mittagessen erkundigte sich Marie bei ihrer Tochter nach der ersten Geschichtsstunde bei dem neuen Studiendirektor, aber Sara ließ ihre Mutter erst ein wenig zappeln.

„Wir hatten ziemlich viel Spaß...“

„Was bedeutet das?“, fragte Marie besorgt. „Was habt ihr mit dem armen Mann gemacht?“

Mit Unschuldsmiene zuckte das Mädchen die Schultern.

„Nichts....“

„Sara!“

„Komm wieder runter“, sagte ihre Tochter gelassen. „Dr. Jensen ist einer von der seltenen Sorte, die sich anscheinend durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Der hat keine fünf Minuten gebraucht, bis alle getan haben, was er wollte.“ Seufzend wickelte sie ihre Spaghetti um die Gabel. „Und ich habe ihm sogar dabei geholfen.“

„Schäm dich“, bemerkte Hanna, die das Gespräch von der Küchentür aus verfolgte. „Kann man sich neuerdings noch nicht mal auf seine Familie verlassen?“

„Was sollte ich denn tun?“, verteidigte sich Sara, „Wir sollten ein Namensschild schreiben und ihm sagen, was wir bislang durchgenommen haben. Als keiner von uns reagiert hat, erklärte er uns seelenruhig, dass unsere Nummer uralt sei. Dann hat er uns von den Aktionen erzählt, die sie früher gegen neue Lehrer gestartet haben. Damit hatte er plötzlich alle im Sack.“

„Du hast gesagt, du hättest ihm geholfen“, erinnerte Hanna sie und setzte sich an den Tisch. Als Marie ihrer Cousine daraufhin die Spaghettischüssel reichen wollte, schüttelte Hanna den Kopf.

„Danke, ich bin nicht hungrig.“ Gespannt blickte sie wieder Sara an. „Nun erzähl schon.“

„Dr. Jensen hat vorgeschlagen, statt Geschichtsunterricht ein bisschen zu plaudern. Es hat sich aber keiner gemeldet. Da hat er gefragt: Möchtest du beginnen, Sara?“ Theatralisch verdrehte sie die Augen. „Mann, war das peinlich! Alle haben mich angeglotzt! Was blieb mir anderes übrig, als zu antworten? In der Pause musste ich den anderen dann lang und breit erklären, woher der Jensen meinen Namen wusste.“

„Offenbar versteht der Mann sein Handwerk“, sagte Marie, wobei sie ihrer Cousine einen triumphierenden Blick zuwarf. „Ich habe schon befürchtet, dass ich mich bei den Nachbarn nicht mehr sehen lassen kann.“

„Dass er die Kinder so geschickt wie ein professioneller Hütchenspieler überlistet hat, macht ihn mir auch nicht sympathischer“, meinte Hanna. „Ich finde diesen Mann nach wie vor schrecklich.“

„Aussehen tut er für sein Alter aber echt gut“, sagte Anna. „Jedenfalls finden das meine Freundinnen. Außerdem hat er total coole Sprüche drauf.“

„So?“, erwiderte Hanna skeptisch. „Welche denn?“

„Felix machte heute in Deutsch so viele Rechtschreibfehler, dass Dr. Jensen ihm geraten hat, öfter mal ein Buch zu lesen. Da hat ihn Felix völlig verdattert angeguckt, so dass Dr. Jensen gesagt hat...“ Sekundenlang überlegte sie. „... ein Buch ist ein altmodischer Datenträger auf Zellulosebasis, auf dem Informationen in Form von graphischen Elementen codiert sind. – Genial, oder?“

„Nicht schlecht formuliert“, räumte die gelernte Journalistin Hanna ein. „Wahrscheinlich hat er aber nur ein paar Sprüche auswendig gelernt, um bei seinen Schülern zu punkten.“

„Du bist nicht objektiv, Hanna“, hielt Marie ihr vor. „Es ist doch völlig in Ordnung, wenn die Kinder ihren neuen Lehrer mögen.“

„Okay, okay“, sagte ihre Cousine im Aufstehen. „Ich ver- schwinde jetzt unter die Dusche – und dann gehe ich shoppen.“

Ein bittender Ausdruck erschien auf Annas Gesicht.

„Darf ich mitkommen?“

„Unter die Dusche?“

„Nein, shoppen. – Bitte, Hanna! Mam hat mir eine neue Jeans versprochen.“

„Mam?“, stutzte Marie. „Bin ich das etwa?“

„Logisch. Für Mamarie bin ich definitiv zu alt. Das ist doch Babysprache.“

„Auch wenn du anscheinend über Nacht erwachsen geworden bist, bleibt es bei den ausgemachten fünfzig Euro für die Jeans“, sagte Marie. „Mehr ist nicht drin.“

„Du könntest mir das Taschengeld für den nächsten Monat dazugeben.“

„Kommt nicht in Frage.“

„Mam! Die ganze Welt lebt von Krediten.“

„Keine Chance“, beendete Marie die Diskussion. „Und untersteh dich, Hanna anzupumpen. Sonst bekommst du richtig Ärger mit mir.“

Bei ihrem Einkaufsbummel hatten Hanna und Anna viel Spaß.

Das Mädchen entdeckte in einer kleinen Boutique sogar eine modische, im Preis reduzierte Jeans für neunundvierzig Euro. In der Umkleidekabine probierte Anna die Hose an, ehe sie Hanna das begehrte Stück vorführte.

„Wie findest du sie?“

„Steht dir gut“, urteilte Hanna mit sicherem Blick. „Auch die Länge stimmt.“

Auf der Stelle drehte sich das Mädchen herum.

„Und von hinten?

„Perfekt.“

„Echt?“, zweifelte Anna. „Sieht mein Hintern darin nicht zu dick aus?“

„Im Gegenteil: Du wirkst richtig sexy.“ Hinter ihrem Rücken zauberte sie einen Bügel mit einem gehäkelten weißen Shirt hervor. „Das würde super dazu passen.“

Auch Anna gefiel es sofort.

„Geiles Teil.“ Sie nahm es ihr aus der Hand und hielt es sich vor dem großen Spiegel an den Oberkörper. „Sieht stark aus.“

„Probier es an“, forderte Hanna sie auf. „Es müsste deine Größe sein.“

Verstohlen warf Anna einen Blick auf das Preisetikett.

„Besser nicht. Ich habe doch nur fünfzig Euro.“

„Na, und!? Dafür besitze ich eine Kreditkarte.“

„Mam hat mir aber verboten, dich anzupumpen.“

Verschwörerisch blinzelte Hanna ihr zu.

„Mir hat sie aber nicht verboten, dir was zu schenken.“

Ein Leuchten lief über das Gesicht des Mädchens.

„Du bist einsame Spitze, Hanna! Mam hätte bestimmt nicht...“

Stirnrunzelnd brach sie ab. „Weißt du überhaupt, wie viel das Teil kostet?“

„Wahrscheinlich habe ich heute meinen leichtsinnigen Tag“, scherzte Hanna. „Zieh es an, ob es passt. Inzwischen schaue ich mich nach was Hübschem für deine Schwestern um.“

Nach einem Streifzug durch einige Geschäfte standen Hanna und Anna mit mehreren bunten Einkaufstüten beladen in der Fußgängerzone.

„Wohin jetzt?“, fragte das Mädchen. „Oder hast du schon alles, was du einkaufen wolltest?“

„Normalerweise gehe ich dienstags immer zur Massage“, überlegte Hanna, bevor sie einen Blick zur Uhr warf. „Allerdings wird es heute zu spät, wenn ich dich vorher zu Hause absetze.“ In ihrer Handtasche kramte sie nach ihrem Handy. „Ich werde den Termin verschieben.“

„Aber nicht meinetwegen“, verlangte Anna. „Ich kann mit den Öffies nach Hause fahren.“

„Das dauert doch ewig. Aber falls du nichts anderes vorhast, könntest du mich begleiten. Ich spendiere dir eine Verwöhn-Stunde. Danach fühlst du dich wie neugeboren.“

„Okay, ich bin dabei.“

Für Anna wurde das eine ganz neue Erfahrung. Wie Hanna lag sie bäuchlings auf einer Liege und genoss es, als die erfahrenen Hände der Masseurin ein duftendes Öl auf ihrer Haut verteilten.

Nach einer Weile schaute das Mädchen zu Hanna hinüber, die völlig entspannt auf der Liege neben ihr massiert wurde.

„Hanna!?“

„Mmm...“

„Darf ich dich was fragen?“

„Mmm...“

„Wie alt warst du, als du dich das erste Mal verliebt hast?“

Träge hob Hanna die Lider und schaute direkt in die erwartungsvoll auf sie gerichteten blauen Augen.

„Ich war ungefähr in deinem Alter. Damals habe ich die Internationale Schule in Madrid besucht. Der Junge hieß Sergio, war zwei Jahre älter als ich und hatte die schönsten braunen Augen, die ich je gesehen hatte.“

„Und?“, fragte Anna gespannt. „War er auch in dich verliebt?“

„Si, Señorita“, erwiderte sie versonnen lächelnd. „Muy fuerte.“

„Habt ihr euch auch geküsst?“

„Aber hallo“, lautete Hannas schelmische Antwort. Sie kannte das Mädchen gut genug, um mehr hinter dem plötzlichen Interesse an ihrer Jugendliebe zu vermuten. „Warum möchtest du das eigentlich wissen?“ fragte sie geradeheraus. „Bist du etwa verliebt?“

„Ich?“, tat Anna entrüstet. „Wie kommst du denn darauf?“

„Sorry“, bat Hanna, während sie einen wissenden Blick mit der Masseurin tauschte. „Irrtümlich dachte ich, wir führen hier ein offenes Gespräch.“ Als sei die Sache damit für sie erledigt, schloss sie wieder die Augen.

Schweigend genossen sie die Massagen. Da Hanna hinterher gern noch ein wenig ruhte, zogen sich die Masseurinnen nach der Behandlung zurück.

„Hanna!?“, sagte Anna zaghaft. „Bist du jetzt sauer auf mich?“

„Überhaupt nicht“, entgegnete sie, ohne die Augen zu öffnen. „Ich kann gut verstehen, dass du über so persönliche Dinge lieber mit deiner Mutter sprichst. Immerhin bin ich nur...“

„Das stimmt doch nicht“, fiel Anna ihr ins Wort. „Mit Mam würde ich gar nicht darüber reden wollen. Sie reagiert immer gleich besorgt, verteilt kluge Ratschläge... Na ja, eben wie Mütter so sind. Mit dir kann ich wie mit einer guten Freundin sprechen, weil du nicht nur das Kind in mir siehst. Eltern wollen einen ständig vor allem beschützen. Tu dies nicht, tu das nicht...“ Tief seufzte sie auf. „Dabei muss ich meine Erfahrungen doch selbst machen.“

Nun schlug Hanna doch die Augen auf. Sie stützte den Kopf auf die linke Hand und schaute das Mädchen verständnisvoll an.

„Mir ist es damals ähnlich ergangen. Ich war vierzehn, als wir in die Heimat meines Vaters gezogen sind. Madrid ist eine wunderschöne Stadt, aber für mich war das eine völlig neue Welt. Meine Eltern ließen mich keinen Schritt allein aus dem Haus gehen – aus Furcht, mir könne etwas zustoßen.“

„Das stelle ich mir schrecklich vor“, überlegte Anna. „Man muss doch auch mal allein was unternehmen.“

„Nach ein paar Wochen habe ich rebelliert“, erzählte Hanna. „Mittlerweile habe ich mich in der Stadt einigermaßen ausgekannt und meinen Eltern klargemacht, dass ich kein kleines Mädchen mehr bin, das einen Aufpasser braucht. Es hat mich viele Tränen gekostet, mir ein Stück Freiheit zu erkämpfen. Heute ist mir natürlich bewusst, dass meine Eltern einfach nur in Sorge um mich waren – weil sie mich liebten und mich vor der bösen Welt dort draußen beschützen wollten.“

„Auch Mam meint es mit ihrer Fürsorge nur gut“, sagte Anna ernst. „Trotzdem ist es manchmal echt peinlich, mit ihr über Dinge zu sprechen, für die ich angeblich sowieso zu jung bin.“

„Beispielsweise Sexualität“, vermutete Hanna. „Nicht nur dein Körper hat sich in den letzten Monaten verändert – sondern auch, was du fühlst, nicht wahr!? Wahrscheinlich gibt es sogar schon einen Jungen, der dir besonders gut gefällt.“

„Kannst du hellsehen?“

„Das eine zieht das andere meistens nach sich“, erwiderte sie lächelnd. Unbefangen erhob sie sich von der Liege und schlang ein Handtuch um ihren schlanken Körper. „Weiß er, dass du ihn magst?“

„Nein“, gestand Anna leise und folgte ihr in den Umkleide- raum. „Wir kennen uns noch nicht lange ...“

„Was gefällt dir denn an ihm?“, fragte Hanna beim Anziehen. „Ist er hübscher als die anderen?“

„Darauf kommt es doch gar nicht an“, erklärte Anna mit wegwerfender Geste. „Obwohl auch er echt süß aussieht, bildet er sich nichts darauf ein. Überhaupt ist er viel ernsthafter als die anderen Jungen, die nur das eine im Kopf haben und dumme Sprüche ablassen. Diese oberflächlichen Typen gehen mir schon lange auf den Geist.“

„Wahrscheinlich ist dein heimlicher Schwarm reifer als seine Altersgenossen“, schloss Hanna aus ihren Worten. „Ist er bei Mädchen und Jungen gleichermaßen beliebt?“

„Alle mögen ihn“, bestätigte Anna. „Die Jungens, weil er ein toller Kumpel ist - und die Mädchen...“ Ein tiefer Seufzer löste sich von ihren Lippen. „Die sind fast alle hinter ihm her. Da habe ich sowieso keine Chance.“

„Wenn du so negativ denkst, hast du die tatsächlich nicht. Vielleicht solltest du ihn spüren lassen, dass er dir nicht gleichgültig ist.“

„Bist du verrückt?“, entfuhr es Anna entsetzt. „Ich laufe doch keinem Jungen nach. Was glaubst du, wie peinlich das ist, wie die anderen ihn anschmachten.“ Ihre Augen nahmen einen flehenden Ausdruck an. „Bitte, Hanna, du darfst mit niemandem darüber sprechen! Schon gar nicht mit Mam!“

„Sehe ich aus wie eine Klatschtante?“

„Natürlich nicht, aber ihr redet doch auch sonst über alles.“

„Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben“, versprach Hanna und griff nach ihrer Umhängetasche. „Bist du fertig? Zu Hause werden sie schon auf uns warten.“

Zwanzig Minuten später ließ Hanna den Wagen vor ihrem Grundstück ausrollen. Im gleichen Moment stoppte Jakob seine blank polierte Karosse direkt vor ihrer Stoßstange.

„Mir bleibt auch nichts erspart“, murmelte Hanna. Ohne den Nachbarn und seinen ältesten Neffen zu beachten, stieg sie aus und öffnete den Kofferraum. Einige der Einkaufstaschen übergab sie Anna, die restlichen nahm sie selbst.

„Hallo, Frau Flemming“, begrüßte Jakob sie, blieb bei ihr stehen und deutete auf ihre Tüten. „Sieht nach einem Kaufrausch aus. Haben Sie sich für Ihre Auftritte neu eingekleidet?“

„Welche Auftritte?“

„Morgens auf der Dachterrasse. Ihr Outfit war jedes Mal sehenswert. Geschmack haben Sie – das muss man Ihnen lassen.“

„Sie haben nicht zufällig einen Ruf als Nervensäge zu verteidigen? Bei mir stehen Sie auf der Liste unerwünschter Personen vom ersten Augenblick an ganz oben. Deshalb können Sie Ihre geistlosen Sprüche getrost woanders anbringen.“

„Warum denn so bissig, Frau Nachbarin?“, fragte er scheinbar bar verwundert. „Ich werde einfach nicht schlau aus Ihnen.“

„Das will ich doch hoffen, sonst müsste ich mir noch Sorgen machen.“ Mit Schwung schloss sie die Kofferraumklappe. „Falls Sie es immer noch nicht begriffen haben: Ich verschwende meine kostbare Zeit nicht gern mit langweiligem nachbarschaftlichen Geplauder. Bitte beschränken Sie sich mit Ihrer Konversation künftig auf das Allernötigste.“ Ohne seine Reaktion abzuwarten, ging Hanna auf ihr Gartentor zu. „Anna!“ rief sie nach dem Mädchen, das mit Max zusammenstand. „Kommst du?“

Beim Betreten des Hauses wartete Geisha schon in der Diele.

Freudig mit dem kurzen Schwanz wedelnd begrüßte die Hündin ihre Herrin und sprang um sie herum.

„Ist ja gut, meine Süße“, sagte Hanna und kraulte das Tier hinter den Ohren. „Du tust gerade so, als hättest du mich tagelang nicht gesehen.“

„Dieser verrückte Hund würde sich doch genauso freuen, wenn du nur fünf Minuten weg gewesen wärst“, meinte Anna und ging ins Wohnzimmer voraus. „Wir sind wieder da!“

„Das wurde aber auch Zeit“, sagte Marie, die mit ihren beiden Jüngsten Karten spielte. „Wo ward ihr denn so lange?“

„Erst Shoppen und dann zur Massage“, antwortete Hanna im Hereinkommen. „Vor dem Haus hat uns eben noch unser reizender Nachbar aufgehalten.“

„Welcher?“

„Der gute alte Dr. Jensen. – Es wird keine Reibereien mehr zwischen uns geben.“

„Hast du endlich Frieden mit ihm geschlossen?“

Hanna blickte ihre Cousine wie ein Wesen von einem anderen Stern an.

„Kann man am Nordpol Sonnenbaden? Ich habe dem Herrn Oberlehrer lediglich zu verstehen gegeben, dass ich nicht den geringsten Wert auf weiteren Kontakt mit ihm lege.“

„Ach, Hanna“, seufzte Marie. „Musste das sein?“

„Allerdings“, nickte Hanna. „Wenn ich diesen Mann nur sehe, sträuben sich mir die Nackenhaare. Seine unverschämten Bemerkungen setzen dem ganzen noch die Krone auf. Das muss ich mir wirklich nicht antun.“

„Mir ist unbegreiflich, dass ihr ständig aneinander geratet“, sagte Marie verständnislos. „Zu mir ist er immer sehr nett.“

„Vielleicht hat er ein Auge auf dich geworfen. Schlepp mir den ja nicht als Hausfreund an, sonst sind wir geschiedene Leute.“

„Keine Sorge“, ging Marie darauf ein. „So nett ist er nun auch wieder nicht.“ Fragend schaute sie ihre Tochter an. „Hast du eine passende Jeans gefunden, Anna?“

„Für neunundvierzig Euro“, erzählte das Mädchen, stellte seine Tüten ab und holte die Hose heraus. Stolz zeigte Anna sie ihrer Mutter. „Ich habe auch ein echt geiles Oberteil dazu“, gestand Anna und fischte das Shirt aus der Tasche. „Sieht super zusammen aus.“

Marie warf nur einen kurzen Blick darauf, ehe sie ihre Tochter vorwurfsvoll anschaute.

„Das ist eindeutig gegen unsere Abmachung, Anna! Hatte ich dir nicht verboten, Hanna anzupumpen? Du weißt ganz genau, dass ich nicht möchte...“

„Bitte, lass sie“, unterbrach Hanna ihre Cousine. „Dafür bin ich verantwortlich. Während Anna die Jeans anprobiert hat, habe ich das Shirt entdeckt. Ich musste es ihr praktisch aufdrängen.“

Aus einer Tüte nahm sie zwei modische T-Shirts, die sie Sara und Lisa reichte. „Euch habe ich auch was mitgebracht.“

„Danke, Hanna“, sagten beide unisono, während Marie nur den Kopf schüttelte.

„Du sollst die Kinder nicht immer so verwöhnen. Sie müssen lernen...“

„Ja, ja, ich weiß“, fiel Hanna ihr abermals ins Wort, bevor sie ihr ein Päckchen aus einer anderen Tüte zuwarf.

Reaktionsschnell fing Marie es auf.

„Was ist das?“

„Der neue Duft von Dior. Vielleicht lassen sich dadurch ein paar Verehrer anlocken. – Nur nicht aus dem Nachbarhaus.“

„Da hat man endlich mal zwei attraktive männliche Singles in der Nähe – und dann soll man die Finger von ihnen lassen. Das Leben ist wirklich ungerecht.“

„Ein arroganter Schulmeister und ein Witwer mit drei Kindern“, bemerkte Hanna spöttisch. „Tolle Auswahl. Der Ältere erscheint ohnehin nicht beziehungsfähig, während der Jüngere zwar einen sympathischen Eindruck macht, aber Anhang hat. Bei zusammen sechs Kids könntest du deinen Partyservice vergessen. Deshalb solltest du das Parfum besser bei einem Mann testen, der dich entlastet, anstatt dir noch mehr Arbeit aufzuhalsen.“

„Ich werde darüber nachdenken. Vorher kümmere ich mich aber um das Abendessen, um meine spendable Cousine zu entlasten.“

Die Sendung dieser Nacht stellte Hanna unter das Thema: Verzeihen. Sie bat ihre Zuhörer, ihr zu erzählen, was sie verzeihen können – und was nicht. Zahlreiche Anrufe gingen im Studio ein. Manche Hörer waren erleichtert, einmal über ihren Kummer sprechen zu können, über Dinge, die sie derart schwer getroffen hatten, dass es ihnen unmöglich erschien, verzeihen zu können.

Wie stets wurden die einzelnen Gespräche durch Musikeinspielungen voneinander getrennt. Noch während ein Song lief, gab Sandro der Moderatorin ein aufgeregtes Zeichen, dem zu entnehmen war, wer der nächste Anrufer sei. Hanna nickte als Bestätigung, dass sie verstanden hatte.

„Ich bin der Engel der Nacht“, sagte sie ins Mikrofon. „Mit wem spreche ich?“

„Mit deinem Lieblingsvampir“, lautete die Antwort. „Obwohl unser letztes Gespräch schon eine Weile zurückliegt, hast du mich hoffentlich nicht vergessen!?“

„Wo werd‘ ich denn“, erwiderte sie mit samtweicher Stimme, die ihn so sehr faszinierte. „Du bist immer noch die einzige fledermausartige Gestalt in meinem Leben. Warum hast du so lange nicht von dir hören lassen? Wirst du mir etwa untreu?“

„Wo werd‘ ich denn?“, sagte er leise lachend. „Du bist meine einzige Liebe. Trotzdem muss ich hin und wieder meinen Geschäften nachgehen, um den Unterhalt für mein Schloss zu verdienen. Kannst du mir verzeihen, dass ich dich vernachlässigt habe?“

„Vergeben und vergessen, Dracula. – Womit wir beim Tenor dieser Sendung wären. Was glaubst du, ist am schwersten – und am leichtesten zu verzeihen?“

„Kleine Fehler und Schwächen unserer Mitmenschen sollten wir verzeihen können“, entgegnete Jakob. „Dinge, die aus Unwissenheit falsch gemacht werden ebenso wie die kleinen Notlügen, die wohl jeder von uns gelegentlich gebraucht, um leichter durchs Leben zu kommen oder um Konflikte zu vermeiden. Niemand kann ununterbrochen die Wahrheit sagen.“

„Damit hast du wohl recht“, sagte der Engel der Nacht. „Verrätst du uns auch, was du als unverzeihlich empfindest?

„Einen schweren Vertrauensbruch.“

„Kannst du das näher erläutern? Vielleicht anhand eines Beispiels?“

„Dein Wunsch ist mir Befehl“, sagte er, um keine Antwort verlegen. „Stell dir vor, wir beide wären ein Paar, Angel. Ein Liebepaar, wie es glücklicher nicht sein könnte ...“

„...wie es unterschiedlicher nicht sein könnte“, warf sie ein. „Ein blutdurstiger Vampir und ein sanfter Engel erscheinen mir zwar als Fehlbesetzung für dein Beispiel, aber ich bemühe mich, es mir dennoch vorzustellen.“

„Herzlichen Dank“, versetzte Jakob mit leichtem Spott in der Stimme. „Wir sind also glücklich, können uns jederzeit hundertprozentig aufeinander verlassen und haben keine Geheimnisse voreinander. Irgendwann bemerke ich jedoch, dass du mir nicht mehr richtig zuhörst, mit den Gedanken oft woanders bist und dich häufig verspätest, wenn wir verabredet sind. Das alles weckt mein Misstrauen. – Kannst du mir folgen, Angel?“

„Ohne Probleme“, bestätigte sie. „Du vermutest einen Rivalen. – Richtig?“

„Gut kombiniert“, lobte er sie. „Eines Tages sagst du mir, du hättest keine Zeit für mich, weil du dich mit... einer Kollegin treffen müsstest. Kurz entschlossen folge ich dir heimlich – bis zum Haus meines besten Freundes. Er begrüßt dich an der Tür mit einer innigen Umarmung und einem Kuss ...“

„Dadurch siehst du deine Befürchtung bestätigt“, vollendete der Engel der Nacht. „Du glaubst, ich hintergehe dich mit deinem besten Freund. Einen solchen Vertrauensbruch kannst du nicht verzeihen.“

„Nicht so voreilig, Angel“, bat Jakob. „Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende. – Ich stehe also vor dem Haus und überlege, was ich nun tun soll. Es widerstrebt mir, dich erst am nächsten Tag zur Rede zu stellen, um mir dann Ausreden anzuhören...“

„Außerdem bist du gerade so schön wütend“, spottete sie. „Die beste Voraussetzung für einen Mann, eine bühnenreife Szene hinzulegen.“

„Kluges Mädchen“, lobte Jakob. „Deshalb läute ich, und als mein Freund nachlässig gekleidet öffnet, macht sich meine Faust selbständig und schickt ihn zu Boden. An ihm vorbei stürme ich ins Haus...“

„Zuerst schaust du in seinem Schlafzimmer nach“, vermutete sie. „Findest du mich dort in einem zerwühlten Bett?“

„Nein, ich entdecke dich in der Küche beim Abwasch.“

„Ach...“, entfuhr es ihr erstaunt. „Habe ich dich etwa nicht mit deinem besten Freund betrogen?“

„Mitnichten, du warst die einzige, die bemerkt hat, wie schlecht es ihm ging. Der gute Mann hatte einen Haufen Probleme: Erst war die Freundin weg, kurz darauf der Job. Mein bester Freund ertränkte seinen Kummer im Alkohol, ließ sich gehen und lebte innerhalb weniger Wochen in einem totalen Chaos. Ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe. Du hattest ihn irgendwann betrunken auf der Straße aufgelesen und dich seither um ihn gekümmert, ihm Trost gespendet, ihm Verständnis entgegengebracht und sein Haus nach und nach wieder in ein gemütliches Heim verwandelt.“

„Warum habe ich dir nicht längst davon erzählt?“

„Aus Loyalität: Mein Freund hat dich gebeten, zu schweigen – weil er sich geschämt hat. Er wollte nicht für einen Versager gehalten werden.“

„Trotzdem hast du mein Schweigen als einen Vertrauensbruch empfunden?“, resümierte der Engel der Nacht. „Den du nicht verzeihen kannst?“

„Das wäre zu einfach“, belehrte er sie. „Der Vertrauensbruch ist mir anzulasten, Angel. Anstatt dir zu vertrauen, habe ich dir eine Affäre mit meinem besten Freund unterstellt. Außerdem hätte mir klar sein müssen, dass mein langjähriger Freund niemals fähig wäre, etwas mit meiner Frau anzufangen. Ich hätte euch beiden vertrauen müssen.“

„Jetzt verstehe ich, Dracula“, sagte der Engel der Nacht beeindruckt. „Mit deinem Beispiel wolltest du uns vor Augen führen, dass ein schwerer Vertrauensbruch nicht unbedingt bedeuten muss, dass einer den anderen hintergeht. Misstrauen kann genauso zerstörerisch und schmerzhaft sein.“

„Man sollte den Menschen, die einem nahe stehen, nicht misstrauen“, fügte Jakob hinzu. „Wenn du das Gefühl hast, dein Partner entfernt sich innerlich von dir, sprich mit ihm darüber, anstatt dich heimlich zu quälen und dem anderen die absurdesten Gründe zu unterstellen. Solche Verdächtigungen sind meist unverzeihlich. Sie machen eine Beziehung kaputt. – Oder würdest du so etwas verzeihen, Angel?“

„Wahre Liebe verzeiht alles“, sagte sie mit sanfter Stimme. „Eigentlich schade, dass wir nicht wirklich ein Paar sind, Dracula. Mit dir Versöhnung zu feiern, wäre bestimmt ein besonderes Erlebnis.“

„Ein unvergessliches“, stimmte er ihr zu. „Wir sollten uns so bald wie möglich treffen, Angel.“

„Daraus wird wohl nichts werden“, erwiderte sie mit Bedauern in der Stimme. „Nachts bin ich hier im Studio, während du durch die Botanik flatterst. Tagsüber liegst du in deinem Sarg und ich in meinem Himmelbett.“

„Das klingt wie die zwei Königskinder, die nie zusammenkommen konnten.“

„Das ist wahrscheinlich unser Schicksal.“

„Nicht unbedingt“, widersprach Jakob. „Wir warten einfach auf den Winter. Wenn die Tage kürzer sind, kann ich meine Gruft schon früher verlassen. Du gehst doch erst um Mitternacht auf Sendung. Demnach blieben uns täglich vier bis fünf Stunden.“

„Als unabhängiger Engel wäre mir das entschieden zu viel“, versetzte sie ihm einen Dämpfer. „Außerdem ist es prickelnder, nur durch unsere Stimmen in der Nacht verbunden zu sein. Du kannst mich hier jederzeit anrufen, Dracula. – So wie die anderen Zuhörer, die noch in der Leitung sind. Auch ihr Beitrag interessiert mich. Deshalb...“

„Hab schon verstanden“, unterbrach er sie. „Gute Nacht, Angel. Ich melde mich wieder.“

Angel - Engel der Nacht

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