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Kapitel 8

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Es war ein wunderschöner Juninachmittag. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Durch die Wipfel der Bäume strich leise der Wind. Nur der Gesang der Vögel war zu hören; ansonsten herrschte Stille. Selbst von den Nachbarn wehte erstaunlicherweise kein Laut herüber. In knappen Shorts und luftigem Top hatte es sich Hanna im Halbschatten einer Birke auf einer Gartenliege bequem gemacht. Geisha schlief unweit von ihr im weichen Gras.

Irgendwann vernahm Hanna ein leichtes Plätschern, das sie jedoch nicht als störend empfand. Sie hing weiterhin ihren Gedanken nach. – Bis ein kalter Wasserstrahl sie traf. Erschrocken schnappte sie nach Luft und fuhr hoch. Einem weiteren Guss konnte sie nur knapp durch einen Sprung von der Liege entkommen. Es war unverkennbar: Die ungebetene Dusche kam durch die hohe Hecke vom Nachbargrundstück. Obwohl Hanna Gewalt verabscheute, befand sie sich in der Stimmung, einen Mord zu begehen. Den Angriff mit dem Wasserwerfer würde sie diesem unverschämten Kerl heimzahlen!

Lautlos wie eine Katze schlich sie zum Ende der Hecke. Bei Maries Kräuterbeet verhielt sie und tat, als würde sie Unkraut zupfen. Wie erwartet dauerte es nur einige Augenblicke, bis Jakob auf der anderen Seite des Zaunes stehen blieb. Das Wasser hatte er abgedreht, hielt den Schlauch aber noch in der Hand.

„Hallo, Frau Flemming“, sprach Jakob seine Nachbarin an. „Schöner Tag heute.“

Bis vor wenigen Minuten war er das noch, dachte sie grimmig, zwang jedoch ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht, während sie an den Zaun trat.

„Sind Sie schon wieder fleißig bei der Gartenarbeit?“

„Einer muss sich ja darum kümmern“, erwiderte Jakob erfreut darüber, dass sie ihn nicht einfach ignorierte. „Der Boden ist völlig ausgetrocknet. Deshalb habe ich heute statt in eine Kettensäge in einen soliden Gartenschlauch investiert.“

„Ich wollte mir auch schon längst einen neuen anschaffen“, schwindelte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. „Diese modernen Aufsätze sind angeblich sehr vielseitig verwendbar.“

„Man kann die Wassergabe nach Bedarf durch einfaches Drehen regulieren. Von sanftem Sprühen bis hin zu einem gebündelten Strahl.“

„Darf ich mal sehen?“, fragte sie und streckte die Hand aus. Bereitwillig reichte Jakob ihr das Schlauchende hinüber. Hanna genügte eine kurze Begutachtung, um zu erkennen, wie der Aufsatz funktionierte. Wie unabsichtlich richtete sie die Spitze auf den Nachbarn.

„Hier muss man drehen, nicht wahr!?“, vermutete sie, wobei sie es auch schon tat.

„Vor...“ Ein kalter Wasserstrahl klatschte vor Jakobs Brust. „... sicht!“, vollendete er mit abwehrend erhobenen Händen. „So drehen Sie das Ding doch endlich ab!“

„Ich hab’s gleich ...“ Scheinbar ungeschickt hantierte sie am Ventil und hüllte den Nachbarn in einen feinen Sprühnebel. Nun wurde es Jakob zu bunt. Ungehalten griff er über den Zaun, riss Hanna den Schlauch aus der Hand und unterbrach die Wasserzufuhr. Nass und verärgert funkelte er seine Nachbarin an.

„Da haben Sie wirklich ganze Arbeit geleistet!“

„Sorry, aber ich konnte doch nicht ahnen, dass das Ding geladen ist.“

Es sollte bedauernd klingen, aber ihre Augen spielten nicht mit: In ihnen leuchtete es triumphierend auf.

„Das haben Sie absichtlich getan!“ behauptete Jakob, wobei er sie abschätzend musterte. Insgeheim gefiel sie ihm in ihrem sommerlichen Outfit. Die Shorts betonten die langen schlanken Beine, und das feuchte Top verriet, dass sie nichts darunter trug.

„Wieso sind Sie eigentlich nass?“, fragte Jakob verwundert. „Sie haben doch auf mich gezielt.“

„Meine unfreiwillige Dusche verdanke ich irgendeinem Trottel der harmlose Nachbarn durch die Hecke mit seinem Schlauch belästigt.“ Jovial nickte sie ihm zu. „Sie hatten übrigens recht: Heute ist wirklich ein schöner Tag.“

Seine Verblüffung ausnutzend, verschwand sie um die Hausecke. Durch den Eingang zum Souterrain betrat sie die Küche. Ihre Cousine war gerade mit dem Ausräumen des Geschirrspülers beschäftigt, als sie eintrat.

„Wie siehst du denn aus?“, fragte Marie erstaunt über Hannas nasses Top. „Bist du bei diesem herrlichen Sonnenschein etwa in eine Schlechtwetterfront geraten?“

Ein mehrdeutiges Lächeln huschte über Hannas Gesicht.

„Das waren eher Wasserspiele – mit unserem ach, so netten Nachbarn.“

Seufzend verdrehte Marie die Augen.

„Was war denn nun wieder los?“

„Nichts“, behauptete ihre Cousine und durchquerte barfuß die Küche. „Das machte richtig Spaß. – Mir jedenfalls.“

Unterdessen warf Jakob den Schlauch ärgerlich auf den Rasen. Über die Terrasse betrat er das Haus.

„Was ist dir denn passiert?“, sprach Jonas seinen triefenden Bruder schmunzelnd in der Diele an. „Wolltest du nicht den Garten sprengen? Mir scheint, den Umgang mit deinem neuen Wasserschlauch musst du noch ein wenig üben.“

„Ha, ha...“, grummelte Jakob und wischte sich die Tropfen aus dem Gesicht. „Wieso sind wir eigentlich ausgerechnet in hierher gezogen?“

„Das Haus hat die ideale Größe, befindet sich in guter Lage und ist finanziell erschwinglich“, zählte Jonas auf. „Sind das genug Gründe?“

„Du hättest dir die Nachbarn vorher ansehen sollen.“

„Stimmt was nicht mit ihnen? Das sind doch zwei sehr attraktive, reizvolle, zuvorkommende, hilfsbereite Ladies.“

„Das trifft nur auf Frau Mertens zu.“

„Ach, ja!? Demnach findest du ihre Cousine weder attraktiv noch reizvoll?“

„Diese Frau ist eine Mogelpackung“, erwiderte sein Bruder überzeugt. „Hinter ihrer Aufsehen erregenden Erscheinung verbirgt sich ein hinterhältiges Biest!“

„Ist daraus zu schließen, dass du deine Dusche im Freien Frau Flemming verdankst?“

„Du kombinierst heute erstaunlich schnell“, spottete Jakob. „Diese Verrückte hat mich absichtlich nass gespritzt. – Mit meinem eigenen Schlauch!“

„Wie ist ihr das denn gelungen?“, fragte Jonas amüsiert. „Wie ich dich kenne, hast du ihr vorher sogar ausführlich erklärt, wie das Teil funktioniert.“ Jakobs Gesichtsausdruck verriet seinem Bruder, dass er ins Schwarze getroffen hatte. „So dusselig kannst auch nur du sein“, lachte Jonas. „Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass Frau Flemming dich grundlos attackiert hat. Du hast sie nicht zufällig provoziert?“

„Auf welcher Seite stehst du eigentlich?“. beschwerte sich Jakob und wandte sich zur Treppe. „Um das Abendessen kannst du dich kümmern. Ich habe für heute genug!“

Wie ein begossener Pudel stapfte er die Stufen hinauf.

Kopfschüttelnd blickte Jonas seinem Bruder nach.

Bevor Hanna zum Sender fuhr, ging sie mit Geisha die Abendrunde. Wie immer lief die Hündin ein Stück vor, blieb dann aber stehen, um sich zu vergewissern, dass ihr Frauchen in Sichtweite blieb. Plötzlich schoss ein kleiner Hund um die Ecke. Temperamentvoll sprang er um Geisha herum und beschnüffelte sie ausgiebig. Natürlich erkannte Hanna in ihm sofort den Mini - Pavarotti. Demnach konnte der Nachbar nicht weit sein. Da sie auf ein erneutes Zusammentreffen keinen gesteigerten Wert legte, stieß sie einen kurzen Pfiff aus.

Nach kurzem Zögern beschloss ihr Hund, dass es ratsam sei, dieser Aufforderung zu folgen. Gehorsam trabte Geisha zu ihrer Herrin zurück. Während Hanna die Hündin anleinte, blieb auch der gefleckte Artgenosse bei ihr stehen.

„Na, du kleiner Kerl“, sprach Hanna ihn mit sanfter Stimme an und kraulte ihn zwischen den Ohren. „Bist du deinem Herrchen ausgerissen? Das war eine kluge Entscheidung.“

In diesem Moment bog auch ihr neuer Nachbar um die Ecke.

„Pavarotti!“, rief er und kam mit langen Schritten näher. „Eigentlich sollte ich mit dir schimpfen, weil du so weit vorgelaufen bist. – Andererseits verstehe ich, dass du dich zu diesen beiden reizenden Damen hingezogen fühlst.“

„Es ist nur Geisha, die diese Anziehung auf ihn ausübt“, meinte Hanna lächelnd. „Ohne sie hätte ich keine Chance, von ihm beachtet zu werden.“

„Vielleicht nicht von Pavarotti“, räumte er ein. „Mir wären Sie allerdings sofort aufgefallen, Frau Flemming.“

„Sie sind ein Schwindler, Herr Jensen“, tadelte sie ihn belustigt. „Aber ein charmanter.“

„Damit kann ich leben. Gehen wir noch ein Stück zusammen? Oder befinden Sie sich bereits auf dem Rückweg?“

„Eine halbe Stunde habe ich noch Zeit für den Abendspaziergang. – Dann muss ich zum Dienst.“

„Dürfen wir Ihnen unsere Begleitung anbieten?“

„Gern“, stimmte Hanna zu und ließ Geisha von der Leine. So-fort tollten sich die Hunde in die Richtung der Kleingärten.

„Die beiden scheinen sich gut zu verstehen“, sagte Hanna, während sie den Tieren langsam folgten. „Normalerweise schließt Geisha nicht so leicht Freundschaft mit einem Rüden.“

„Vierbeiner sind oft unkomplizierter als Menschen. Sie folgen nur ihrem Instinkt. Wir Zweibeiner dagegen neigen dazu, uns das Leben gegenseitig schwer zu machen.“

Hanna warf ihm einen kurzen, fragenden Seitenblick zu.

„Wollen Sie damit etwas Bestimmtes sagen?“

„Nun ja, Sie und mein Bruder scheinen nicht gerade große Sympathien füreinander zu empfinden“, erwiderte Jonas offen. „Was mir völlig unverständlich ist.“

„Sie kennen Ihren Bruder ein paar Tage länger als ich. Deshalb müssten Sie eigentlich wissen, dass er – um es vorsichtig auszudrücken – ein schwieriger Zeitgenosse ist.“

„Jakob ist ein ehrlicher, verlässlicher, sehr feinfühliger Mensch.“

„Feinfühlig?“, wiederholte Hanna spöttisch. „Ich fürchte, wir sprechen nicht von derselben Person.“

„Wie würden Sie einen Menschen bezeichnen, der seine Bedürfnisse fast ein Jahr lang auf ein Minimum zurückgeschraubt hat, um seinen Bruder zu entlasten? Als sei es selbstverständlich, hat Jakob mir täglich die Kinder abgenommen, damit ich mich um meine todkranke Frau kümmern konnte. Den Kleinen hat er in den Kindergarten gebracht, die anderen beiden zur Schule. Bis mittags hat Jakob selbst unterrichtet, die Kinder wieder abgeholt und sie den Rest des Tages betreut. Nebenbei hat er noch die anfallende Hausarbeit erledigt. Erst als die Jungen abends geschlafen haben, kam er dazu, seinen Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten.“

„Es ist wirklich sehr beeindruckend, was Ihr Bruder für Sie getan hat“, gab Hanna unumwunden zu. „Zweifellos kümmert er sich auch heute noch vorbildlich um seine Familie. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich ihn als einen Menschen kennengelernt habe, der sich rücksichtslos und verletzend verhält.“

„Offenbar aber nur Ihnen gegenüber“, gab Jonas zu bedenken. „Normalerweise kommt Jakob hervorragend mit seinen Mitmenschen aus. Seine Schüler lieben ihn; von den Eltern und Kollegen wird er hochgeschätzt.“

„Dann muss es wohl an mir liegen“, versetzte Hanna achselzuckend. „Wahrscheinlich sind ihm Frauen, die im Leben ihren Mann stehen müssen, suspekt.“

„Eher glaube ich, Jakob verhält sich Ihnen gegenüber so merkwürdig, weil er sich zu Ihnen hingezogen fühlt“, erwiderte Jonas vorsichtig. „Irgendetwas in ihm wehrt sich gegen Ihre Ausstrahlung.“

„Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt? Es gibt eine viel einfachere Erklärung: Mein Lebensstil passt nicht in das konservative Weltbild des Herrn Studiendirektors. Wir sind zu unterschiedlich für eine gemeinsame Wellenlänge.“

„Sagt man nicht: Gegensätze ziehen sich an?“

„Es heißt aber auch: Meiden sollen sich, die nicht zusammenpassen ...“

„Was sich neckt, das liebt sich.“

„Die Natur lässt sich nicht zwingen“, parierte Hanna. „Gleich und gleich gesellt sich gern.“

„In dieser Hinsicht hatte mein Bruder recht“, schmunzelte er. „Schlagfertig und um keine Antwort verlegen.“

„Wie ich ihn einschätze, hat er mich aber auch mit so freundlichen Worten betitelt wie: verrückt, zickig, hinterhältig...“

„Muss ich darauf antworten?“

„Nicht wirklich“, verneinte Hanna mit wissendem Lächeln. „Auf meine Menschenkenntnis kann ich mich verlassen.“

„Irgendwann werden Sie sich aneinander gewöhnt haben“, ver-mutete Jonas. „Das ist nur eine Frage der Zeit.“

„An mir soll es nicht scheitern. Als harmoniebedürftiger Mensch lege ich keinen Wert auf ständige Streitigkeiten.“ Vergnügt blinzelte sie ihm zu. „Bei Schillers Wilhelm Tell heißt es allerdings: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“

Hanna und Jonas gingen noch eine Weile mit den Hunden, ehe sie umkehrten. Vor ihrem Haus trennten sie sich.

„Ihr seid ziemlich lange draußen gewesen“, sagte Jakob, der mit einem Buch im Wohnzimmer saß, als sein Bruder eintrat.

„Musste Pavarotti wieder an jedem Baum schnüffeln?“

„Unser kleiner Casanova hat eine neue Freundin“, berichtete Jonas, sich zu ihm setzend. „Eine attraktive Hundedame mit einem ebensolchen Frauchen. Wir haben uns gut unterhalten.“

„Mir scheint, du bist genauso ein Casanova wie Pavarotti“, erwiderte Jakob mit gutmütigem Spott. „War sie wenigstens hübsch?“

„Ausgesprochen“, nickte sein Bruder. „Außerdem ist sie intelligent, humorvoll und sehr weiblich.“ Ein breites Lächeln legte sich über sein Gesicht. „Du kennst sie übrigens.“

Forschend schaute Jakob seinen Bruder an.

„Sprichst du von unserer netten Nachbarin?“

„Von wem sonst!? Hanna Flemming ist schon eine tolle Frau.“

„Hanna Flemming?“ Verständnislos schüttelte Jakob den Kopf.

„Die ist nichts für dich.“

„Warum nicht?“

„Solche Frauen bringen einen Mann um den Verstand. Wenn sie das erst geschafft haben, lassen sie ihn fallen.“

„Woher weißt du denn das, du Beziehungsprofi? Kann es sein, dass sie dich an Katja erinnert?“

„Äußerlich nicht“, überlegte Jakob. „Allerdings war sie auch so selbstbewusst, nahm sich auch immer, was sie wollte...“

„Wieso glaubst du, dass sich Frau Flemming genauso verhält? Du kennst sie doch kaum.“

„Thomas hat mir erzählt, nach welchem Schema das bei ihr abläuft: Sie macht einen Typen heiß, verbringt eine einzige Nacht mit ihm und versetzt ihm dann einen Tritt.“

Ungläubig weiteten sich Jonas’ Augen.

„Das hat Tom wirklich behauptet?“

„Nicht mit den gleichen Worten“, räumte sein Bruder ein.

„Aber das kommt aufs selbe raus. Ich kann dir nur raten: Hüte dich vor dieser Person, sonst verbrennst du dir die Finger.“

Später saß Jakob in seinem Dachstübchen nachdenklich bei einem Glas Wein. Es beunruhigte ihn, dass sich Jonas offen-sichtlich für die schöne Nachbarin interessierte. Nüchtern be- trachtet verstand Jakob seinen Bruder sogar. Diese Frau war mit vielen Vorzügen ausgestattet. Jakob kannte solche Frauen, war selbst einmal auf so ein Exemplar hereingefallen. Nur durch Zufall hatte er nach zwei Jahren herausgefunden, dass er nicht der einzige war, mit dem sie das Bett teilte. Damals hatte er gelitten wie ein Hund und sich geschworen, nie wieder eine so enge Beziehung zuzulassen. Er musste verhindern, dass es seinem Bruder ebenso erginge. Jonas brauchte eine verlässliche Frau an seiner Seite, die zudem bereit wäre, den Kindern die Mutter zu ersetzen. Eine Hanna Flemming entsprach ganz und gar nicht einem mütterlichen Typ. Sie erschien ihm zu flatterhaft, zu egozentrisch.

Unwillkürlich stiegen in Jakob schmerzliche Erinnerungen hoch. Um sie zu vertreiben, schaltete er das Radio ein. Die sanfte Stimme des Engels der Nacht würde ihn ablenken. Dem gerade geführten Gespräch entnahm er das Thema dieser Nacht: Vertrauen. Er musste mehrmals die Nummer des Senders wählen, ehe eine Verbindung zustande kam.

„Hier ist der Engel der Nacht“, sagte die Moderatorin, die durch ein Zeichen des Redakteurs wusste, um wen es sich bei diesem Anrufer handelte. „Mit wem spreche ich?“

„Mit dem Vampir deiner Träume“, antwortete Jakob mit ebenso gedämpfter Stimme, die durch das Taschentuch unidentifizierbar war. „Hast du etwa nicht darauf vertraut, dass ich mich wieder melde?“

„Kann man einem Vampir überhaupt trauen?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage. „Muss ich dir nicht mit einer Portion Misstrauen begegnen und damit rechnen, dass du es früher oder später auf mein kostbares Blut abgesehen hast?“

„Vampire beißen keine Engel. Allerdings fühlen sie sich magisch zu ihnen hingezogen.“

„Bedeutet das auch, dass du mir vertrauen würdest?“, parierte sie. „Vertraust du überhaupt jemandem? Wenn ja – wem?“

„So viele Fragen auf einmal...“ Seine Stimme klang amüsiert. „Vielleicht sollten wir zuerst erörtern, was man unter Vertrauen versteht, Angel!?“

„Okay“, stimmte der Engel der Nacht zu. „Beleuchten wir es zunächst aus dieser Perspektive. Bei deinen bisherigen Anrufen hast du uns verschiedene Begriffe sehr gut erklärt, Dracula. Wie würdest du Vertrauen definieren?“

„Für mich bedeutet es, sicher sein zu können, mich auf jemanden oder etwas voll und ganz verlassen zu können“, lautete seine Antwort. „Normalerweise entwickelt sich in einem gesunden familiären Milieu im frühkindlichen Alter das Urvertrauen gegenüber der sozialen Umwelt.“

„Und wenn das nicht geschieht?“ warf die Moderatorin ein. „Wie würde sich das wohl auswirken?“

„Ein ungünstiges soziales Milieu, wie etwa die Trennung der Eltern, ein Mangel an liebevoller und fürsorglicher Zuwendung oder Misshandlungen können das Ausbleiben des Urvertrauens zur Folge haben. Dadurch würde das Gefühls – und Gemütsleben verkümmern. Selbst im Erwachsenenalter sind diese Menschen meist unfähig, sich einer Bezugsperson emotional zuzuwenden.“

„Du bist erstaunlich gut informiert“, gestand die Moderatorin ihm zu. Da sie selbst einige Semester Psychologie studiert hatte, wusste sie, dass seine Ausführungen zutrafen. „Wieso kennst du dich damit aus, Dracula?“

„Ich bin eben ein vielseitig interessierter Vampir“, behauptete Jakob. „Wenn ich nicht schlafen kann, liege ich mit einer Taschenlampe lesend in meinem Sarg. Im Laufe der Jahrhunderte studierte ich auf diese Weise ganze Bibliotheken.“

„Tatsächlich?“ erwiderte sie mit spöttischem Unterton. „Gibt es denn auch jemanden, dem du bedingungslos vertraust?“

„Sicher“, gab er zu, ohne näher darauf einzugehen. „Ein Vertrauensverhältnis muss sich aber immer erst entwickeln. So etwas passiert nicht von heute auf morgen. Man lernt sich kennen, empfindet Sympathie füreinander und freundet sich im Laufe der Zeit an. Allmählich beginnt man, einander zu vertrauen.“

„Du hast mir aber immer noch nicht verraten, wem du vertraust, Dracula. Oder lebst du nach der Lenin-Devise: Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser?“

„Mittlerweile solltest du mich besser kennen“, tadelte er sie. „Für mich ist Vertrauen das Gefühl, einem Menschen sogar dann glauben zu können, wenn man weiß, dass man an seiner Stelle lügen würde.“

„Du erstaunst mich immer wieder“, gestand Angel. „Für so tiefgründig hätte ich dich gar nicht gehalten.“

„Vampire werden oft unterschätzt“, monierte Jakob. „Wir sind nicht nur primitive Blutsauger. Die meisten von uns sind sensible Wesen. Deshalb interessiert es mich, wem du vertraust?“ „Meiner Familie“, antwortete sie, ohne zu zögern. „Außerdem einigen engen Freunden.“

„Du hast eine Familie?“, hakte er sofort nach. „Damit hätte ich nicht gerechnet.“

„Alle Engel sind eine große Familie“, schränkte sie ihre spontane Antwort ein. „Dazu zählen die Schutzengel, die Weihnachtsengel...“

„... und die Gelben Engel“, fügte Jakob trocken hinzu. „Fürchtest du dich davor, uns zu erzählen, wem du im wirklichen Leben vertraust?“

„Mein lieber Dracula, das klingt wie Kritik aus dem Glashaus.“

„Kannst du das noch mal wiederholen?“, bat er mit Begeisterung in der Stimme. „Aber nur die ersten drei Worte.“

„Mein lieber Dracula...“, hauchte der Engel der Nacht ins Mikrofon. „Ich wünsche dir noch eine wundervolle, ereignisreiche Nacht. – Bis zum nächsten Mal...“ Mit dem Daumen nach unten gab die Moderatorin der Regie ein Zeichen, worauf der Anrufer aus – und die Musik eingeblendet wurde.

Angel - Engel der Nacht

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