Читать книгу Angel - Engel der Nacht - Eisgräfin - Claudia Rimkus - Страница 6

Kapitel 3

Оглавление

Auf dem Heimweg achtete Hanna darauf, dass ihr niemand folgte.

Sie stellte den alten Fiat an einer belebten Straße ab und ging zu Fuß zur nächsten U- Bahnstation. Nach drei Haltestellen stieg sie aus, kaufte beim Bäcker frische Brötchen und verschwand in einem Parkhaus.

In ihrem Wagen zog Hanna das Tuch vom Kopf und die Brille von der Nase. Unter ihrem farbenfrohen Outfit trug sie ein weißes T-Shirt, so dass sie nur noch in Jeans und Turnschuhe schlüpfen musste. Die Tasche mit ihrer Arbeitskleidung landete im Kofferraum.

Zwanzig Minuten später stoppte sie den Golf vor dem Grundstück. Kaum hatte sie die Haustür geöffnet, sprang Geisha freudig um sie herum. Das kluge Tier wusste genau, wann sein Frauchen nach Hause kam.

„Guten Morgen, meine Süße“, begrüßte Hanna die Hündin, stellte den Brötchenkorb ab und gab ihr die ersehnten Streicheleinheiten. „Jetzt ist es erst einmal genug“, sagte sie schließlich, legte ihr das Halsband um und öffnete die Haustür. Sofort sauste die Hündin an ihr vorbei hinaus. Hanna griff sich rasch noch die

Leine, bevor sie dem Tier folgte. Geisha saß bereits brav am Bordstein und wartete, dass ihr Frauchen das Signal zum Überqueren der Straße gab. Hanna blickte nur kurz nach rechts und links.

„Nun lauf!“

Geisha kannte die Route des täglichen Morgenspaziergangs. Immer an den gleichen Stellen blieb sie stehen, um zu schnüffeln. Erst als sie den Pfad an den Kleingärten vorbei erreichten, verschwand das Tier im Gebüsch. Als genierliche Hundedame verrichtete sie ihr Geschäft nur unter Ausschluss der Blicke der Öffentlichkeit. Mit einem Stöckchen in der Schnauze kehrte sie zu ihrem Frauchen zurück. Hanna nahm es ihr ab und warf es ein Stück voraus. Nachdem sie eine Weile gespielt hatten, schlugen sie den Rückweg ein. Beim Einbiegen in ihre Straße blieb die Hündin plötzlich stehen und ließ das Holzstück fallen. Ein kleiner Artgenosse erregte ihre Aufmerksamkeit. Er kam ihnen auf halber Strecke entgegen und zerrte ungeduldig an seiner Leine. Hanna erkannte den Zwerg-Pavarotti und sein Herrchen sofort.

„Der hat mir gerade noch gefehlt“, murmelte sie, als ihr Hund sich wieder in Bewegung setzte. „Bleib!“, sagte Hanna scharf, worauf Geisha abrupt stehenblieb und sie fragend anschaute.

Ihr Blick wechselte aber sofort wieder zu dem näherkommenden Hund. „Wag es nicht!“ warnte Hanna und trat an den Straßenrand. Widerstrebend setzte sich die Hündin auf den Bordstein. „Komm!“ Mit einem Blick zurück auf den Artgenossen überquerte Geisha mit Hanna die Straße. „Jetzt brav bei Fuß.“

Jakob schüttelte verwundert den Kopf. Offensichtlich wollte seine Nachbarin ihm aus dem Weg gehen. Aber weshalb? Sie hatten bislang kein Wort miteinander gewechselt. Hätte er einen so großen Hund – und sie den kleinen, wäre ihr Verhalten verständlich gewesen. Da er zudem beobachtet hatte, dass der Boxer aufs Wort gehorchte, gab es keinen ersichtlichen Grund für ihr Ausweichmanöver.

„Oder wirken wir beide so gefährlich?“, wandte er sich an seinen Hund. „Was meinst du, Pavarotti?“

Der Vierbeiner zog nur weiterhin sehnsüchtig an der Leine, da er schon vor Tagen gewittert hatte, dass im Nachbarhaus eine Hündin wohnte. Zu gern hätte er sich ihr vorgestellt und sie ausgiebig beschnüffelt.

Wieder zu Hause weckte Hanna die Kinder, ehe sie den Frühstückstisch deckte.

„Hat Mamarie verpennt?“, fragte Sara, als die Mädchen hereinkamen. „Sie war doch gestern Abend zu Hause.“

„Lasst Marie noch ein wenig schlafen“, bat Hanna und schenkte den Kakao ein. „Heute ist Freitag. Gewiss hat sie viele Aufträge für das Wochenende. Dann ist sie wieder rund um die Uhr im Einsatz.“

„Warum macht ihr den Partyservice eigentlich nicht zusammen?“, wollte die kleine Lisa wissen. „Das wäre doch viel besser.“

„Euch ist doch bekannt, dass meine Fähigkeiten in der Küche eher begrenzt sind“, antwortete Hanna. „Außerdem habe ich bereits einen anderen Job.“

„Aber warum musst du denn jetzt immer nachts arbeiten?“ fragte Lisa weiter. „Früher hast du das auch nicht gemacht.“

„Viele Leute, die nachts arbeiten, möchten dabei auch Radio hören“, erklärte Hanna geduldig. „Musik, Nachrichten, Verkehrsmeldungen, den Wetterbericht...“

„Hanna hat beim Sender einen wichtigen Job“, fügte die älteste der drei Schwestern hinzu. „Sie muss aufpassen, dass nichts schiefgeht. – Stimmt’s, Hanna?“

„So ähnlich“, bestätigte sie. „Nun beeilt euch mit dem Frühstück. Ihr müsst bald los.“

Nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten, räumte Hanna die Gedecke der Mädchen in den Geschirrspüler. Alles andere ließ sie für ihre Cousine stehen. Statt des Kakaos setzte sie die Kaffeemaschine in Betrieb. Hanna wusste nur zu gut, dass Marie ohne eine Ladung lebenswichtiges Koffein morgens nicht in die Gänge kam.

Leise vor sich hin summend stieg die müde Frau die Treppe hinauf.

Behutsam öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Cousine.

„Marie!?“

„Mmm...“ Seufzend schlug sie die Augen auf. „Wie spät ist es?“

„Gleich neun.“

Erschrocken fuhr Marie hoch.

„Was?“

„Kein Grund zur Panik“, beschwichtigte Hanna ihre Cousine und setzte sich auf die Bettkante. „Die Mädchen haben gefrühstückt und sind in der Schule.“

Erleichtert sank Marie zurück.

„Du bist einmalig“

„Das sagt Uli auch ständig“, winkte ihre Cousine ab. „Bist du gestern so spät ins Bett? Oder weshalb findest du heute nicht aus den Federn?“

„Deinetwegen“, erwiderte Marie lächelnd. „Ich musste deiner Sendung lauschen, weil ich wissen wollte, ob sich Dracula noch mal meldet.“ Schelmisch blinzelte sie Hanna zu. „Und er wird immer wieder anrufen – weil er einen Narren an dir gefressen hat.“

„Seine Beiträge kommen offenbar tatsächlich gut an“, schloss Hanna aus ihren Worten, bevor sie Marie von ihrem Gespräch mit Ulrich berichtete. „Mir macht das Katz und Mausspiel auch Spaß. Mal sehen, was daraus wird.“

„Eindeutig ein Schlafdefizit für mich“, meinte Marie trocken. „Wenn ich nun nächtelang vor dem Radio sitzen muss, schaffe ich meine Aufträge nicht mehr.“

„Apropos: Wie liefen deine Verhandlungen mit dem neuen Kunden? Konntest du ihn überzeugen?“

„Hundertprozentig!“, strahlte Marie. „Er will regelmäßig auf mich zurückgreifen.“

„Gratuliere“, freute sich Hanna mit ihr. „Gibt es noch mehr positive Nachrichten?“

„Gestern habe ich unseren neuen Nachbarn kennengelernt“, erzählte Marie. „Ein interessanter Mann. So eine Mischung aus Richard Gere und Rock Hudson.“

„Du meinst, er ist schwul?“

„Ich meine, er ist sehr attraktiv, witzig und gebildet.“

„Dann ist seine Frau wohl eine Mischung aus Julia Roberts und Liz Taylor.“

„Der hat keine Frau. Da drüben wohnen nur fünf männliche Wesen unter einem Dach.“

„Also doch schwul.“

Amüsiert schüttelte Marie den Kopf.

„Herr Jensen wohnt mit seinem verwitweten Bruder und dessen drei Kindern zusammen. – Übrigens hat er die Joggerin, die Frau von der Dachterrasse und die resolute Türkin für meine Mitbewohnerinnen gehalten. Ich musste ihn darüber aufklären, dass die alle mit dir identisch sind.“

„Bist du verrückt?“ Vorwurfsvoll blickte Hanna sie an. „Es darf doch niemand wissen...“

„Weiß er auch nicht“, beruhigte Marie ihre Cousine. „Die Türkin habe ich ihm als Haushaltshilfe verkauft, die mir manchmal zur Hand geht.“

„Gott sei Dank“, sagte Hanna erleichtert. „Nur weil ich an diesem Abend spät dran war, habe ich mich ausnahmsweise schon in der Garage umgezogen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass der Minihund des Nachbarn seinen Haufen ausgerechnet davor setzen würde.“ Leise lachte sie auf. „Du hättest das Gesicht von Herrn Jensen sehen sollen, Marie, als ich ihn in gebrochenem Deutsch aufgefordert habe, die stinkende Hinterlassenschaft zu beseitigen. Vermutlich hat er mich für eine wild gewordene anatolische Furie gehalten.“

„Du kannst ihn ja gelegentlich davon überzeugen, dass die sexiest voice in town auch noch andere bemerkenswerte Vorzüge hat.“

„Klingt meine Stimme für den Hörer wirklich so... sexy?“

„Zeichne eine deiner Sendungen auf und urteile selbst über die geballte Erotik.“

„Lieber nicht“, winkte Hanna ab. „Wahrscheinlich würde ich dann sofort kündigen.“ Mit einem leichten Kopfschütteln erhob sie sich. „Wenn man bedenkt, dass ich bei der ersten Mikrofonprobe nur leiser gesprochen habe, weil ich mich furcht-bar unsicher fühlte...“

„Sei doch froh, dass Uli darauf bestanden hat, dass du vor dem Mikro immer so gedämpft sprichst. Dadurch bist du für deine Hörer unverwechselbar geworden.“

„Froh bin ich darüber, dass meine Stimme in Zimmerlautstärke ganz normal klingt“, entgegnete Hanna, während sie die Vorhänge aufzog. „Sonst wäre die Identität des Engels der Nacht kaum geheimzuhalten gewesen. Inzwischen sorgt ohnehin die Technik dafür, dass man meine Stimme nicht erkennt.“

Durch das ins Zimmer fließende helle Sonnenlicht sah Hanna die Vase mit der Baccararose auf dem Nachttisch. „Hast du einen neuen Verehrer?“

„Nö...“

„Einen alten?“

„Auch nicht“, verneinte Marie und schwang die Beine aus dem Bett. „Sonst noch Fragen?“

Mit vielsagendem Lächeln schüttelte ihre Cousine den Kopf.

„Gute Nacht, Marie.“

Jakob Jensen zog es auch an diesem Morgen in den Garten. Die Kinder waren in der Schule und sein Bruder längst aus dem Haus. Nur Pavarotti begleitete seinen Herrn bei einem Rundgang über das Grundstück.

Hin und wieder warf Jakob einen Blick hinauf zur Dachterrasse des Nebenhauses, aber die schöne Nachbarin zeigte sich nicht. Obwohl er sie wiedersehen wollte, konnte er schlecht in seinem Vorgarten stehen und nach oben starren, bis sie erschien. Er musste sich eine Beschäftigung suchen, um nicht den Anschein zu erwecken, auf das engelsgleiche Geschöpf zu warten.

Ein lautes Geknatter riss Hanna unsanft aus dem Schlaf. Verärgert sprang sie aus dem Bett.

„Ich bringe ihn um!“, stieß sie hervor und lief energischen Schrittes auf die Dachterrasse. Ein Blick hinüber genügte, um zu sehen, dass ihr Nachbar die Buchsbaumhecke mit einer elektrischen Heckenschere bearbeitete. Das Ding verbreitete einen Höllenlärm, so dass Hanna sich unwillkürlich fragte, ob der Kerl das absichtlich tat: Seit seinem Einzug störte er ihren Schlaf mit unerträglicher Regelmäßigkeit. Sollte das so weitergehen, würde der Engel der Nacht nur noch übermüdet und flügellahm vor dem Mikrofon sitzen. Sie musste sich diesen Radaubruder so bald wie möglich vorknöpfen.

Diese Gelegenheit ergab sich bereits wenige Stunden später. Wie gewöhnlich verließ Hanna das Haus am frühen Nachmittag mit ihrem Hund. Bei den Mülltonnen sah sie den Mann von nebenan.

„Guten Tag“, sprach Jakob sie an, als sie nicht wie sonst zügig vorbeilief, sondern langsam näher kam. „Schön, dass auch wir uns endlich kennenlernen. Ich habe Sie schon ein paar Mal hier vorbeijoggen sehen, aber Sie waren immer so schnell, dass ich gar nicht dazu gekommen bin, mich vorzustellen. Ich bin...“

„Ich weiß, wer Sie sind“. fiel Hanna ihm ins Wort. Allein sein Anblick genügte, ihren Ärger auf ihn wieder zu entfachen. „Ihretwegen finde ich kaum noch Schlaf.“

Geschmeichelt lächelte Jakob. Es gelang ihm jedoch nicht, die dunklen Gläser ihrer Sonnenbrille zu durchdringen.

„Dann bin ich Ihnen auch schon aufgefallen?“

„Eingebildet sind Sie wohl gar nicht“, spottete Hanna. „Übersehen könnte man Sie leicht – aber nicht überhören. Seit Ihrem Einzug veranstalten Sie hier draußen jeden Morgen einen höllischen Krach, dass ich nicht schlafen kann.“

„Vielleicht sollten Sie es mal mit früher aufstehen versuchen“, konterte Jakob. „Kein normaler Mensch schläft bis in den Vormittag.“

„Wahrscheinlich bin ich was Besonderes“, gab sie schlagfertig zurück. „Außerdem schlafe ich nicht bis mittags, weil ich zu den Faulenzern zähle, sondern weil ich nachts arbeite. Vielleicht liegt es im Bereich Ihrer Möglichkeiten, künftig ein wenig Rücksicht zu nehmen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, folgte Hanna ihrem an der Straßenecke wartenden Hund.

Bei ihrer Rückkehr saß der Rest der Familie am Kaffeetisch. Marie hatte einen mit Vanillecreme gefüllten Bienenstich gebacken, den die Kinder bereits zur Hälfte vernichtet hatten.

„Bekomme ich auch ein Stück?“ fragte Hanna, und setze sich. „Etwas Süßes täte mir jetzt gut.“

„Hattest du Stress?“ Marie legte ihrer Cousine zuerst ein Stück Gebäck auf den Teller, ehe sie den Kaffee einschenkte. „Oder hat dich jemand geärgert?“

„Der Typ von nebenan geht mir auf die Nerven. Als ich ihm vorhin sagte, dass mich seine morgendlichen Aktivitäten im Garten um den Schlaf bringen, meinte dieser unverschämte Kerl, ich solle es mit früher aufstehen versuchen. Normale Menschen lägen nicht bis mittags im Bett.“

„Wie ich dich kenne, hast du ihm ordentlich Kontra gegeben“, vermutete Marie amüsiert. „Der arme Mann ist zu bedauern.“

„Der arme Mann? Das ist ein eingebildeter Fatzke, der sich für unwiderstehlich hält. Sollte der Rest der Familie Jensen genauso arrogant sein – na dann: gute Nacht, Marie.“

„Einen von denen kenne ich“, sagte Maries älteste Tochter. „Max Jensen ist sein zwei Tagen in meiner Klasse.“

„Und?“, fragte Hanna gespannt. „Ist der auch so ein Ekel wie sein Onkel?“

„Ich glaube, der ist okay. Außerdem ist er total gut in Mathe.“

„Wie sein Bruder“, wusste Sara. „Leon ist in meiner Parallelklasse. Wir sind zusammen in der Mathe - AG.“

„Da muss irgendwo ein Nest sein“, bemerkte Hanna trocken. „Hast du zufällig auch einen neuen Mitschüler, Lisa?“

„Mm“, nickte die Kleine mit vollem Mund. „Timo. – Aber der ist schon in der zweiten Klasse bei Frau Zander.“ Mit der Kuchengabel zeigte sie zum Fenster. „Der wohnt da drüben.“

„Anscheinend sind die plötzlich überall“, stöhnte Hanna, wobei sie die Augen verdrehte. „Womöglich hat sich einer von denen auch schon bei uns im Sender eingeschlichen.“

„Unser sympathischer Nachbar wäre sicher ein brauchbarer Kollege für dich“, neckte Marie ihre Cousine. „Ein bisschen Abwechslung zu deinem hartnäckigen Programmdirektor bekäme dir bestimmt nicht schlecht.“

„Eher würde ich zehn von Ulis Sorte in Kauf nehmen.“

„Hast du deshalb morgen ein Date mit ihm?“

„Ich begleite Uli lediglich zur Geburtstagsparty seines Bruders. Thomas feiert seinen fünfzigsten ganz groß im Hotel am Stadtpark mit ungefähr 80 Gästen. Wie ich gehört habe, sind viele Wegbegleiter geladen. Ich beispielsweise zähle zum Lebensabschnitt: Sandkasten.“

Aus großen Augen schaute Lisa sie an.

„Hast du mit dem früher echt in der Sandkiste gespielt?“

„Wir waren anno irgendwann Nachbarskinder“, bestätigte Hanna. „Thomas ist drei Jahre älter als ich. Es hat ihm einen Heidenspaß bereitet, meine Backförmchen zu vergraben.“

„Hast du dir das gefallen lassen?“

„Was sollte ich tun? Er war größer und stärker als ich.“ Verschwörerisch zwinkerte sie dem Kind zu. „Jungs sollten sich aber nie zu überlegen fühlen. Eines Tages hat Thomas es zu weit getrieben. Als er meinen neuen Ball in einen Baum geschossen hat, habe ich ihm eins mit meiner Schaufel übergezogen. Die Narbe sieht man heute noch.“

„Bislang dachte ich, du könntest keiner Fliege etwas zuleide tun“, sagte Marie scheinbar verwundert. „Ich wusste gar nicht, dass du so gefährlich bist, Hanna.“

„Das bin ich nur, wenn man mich ständig reizt“, erwiderte ihre Cousine mit Unschuldsblick. „Deshalb solltet ihr vorsichtshalber immer besonders lieb zu mir sein.“

Für den letzten Abend seiner Arbeitswoche wählte der Engel der Nacht das Gesprächsthema Hoffnung aus.

Die ersten Anrufer erzählten, was sie sich vom Leben erhofften oder welche ihrer Hoffnungen sich bereits erfüllten. Andere sprachen von ihrer Hoffnung, einen Weg aus der Arbeitslosigkeit zu finden oder eine Krankheit zu besiegen.

In der zweiten Stunde ihrer Sendezeit erreichte Hanna ein Hörer, mit dem sie auch in dieser Nacht gerechnet hatte.

„Nun erfüllt sich auch meine Hoffnung“, sagte sie ins Mikrofon. „Ich habe schon auf deinen Anruf gewartet, Dracula.“

„Welche Ehre.“ Der leise Spott in Jakobs Stimme überdeckte die Freude über ihre Worte. „Hast du mich so sehr vermisst?“

„Wir wollen es doch nicht übertreiben“, versetzte sie ihm einen Dämpfer. „Mich interessiert einfach nur, was sich ein blutsaugender Vampir erhofft. – Schmackhafte Beute auf seiner nächtlichen Nahrungssuche? Ein bequemes Schlafplätzchen in einer Gruft? Oder vielleicht eine attraktive, gut gebaute Vampirette?“

„Du hast eben nur meine Bedürfnisse aufgezählt, Angel. Etwas, das ein Vampir zum Existieren braucht. Viel interessanter als meine Lebensumstände erscheint mir aber die Frage, was Hoffnung überhaupt ist.“

„Von dieser Seite haben wir unser Thema heute noch nicht betrachtet“, gab sie ihm Recht. „Wie definierst du Hoffnung?“

„Sie ist mit einem Wunsch vergleichbar“, lautete seine Antwort. „Hoffnung ist die Erwartung, dass etwas Gewünschtes geschieht, dass etwas in Erfüllung geht. Ein Mensch, der hofft, ist zuversichtlich, dass das Erhoffte eintrifft.“

„Gut erklärt“, lobte der Engel der Nacht. „Kannst du auch das Gegenteil umschreiben? Wenn jemand ohne Hoffnung ist?“

„Dann glaubt er, dass sich seine Wünsche niemals erfüllen, dass es aussichtslos ist, auf etwas zu warten, das doch nicht eintrifft.“

„Ist es deiner Ansicht nach überhaupt sinnvoll, zu hoffen?“

„In schlechten Zeiten erhält einen die Hoffnung, dass es irgendwann wieder bergauf geht, am Leben. Die Hoffnung tröstet und hilft auszuharren.“

„Und auszuhalten“, fügte sie hinzu. „Schmerz auszuhalten.“

„Wie meinst du das?“

„Wenn sich beispielsweise ein Mensch, den du liebst, plötzlich einem anderen Partner zuwendet, tut das höllisch weh. Du erträgst den Schmerz nur, weil in dir die Hoffnung keimt, eines Tages jemandem zu begegnen, dem du vertrauen kannst.“

„Zuviel Hoffnung kann aber auch den Blick trüben“, wandte Jakob ein. „Wer mit seinen Hoffnungen nur in der Zukunft lebt und ungeduldig zu Dingen strebt, die das wahre Glück bringen sollen, lässt die Gegenwart unbeachtet und ungenossen vorüberziehen. Dadurch verpasst man das Leben.“

„Sprichst du aus Erfahrung?“, hakte der Engel der Nacht nach. „Hast du in deinem Leben Chancen verpasst, weil du die Hoffnung hattest, es käme noch was Besseres?“

„Vampire ergreifen jede Gelegenheit beim Schopf“, wich er aus. „Wir haben immer nur die wenigen Stunden zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang. Die nutzen wir so intensiv wie möglich.“

„Ach, tatsächlich?“ Der Spott in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Trotzdem findest du noch Zeit, mit mir zu plaudern?“

„Ich tue nur, was mir wichtig ist“, betonte er. „Wir beide – du und ich – wir ähneln einander.“

„Ich fürchte, du hast eine völlig falsche Vorstellung von mir“, erwiderte sie amüsiert. „Schwarz gekleidet durch die Nacht husche ich jedenfalls nicht. Ebenso wenig bevorzuge ich dickflüssige rote Kost. Und mein Gebiss ist für einen Vampir geradezu von einer erschreckenden Ebenmäßigkeit.“

„Musst du mich wieder absichtlich missverstehen, Angel?“, tadelte Jakob sie milde. „Wir beide existieren nur in den Nachtstunden. Außerdem sind wir beide intelligent und aufgeschlossen. Beide besitzen wir eine gesunde Neugier und eine Vorliebe für gute Gespräche.“

„Das trifft auch auf Millionen andere Menschen zu.“

„Wir sind aber keine Menschen“, erinnerte er sie. „Ein Engel und ein Vampir. – Wir sind außergewöhnlich, meine Liebe.“ Diesmal beendete er das Gespräch. „Bis bald, Angel.“

Angel - Engel der Nacht

Подняться наверх