Читать книгу Angel - Engel der Nacht - Eisgräfin - Claudia Rimkus - Страница 7
Kapitel 4
ОглавлениеAm kommenden Morgen war kein Unterricht. Deshalb schliefen die Mädchen länger. Nur Marie hantierte schon in der Küche, als Hanna nach Hause kam.
„Da du bereits auf bist, hast du heute wahrscheinlich ein volles Programm“, vermutete Hanna, nachdem sie den Hund ausgiebig begrüßt hatte. „Brauchst du Hilfe, Marie?“
„Du verschwindest jetzt in dein Bett“, erwiderte ihre Cousine resolut. „Immerhin bist du schon lange genug auf den Beinen.“
„Vielleicht sollte ich mich erst hinlegen, wenn sich unser Nachbar drüben ausgetobt hat. Wie ich ihn einschätze, findet er auch heute Morgen eine unüberhörbare Beschäftigung.“
„Nachdem du ihn gestern mit deinen Schlafgewohnheiten vertraut gemacht hast, verhält er sich bestimmt ruhig.“
„Daran glaube ich erst, wenn ich mindestens sechs Stunden am Stück durchschlafen konnte.“
Es wurden genau zwei Stunden und dreiundfünfzig Minuten, bis Hanna von ihrem Lager hochschreckte. Laute Stimmen und Hundegebell hatten sie aus dem Schlaf gerissen. Vom Dachgarten aus sah sie, dass der Nachbar mit drei Jungen ausgelassen Basketball spielte. Der Korb war an der Garagenwand befestigt und wurde von Anfeuerungsrufen begleitet von den Spielern attackiert. Mittendrin versuchte der Zwerghund laut kläffend den Ball zu erwischen.
Hanna war drauf und dran, einen der vor ihr stehenden Blumentöpfe nach den rücksichtslosen Nachbarn zu werfen. Als Pflanzenliebhaberin fiel ihr jedoch ein geeigneteres Geschoss ein. Sie lief in ihr Schlafzimmer und kramte in verschiedenen Schubladen, bis sie die kleine Pistole fand. Ein Päckchen Munition lag auch dabei. An Ort und Stelle lud Hanna die Spielzeugwaffe mit einer der bunten Papierkugeln. Damit kehrte sie auf die Dachterrasse zurück. Zwischen den Blumenkästen bezog sie Stellung und spähte zwischen den Pflanzen nach unten.
Die Basketballspieler trugen allesamt Shirts und kurze Hosen, so dass Hanna die bloßen Beine des Nachbarn anvisierte. Als er stehenblieb, um den Wurf seines größten Neffen zu beobachten, drückte die Schützin ab. Mit einem leisen Plopp wurde die Kugel aus der Waffe katapultiert. Sekunden später vollführte der Nachbar einen wenig eleganten Sprung. Seine Hand fuhr zum linken Oberschenkel, konnte das vermeintliche Insekt aber nicht finden. Suchend schaute sich der Spieler um, entdeckte die rosa Papierkugel im Gras. Er bückte sich danach und hob sie auf. Noch einmal blickte er nach allen Seiten, aber nicht nach oben. Hanna hatte sich ohnehin vorsichtshalber unsichtbar gemacht. Deshalb sah sie nicht, dass Jakob geradewegs auf ihr Grundstück marschierte. Durch den offen stehenden Nebeneingang betrat er das Haus.
„Frau Mertens!?“, rief er im Souterrain. Da er keine Antwort erhielt, folgte er der leisen Musik, die aus der Küche zu hören war. Man konnte weder die köstlichen Düfte ignorieren noch übersehen, dass hier kulinarische Leckerbissen zubereitet wurden. Auf dem Tisch befanden sich verschiedene knackfrische Gemüsesorten; den Töpfen auf dem Herd entwich ein verlockendes Aroma.
„Guten Morgen, Frau Mertens.“
Mit dem Kochlöffel in der Hand wandte sich Marie zu ihm um.
„Hallo, Herr Nachbar“, sagte sie freundlich, wobei sie ihn lächelnd musterte. „So sportlich heute?“
„Meine Neffen haben mich zum Basketballspielen überredet“, erklärte er sein Outfit. „Ist es möglich, dass Ihre Mädchen uns ein bisschen ärgern wollen?“
Verwundert hob Marie die Brauen.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Mich hat eben dieses Geschoss getroffen“, erwiderte er und legte das corpus delicti auf den Küchentisch. „Nach meiner Berechnung kann es nur von hier aus abgefeuert worden sein.“
„So?“ Empört stützte Marie die Hände in die Hüften. „Deshalb verdächtigen Sie meine Töchter? Ich kann Ihnen versichern, dass Nachbarn nicht auf ihrer Abschussliste stehen.“
„Wahrscheinlich wollten sie uns nur einen Streich spielen“, lenkte Jakob ein. „Vielleicht aus Langeweile...“
„Ausgeschlossen“, war Marie überzeugt. „Kommen Sie, Herr Jensen, fragen wir die Mädchen.“
Auf der anderen Seite der Küche führte eine Tür in den Garten hinter dem Haus. Rasch nahm Jakob das Beweisstück, bevor er Marie hinaus folgte.
Anna hatte es sich mit ihrem mp3-Player und einem Buch in der Hollywoodschaukel bequem gemacht. Ihre Schwester Sara saß am Tisch und blätterte in der neuesten Ausgabe einer Jugendzeitschrift, während die kleine Lisa neben ein Spiel auf dem Tablet spielte. Zu ihren Füßen lag Geisha im Schatten des Sonnenschirms und schlief.
„Das ist unser Nachbar Herr Jensen“, sagte Marie zu ihren Töchtern. „Ihn interessiert, wie lange ihr schon hier sitzt.“
„Du hast nach dem Frühstück gesagt, wir sollen uns leise beschäftigen, weil Hanna ihren Schlaf braucht“, erinnerte Anna ihre Mutter. „Deshalb haben wir uns in den Garten verzogen.“
„Ward ihr die ganze Zeit hier?“
„Soll das ein Verhör werden?“ antwortete Sara mit einer Gegenfrage, wobei sie den Nachbarn misstrauisch taxierte. „Egal, wofür ihr einen Sündenbock sucht, wir waren es nicht. Fragt doch mal nebenan. Da sind drei Jungens eingezogen. Wahrscheinlich haben die verbockt, was ihr uns anhängen wollt.“
„Niemand will euch was anhängen“, schaltete sich nun Jakob ein. Die Mädchen schienen tatsächlich nichts mit dem Schuss zu tun zu haben. Er hätte sie nicht vorschnell verdächtigen dürfen. „Die Jungen von nebenan sind meine Neffen. Habt ihr Lust mit uns Basketball zu spielen? Oder traut ihr euch nicht?“
„Sie halten uns wohl für feige?“, fragte Sara herausfordernd. Nacheinander blickte sie ihre Schwestern an. „Lassen wir das auf uns sitzen? Kommt, denen zeigen wir es!“
Hanna war gerade wieder eingeschlafen, als das Lärmen abermals einsetzte. Diesmal jedoch trotz geschlossenem Fenster unüberhörbar lauter. Mit einem Seufzer schlug sie die Decke zurück und schaute aus dem Seitenfenster. Was sie sah, entlockte ihr einen weiteren Seufzer: Die Mädchen waren zum Feind übergelaufen! Fröhlich spielten sie mit den Nachbarn Basketball...
Gegen Mittag betrat Jakob noch einmal das Souterrain des Nebenhauses. In der Küche waren die Vorbereitungen mittlerweile fortgeschritten. Auf dem Tisch standen nun verschiedene garnierte Platten und Salatschüsseln. Marie war gerade dabei, die Speisen mit Folie abzudecken und bis zur Auslieferung ins Kühlhaus zu stellen.
„Ich habe Ihre Töchter unversehrt zurückgebracht“, teilte Jakob ihr mit. „Wir hatten viel Spaß zusammen.“
„Wer hat gewonnen?“
„Die Mädchen. Sie mussten meinen Neffen versprechen, demnächst auf eine Revanche herüberzukommen.“
„Das tun sie sicher gern“, vermutete Marie. „Sorry“, bat sie, da plötzlich die Melodie ihres Handys erklang, und nahm das kleine Gerät von der Fensterbank. „Hallo!?“
„Hallo, mein Schatz“, vernahm sie die Stimme ihrer heimlichen Liebe. „Was treibst du denn gerade?“
„Ich bin mit einem Buffet für vierzig Personen beschäftigt.“
„Denkst du dabei an mich?“
„Ununterbrochen“, neckte sie ihn. „Beim Fleisch klopfen, beim Zwiebeln hacken, beim Sahne schlagen...“
„Habe ich mir mit dir etwa eine kleine Sadistin eingehandelt?“
„Das musst du schon selbst herausfinden.“
„Das täte ich am liebsten gleich heute Abend“, bekannte er. „Leider wird daraus nichts. Obwohl ich mich nach dir sehne, muss ich mich um meine Familie kümmern.“
„Mir ergeht es genauso. Da Hanna zu einer Party eingeladen ist, kann ich auch später nicht mehr weg.“
„Dann bleibt uns wieder einmal nur das Telefon. Ich rufe dich wieder an, wenn alle schlafen.“
„Okay“, stimmte Marie zu. „Nun muss ich Schluss machen. Mein Nachbar ist gerade da.“
„Dein Nachbar?“, wiederholte er verwundert. „Was will er denn? Ist er am Ende sogar nett?“
„Das erzähle ich dir vielleicht in einer schwachen Stunde.“
„Hexe!“, lachte er. „Bis später. – Und fang nichts mit dem Nachbarn an.“
„Wo werd ich denn?“ Lächelnd unterbrach Marie die Verbindung und legte das kleine Telefon in die Fensterbank zurück.
„Kann ich noch was für Sie tun, Herr Jensen?“
„Eine kleine Bitte hätte ich“, gestand er. „Ihre Jüngste hat vorhin gesagt, heute Mittag gäbe es ihr Lieblingsessen: Pfannkuchen. Daraufhin haben mich meine Neffen gebeten, das gleiche auf den Tisch zu bringen.“ Verlegen zuckte er die Schultern. „Damit bin ich offen gestanden etwas überfordert. Mein Teig wird stets entweder zu flüssig oder zu fest, so dass beim Backen immer ziemlich merkwürdige Gebilde entstehen. Vom Geschmack ganz zu schweigen. Irgendwas mache ich wohl falsch. Verraten Sie mir die richtige Mischung?“
„Wie viele Personen sind Sie?“
„Fünf.“
„Fünf Männer mit wahrscheinlich gutem Appetit.“ Sie nahm ein Paket Mehl aus dem Vorratsschrank. Aus dem Kühlhaus holte sie Eier und Milch. Dazu legte sie noch zwei Päckchen Vanillezucker und gab die Zutaten in die große Küchenmaschine. Innerhalb weniger Minuten war der geschmeidige Teig fertig. Marie ließ ihn in eine große Tupperschale fließen, drückte erst den Deckel darauf und dann die Schüssel dem Nachbarn in die Hände.
„Guten Appetit.“
„Danke, Frau Mertens. Sie sind ein Engel.“
„Davon bin ich weit entfernt“, winkte sie ab und begleitete ihn hinaus.
Am späten Nachmittag wollte Jakob der sympathischen Nachbarin die Schüssel zurückbringen. Der Eingang zum Souterrain war jedoch verschlossen. Deshalb ging Jakob um das Haus herum und läutete an der Vordertür.
Da die Kinder mit dem Hund draußen waren, lief Hanna mit wehendem Morgenmantel die Treppe hinunter, um zu öffnen.
„Sie schon wieder?“, entschlüpfte es ihr beim Anblick des Nachbarn. „Was gibt es?“
„Eigentlich wollte ich zu Ihrer Cousine“, erwiderte Jakob, wobei er sie interessiert musterte. Ihr langes Haar war feucht; die rechte Schulter schaute unter einem locker geschlossenen Morgenmantel hervor, der auch die gebräunten Beine nur mangelhaft bedeckte. Jakobs Augen blieben an den bloßen Füßen haften. Zwischen den zierlichen Zehen steckten kleine Schaumstoffröllchen. Amüsiert deutete er darauf.
„Was soll denn das werden?“
„Offenbar war ich gerade dabei, meine Nägel zu lackieren“, entgegnete sie kühl. „Sonst noch Fragen?“
„Haben Sie das nötig?“
„Das dürfte Sie kaum etwas angehen.“
„Natürlich nicht“, gab er ihr widerstrebend recht. „Meinetwegen können Sie sich von oben bis unten anmalen.“
„Sehr großzügig“, spottete Hanna. „Meine Cousine ist nicht zu Hause. Sie liefert das bestellte Essen aus.“
„Ich wollte auch nur die Schüssel zurückbringen. Richten Sie Ihrer Cousine bitte aus, dass meine Familie begeistert war.“
„Wie schön für Sie.“ Noch immer machte er keine Anstalten, zu gehen. „Wollen Sie die Schale nun hier lassen – oder nicht? Ich habe heute noch mehr zu tun.“
„Richtig, Sie müssen ja noch Ihre Nägel lackieren“, spottete nun er, übergab ihr aber die Schüssel. „Überanstrengen Sie sich nur nicht dabei.“
Verärgert über seinen Ton, warf Hanna ihm die Tür vor der Nase zu.
„Ungehobelter Klotz!“, brummte sie und brachte die Schale in die Küche.
Unterdessen kehrte Jakob nach Hause zurück. Im Wohnzimmer traf er auf seinen Bruder, der über der Tageszeitung saß.
„Diese Frau ist wie eine Königskobra“, sagte Jakob mehr zu sich selbst. „Gefährlich und giftig.“
„Ich denke, du magst sie“, erwiderte Jonas verwundert. „Vorhin hast du noch in den höchsten Tönen von ihr gesprochen.“
„Von Frau Mertens. Eben war aber nur ihre Cousine zu Hause. Die beiden sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht.“
„Nachdem du Frau Mertens als sehr hübsch, attraktiv und sympathisch beschrieben hast, ist ihre Cousine offenbar genau das Gegenteil: hässlich, abstoßend und unausstehlich.“
„Ganz so schlimm ist sie nun auch wieder nicht“, räumte Jakob ein. „Im Grunde ist sie sogar sehr attraktiv.“
„...aber?“
„Anscheinend kann sie mich nicht leiden.“
„Daher weht der Wind“, lachte Jonas. „Nur weil die Dame sich von deinem Charme wenig beeindruckt zeigt, bist du nicht gut auf sie zu sprechen. Womöglich lässt deine Wirkung auf das weibliche Geschlecht einfach nur nach!? Immerhin bist du auch nicht mehr der Jüngste.“
„Sehr witzig“, brummte Jakob und ließ sich in einen Sessel fallen. „Noch bin ich nicht fünfzig.“
„Dann hast du ja noch ein paar Monate, bis alles vorbei ist. Aus der Übung bist du jedenfalls schon länger.“
„Wie darf ich denn das verstehen?“
„Wann warst du das letzte Mal mit einer Frau zusammen?“
„Am Donnerstag...“
„Vorgestern?“, folgerte Jonas völlig verblüfft, worauf Jakob geheimnisvoll lächelte.
„Am Donnerstag vor zwei...“
„... Jahren?“
„... Monaten“, korrigierte Jakob seinen Bruder vergnügt. „Total tote Hose herrscht bei mir noch lange nicht.“
Als Marie nach Hause kam, schenkte sich Hanna in der Küche gerade ein Glas Milch ein. Sie war immer noch im Morgenmantel, was ihre Cousine verwundert registrierte.
„Du bist noch nicht umgezogen? Wann holt Uli dich denn ab?“
„Erst in einer Stunde“, antwortete Hanna. „Vermutlich wird es nachher spät. Gehst du bitte die Abendrunde mit Geisha?“
„Mach ich. Von mir aus kannst du dich die ganze Nacht amüsieren.“ Verschwörerisch zwinkerte sie ihrer Cousine zu. „Vielleicht begegnet dir auf dieser Party der Mann deiner Träume.“
„Dann bringe ich ihn zum Frühstück mit“, erwiderte Hanna trocken. „Übrigens war der Typ von nebenan vorhin hier. Seine Familie war begeistert – soll ich dir ausrichten.“
„Der ist doch eigentlich sehr nett.“
„Nett?“ wiederholte ihre Cousine entsetzt. „Dieser Mann ist eine Katastrophe auf zwei Beinen! Arrogant, selbstgefällig, unverschämt!“
„So habe ich ihn aber nicht kennengelernt“, sagte Marie nachdenklich. „Heute Morgen war er zwar erst ein wenig sauer, weil er dachte, dass die Mädchen mit Papierkugeln auf ihn geschossen hätten, aber dann hat er sie zum Basketballspielen eingeladen.“ Aufmerksam blickte sie ihre Cousine an, um deren Lippen ein zufriedenes Lächeln spielte. „Was gibt es da zu grinsen? Freust du dich darüber, dass ihn jemand attackiert hat, oder weil er die Mädchen mitspielen ließ?“
„Dreimal darfst du raten.“
„Hanna!“ tadelte Marie sie in scheinbarer Strenge. „Schadenfreude passt nicht zu einem Engel!“
„Tagsüber und am Wochenende bin ich außer Dienst.“
„Das erklärt natürlich manches“, sinnierte Marie. „Womöglich sind Engel in ihrer Freizeit sogar fähig, auf unliebsame Nachbarn zu schießen?“
„Keine Ahnung, wovon du sprichst“, behauptete Hanna, erhob sich und stellte das leere Glas in den Geschirrspüler. „Allmählich sollte ich mich anziehen. – Bis später, Marie.“
Während ihre Cousine sich in ihrem Schlafzimmer für die Party stylte, bereitete Marie das Abendessen für die Familie vor. Beim Tischdecken ertönte das Signal ihres Handys, das den Eingang einer SMS verkündete. Marie ahnte, von wem die Nachricht kam und zog das kleine Gerät erwartungsvoll aus der Hosentasche. Ich wollte dir etwas ungeheuer Spannendes, Prickelndes, Intelligentes, Erotisches und Aufregendes schicken, aber ich passe einfach nicht auf das Display!“
Lächelnd las Marie die SMS noch einmal, ehe sie eine Antwort tippte. Sie hatte die Nachricht gerade abgeschickt, als Sara in die Küche stürmte.
„Mamarie! Komm schnell! Schau dir an, wie toll Hanna aussieht! Einfach megageil!“
„Woher hast du nur diese Ausdrucksweise?“, erwiderte Marie kopfschüttelnd. „Du klingst manchmal wie ein Junge.“
„So reden alle in meiner Klasse“, erklärte Sara. „Nun komm endlich!“
Leise seufzend folgte Marie ihrer Tochter hinaus. Hanna kam gerade die Treppe herunter. Ihr türkisfarbenes, silberdurchwirktes Kleid war eine raffinierte Mischung aus züchtiger Eleganz und purer Erotik: hochgeschlossen, aber schulterfrei, bodenlang, aber an einer Seite hüfthoch geschlitzt. Die farblich passenden Sandaletten trug Hanna in der Hand.
„In diesem Modell wirst du dir Uli kaum vom Leib halten können. Er wird den ganzen Abend nicht von deiner Seite weichen.“
„Soll ich mich deshalb in Sack und Asche hüllen?“, versetzte Hanna gleichmütig und trat vor den großen Flurspiegel. Kritisch betrachtete sie sich von allen Seiten.
„Du suchst vergeblich“, kommentierte Marie. „Durch dein konsequentes Jogging haben meine Kochkünste gar keine Chance, auch nur ein Gramm Fett anzusetzen. Nichts zeichnet sich ab. Man könnte meinen, du seiest unter dieser phantastischen Kreation barfuß bis zum Hals.“
„Wer weiß...!?“, entgegnete Hanna verschmitzt und schlüpfte in die hohen Schuhe. Mit beiden Händen fuhr sie sich anschließend durch ihr schulterlanges Haar. Die dunklen Naturlocken umschmeichelten das schmale Gesicht.
„Perfekt“, meinte Anna, aus dem Wohnzimmer kommend. „Du solltest dein Haar immer offen tragen, Hanna. Dadurch wirkst du viel jünger. Keinen Tag älter als dreißig.“
„Warum hat mir nicht schon früher jemand diesen Rat gegeben? Wenn das Weglassen einer Haarspange 17 Jahre wettmacht, hätte ich mir die Anschaffung teurer Cremes sparen können.“
Nun kam auch die kleine Lisa mit dem Hund die Treppe heruntergelaufen. Während Geisha freudig mit dem kurzen Schwanz wedelte, ging das Mädchen beeindruckt auf Hanna zu.
„Du bist schön“, sagte sie beinah ehrfürchtig. „Suchst du dir jetzt einen Mann?“
„Mit Sicherheit nicht“, verneinte Hanna und strich ihr über das blonde Haar. „Oder glaubst du, ich bräuchte unbedingt einen?“
„Das wäre doch gar nicht so schlecht“, befand die Siebenjährige. „Dann müsstest du nicht arbeiten“, fügte sie mit kindlicher Logik hinzu. „Außerdem könntest du wieder nachts schlafen.“
„Das wäre vermutlich der einzige Vorteil“, meinte Hanna. „Durchschlafen, ohne vom Höllenlärm des Maschinenparks eines chaotischen Nachbarn aus dem Schlaf gerissen zu werden. Welch herrlicher Gedanke! Ich sollte ...“
Sie unterbrach sich, als die Türglocke anschlug.
Marie öffnete mit Schwung die Haustür.
„Immer hereinspaziert“, begrüßte sie den Jugendfreund ihrer Cousine. „Aber mach dich auf einiges gefasst, Uli.“
Schon beim Eintreten sah er Hanna neben der Treppe stehen. Ein Ausdruck von Bewunderung trat in seine Augen. Vorerst konnte er Hanna jedoch nicht begrüßen, da Geisha zuerst ihr Recht verlangte. Schwänzelnd sprang sie um ihn herum und wartete auf die gewohnten Streicheleinheiten. Fast automatisch kam Ulrich dieser Forderung nach – allerdings ohne den Blick von Hanna zu wenden.
„Du siehst umwerfend aus“, sagte er, als er sich zu ihr durchgekämpft hatte, und küsste sie auf beide Wangen. „Hinreißend und verführerisch. Wäre es nicht die Geburtstagsparty meines Bruders, würde ich dir jetzt einen viel aufregenderen Ablauf dieses Abends vorschlagen.“
„Ich habe aber keine Lust, stundenlang vor dem Fernseher zu sitzen“, interpretierte sie seine Worte absichtlich falsch und harkte sich bei ihm ein. „Komm, wir gehen uns amüsieren.“
Unter den Gästen herrschte bereits eine ausgelassene Stimmung, als Jakob Jensen auf der Party eintraf. Er begrüßte zuerst das Geburtstagskind, musste aber gleich den nächsten Gratulanten Platz machen. So nahm er sich einen Drink, lehnte sich an eine Säule und schaute sich auf der Suche nach einem bekannten Gesicht unter den Gästen um. Seine Augen blieben dann jedoch am verlängerten Rücken einer Dame haften, der durch den eng anliegenden türkisfarbenen Stoff ihres Kleides überaus reizvoll wirkte. Die Frau mit den dunklen Locken stand mit vier Männern zusammen, die wetteiferten, sie amüsant zu unterhalten. Jakob entging keine ihrer geschmeidigen Bewegungen, wenn sie sich etwas vorbeugte oder einen Schritt zu Seite tat, gab die glitzernde Kreation ein wohlgeformtes gebräuntes Bein in seiner gesamten Länge frei. Ein sehr erotischer Anblick.
„Tolle Frau, nicht?“, sprach Thomas Maiwald seinen Gast von der Seite an. „Aber leider nicht zu haben.“
„Verheiratet?“
„Solo“, verneinte der Gastgeber. „Schon seit einigen Jahren. Dennoch gibt sie niemandem eine Chance. Ich fürchte, auf alles, was über eine erotische Nacht hinausgeht, lässt sie sich nicht mehr ein.“
„Woher weißt du das so genau?“
„Wir sind schon seit einer kleinen Ewigkeit miteinander befreundet.“ Kameradschaftlich klopfte er Jakob auf die Schulter. „Komm, alter Junge, ich stelle dich vor.“
Unbemerkt traten sie hinter Hanna. Wie selbstverständlich schlang Thomas den Arm um ihre Taille.
„Hallo, Prinzessin“, flüsterte er an Hannas Ohr. „Ich möchte dich mit jemandem bekanntmachen.“
Mit fragendem Blick drehte sie sich herum – und stöhnte innerlich auf.
„Das ist mein Studienfreund Jakob Jensen“, sagte Thomas. „Ein Mitstreiter aus meinen wilden Jahren.“ Lächelnd deutete er auf die Frau an seiner Seite. „Hanna Flemming ist das Highlight aus meinen Kindertagen. Meine erste große Liebe.“
Schmunzelnd erwiderte Jakob ihren skeptischen Blick.
„So sieht man sich wieder.“
„Ihr kennt euch?“
„Kennen ist reichlich übertrieben“, erklärte Hanna kühl. „Ich weiß nur, dass Herr Jensen eine Vorliebe für knatternde Rasenmäher und ratternde Heckenscheren hat.“
„Demnach sind Sie der Mann, der Hanna seit Tagen um ihren wohlverdienten Schlaf bringt“, mischte sich Ulrich mit unterdrücktem Ärger ein. „Sie sind ihr neuer Nachbar.“
„Gut erkannt“, bestätigte Jakob. „Darf ich fragen, wer Sie sind?“
„Ulrich Maiwald. –Toms Bruder – und Hannas engster Freund. Daher weiß ich, wie sehr sie in den letzten Tagen darunter gelitten hat, ständig von Ihnen aus dem Schlaf gerissen zu werden. Sehr rücksichtsvoll sind Sie nicht gerade.“
„Immerhin habe ich nicht gegen irgendwelche gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeiten verstoßen“, hielt Jakob ihm entgegen.
„Außerdem wusste ich nicht, dass meine Nachbarin bis mittags im Bett liegt.“
Empört funkelte Ulrich ihn an.
„Das klingt, als sei Hanna ...“
„Lass es gut sein, Uli“, unterbrach sie den Freund. „Ich habe mich mental darauf eingestellt, dass es seit Herrn Jensens Einzug mit der Ruhe vorbei ist. Deshalb würde es mich auch nicht wundern, wenn er demnächst morgens mit einer Kettensäge in seinem Garten herumfuhrwerkt.“
„Über die Anschaffung eines so nützlichen Gerätes habe ich tatsächlich schon nachgedacht“, neckte Jakob sie. „Vielleicht richte ich mir vorher aber eine kleine Werkstatt in der Garage neben Ihrem Grundstück ein. Dort könnte ich nach Herzenslust bohren, hämmern und sägen.“
„Seit wann bist du handwerklich begabt?“ begann Thomas, aus dem Nähkästchen zu plaudern. „Soweit ich mich erinnere, warst du nicht einmal fähig, deine Studentenbude allein zu streichen.“
„Pinseln ist eben langweilig“, versetzte Jakob schlagfertig. „Mit einer so geräuscharmen Beschäftigung kann man doch noch nicht mal die Nachbarn ärgern.“
„Ist das bei Ihnen angeboren?“, fragte Hanna mit freundlichem Lächeln. „Oder mussten Sie sich das hart erarbeiten?“
„Ich bin ein Naturtalent.“
„Das dachte ich mir“, erwiderte sie trocken, ehe sie Ulrich anschaute. „Du solltest einmal eine Sendung unter das Thema stellen: Hilfe, mein Nachbar wohnt neben mir. Wichtige Fakten dazu könnte ich dir liefern.“
„Sie sind beim Fernsehen?“ fragte Jakob interessiert, worauf Ulrich den Kopf schüttelte.
„Beim Rundfunk. – Um genau zu sein: Ich bin Programmchef bei Radio 2000.“
„Tatsächlich? Arbeiten Sie dort nicht mit Engeln zusammen?“
„Nur mit einem.“
„Angel“, nickte Jakob. „Von ihr habe ich schon gehört. Offenbar eine gute Moderatorin. Wie muss man sich diese Frau vorstellen? Jünger oder älter?“
„Alt.“
„Alt? Das glaube ich Ihnen nicht.“
„Was haben Sie erwartet? Ein Engel ist unsterblich. Er existiert viel, viel länger, als wir uns das vorstellen können. Demzufolge ist er mehrere hundert Jahre alt.“
„Sieht man Angel ihr hohes Alter an?“, ging Jakob darauf ein, weil klar war, dass er nicht mehr aus ihm heraus bekommen würde. „Dann wundert mich, dass ihre Stimme alles andere als zittrig und müde klingt. Oder gibt es da auch ein Geheimnis?“
„Kreide“, entgegnete Ulrich prompt. „Wie Sie sicher wissen, täuschte damit schon der Wolf das Rotkäppchen.“
„Ernstzunehmende Auskünfte gibt Ihr Freund nicht gerade“, wandte Jakob sich an Hanna. „Oder liegt das an mir?“
„Wenn Sie ein Konzept entwickeln würden, wie man sämtliche Arbeiten im Garten lautlos verrichten könnte, würden Sie Ihr Patentrezept auch nicht gleich an die große Glocke hängen.“
„Da mein Erfindergeist eher eingeschränkt ist, besteht kaum die Gefahr, dass in meinem Garten absolute Stille einkehrt“, konterte Jakob. „Mir scheint, selbst Ihnen hat Herr Maiwald das Geheimnis des Engels der Nacht nicht verraten. Erstaunlich, da er sich als Ihr engster Freund bezeichnet hat.“
„Ich habe wirklich alles versucht, um es ihm zu entlocken“, erklärte sie mit Unschuldsblick. „Man sagt doch, manche Menschen werden erst im Bett gesprächig. Auch dort gelang es mir leider nicht, das Geheimnis zu lüften. Versuchen Sie es doch gelegentlich, Herr Jensen. Vielleicht sind Sie in der Horizontalen besser als ich.“
„Mein Erfolg beim männlichen Geschlecht ist leider mehr als dürftig“, sagte Jakob in bedauerndem Ton. „Dafür wirke ich auf die Damenwelt unwiderstehlich.“
Mit spöttischem Blick musterte Hanna ihn von Kopf bis Fuß. Innerlich gestand sie ihm zu, dass er das war, was man einen gut aussehenden Mann nannte. Auch war er modisch-elegant in einen dreiteiligen dunkelgrauen Anzug gekleidet. Selbst an der dezent gemusterten Krawatte gab es nichts auszusetzen. Als Hannas Augen jedoch zu seinen Schuhen schweiften, lachte sie leise. Seine Füße steckten in schwarzen Cowboystiefeln.
„Ausschließlich damit ziehen Sie wahrscheinlich die Aufmerksamkeit auf sich. Haben Sie das nötig?“
„Die einen lackieren ihre Zehennägel, die anderen tragen ihre Glücksstiefel“, parierte Jakob. „Die habe ich aus Texas mitgebracht. Außerdem sind sie herrlich bequem. Damit schwebe ich beinah wie auf Wolken.“ Herausfordernd blickte er ihr in die Augen. „Tanzen Sie mit mir, Frau Flemming?“
„Sie schrecken wohl vor überhaupt nichts zurück“, bemerkte Ulrich, bevor Hanna etwas erwidern konnte. „Glauben Sie wirklich, Hanna legt Wert darauf, mit dem Mann zu tanzen, der ihr seit Tagen rücksichtslos den Schlaf raubt?“
„Pardon, ich wusste nicht, dass Sie die Entscheidungen für Frau Flemming treffen.“
„Das tue ich nach wie vor selbst“, betonte Hanna und griff nach der Hand des Gastgebers. „Begleitest du mich zum Büffet, Thomas? Nachdem ich heute auf viele Kalorien verzichtet habe, muss ich meinem Magen unbedingt was Gutes tun.“
„Was immer du möchtest, Prinzessin“, schmunzelte er und führte sie davon.
Auch im Laufe des Abends gelang es Jakob nicht, Hanna zu einem Tanz mit ihm zu überreden. Dennoch ließ er sie nicht aus den Augen. Er beobachtete, dass sie mit ständig wechselnden Partnern über das Parkett schwebte. Nur ihn selbst hatte sie kalt lächelnd abblitzen lassen. Jakob fragte sich, ob das durch ihn verursachte Schlafdefizit der Grund sei. Oder ob er ihr tatsächlich derart unsympathisch sei, dass sie ihn nicht einmal mit einer Kneifzange anfassen würde.
Trotz ihrer Abwehrhaltung suchte Jakob zu vorgerückter Stunde noch einmal ihre Nähe.
„Ich habe mich gerade von Thomas verabschiedet“, teilte er Hanna mit, die mit Ulrich zusammenstand. „Wenn Sie möchten, können Sie gern mit mir zurückfahren, Frau Flemming.“
„In Ihrem Vorkriegsmodell? - Nein, danke.“
„Manche Dinge, die oberflächlich betrachtet alt und gebrechlich wirken, sind innerlich jung und dynamisch.“
„Sprechen Sie von sich oder von Ihrem Vehikel?“
„Testen Sie mich und mein Auto“, schlug Jakob vor. „Dann finden Sie vielleicht heraus, wie viel Power in uns steckt.“
„So abenteuerlustig bin ich nicht“, lehnte sie sein Angebot ab. „Außerdem ist die Nacht noch viel zu jung, um schon jetzt Richtung Heimat aufzubrechen.“
„Wenn man es gewohnt ist, bis mittags im Bett zu liegen, kann man sich wohl getrost die Nacht um die Ohren schlagen. Vergessen Sie dabei aber nicht, dass Sie neuerdings einen geräuschintensiven Nachbarn haben. Womöglich stört der rücksichtslose Mensch Ihren Schönheitsschlaf sogar am heiligen Sonntag.“
„Dann erschieße ich ihn mit kaltem Reis“, konterte sie mit zuckersüßem Lächeln. „Oder mit bunten Papierkugeln.“ Jakobs Verblüffung ausnutzend, hängte sie sich bei Ulrich ein. „Komm, lass uns tanzen.“
Zu Hause zog Jakob sich gleich in seine Räume zurück. Mitternacht war längst vorüber, und er war rechtschaffen müde. Nach dem Duschen machte er es sich mit einem Buch in seinem Bett bequem und schaltete das Radio ein. Leise einschmeichelnde Musik erklang, die bald von Angels sanfter Stimme abgelöst wurde. Sie sprach mit einem Anrufer über Heimweh. Eine Weile lauschte Jakob diesem Gespräch. Als erneut Musik einsetzte, griff er nach dem schnurlosen Telefon und wählte die Nummer des Senders. Diesmal gelang es ihm nicht, den Engel der Nacht zu erreichen. So oft er es auch versuchte, es ertönte ständig das Besetztzeichen. Er ahnte nicht, dass Radio 2000 in den Wochenendnächten in der Reihe Von spät bis früh Highlights aus Sendungen des letzten Monats brachte. Wäre Jakob nicht eingeschlafen, hätte er sogar seine eigene Stimme aus dem Radio gehört.