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Kapitel 1

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Die Sonne schien hell ins Zimmer.

Nach nur vier Stunden Schlaf schreckte Marie hoch. Benommen blinzelte sie zum Wecker.

„Oh Schiet...“, murmelte sie und fiel zurück in die Kissen. Obwohl sie sich wie zerschlagen fühlte, sprang sie Sekunden später aus dem Bett. Auf dem Weg zur Tür schlüpfte sie in ihren Morgenmantel.

„Anna! Sara! Lisa!“, rief sie im Flur. „Aufstehen! Wir haben verschlafen!“

„Nur nicht nervös werden!“, rief ihre Cousine vom Treppenaufgang zurück. „Die Mädchen sitzen bereits am Frühstückstisch!“

„Wenn ich dich nicht hätte, Hanna“, sagte Marie erleichtert, während sie die Stufen herunterkam. Mit allen zehn Fingern wuselte sie durch ihr streichholzkurzes hellblondes Haar. „Das war eine verdammt kurze Nacht.“

„Wem sagst du das?“, seufzte Hanna. „Wie sieht es denn heute bei dir aus, Marie?“

„Ein Kindergeburtstag; achtzehn Personen“, antwortete ihre Cousine, die im Souterrain des Hauses einen Partyservice betrieb. „Wenn meine drei Ableger in der Schule sind, fahre ich erst mal einkaufen. Um das Mittagessen kümmere ich mich danach. Du kannst so lange schlafen, wie du möchtest.“

„Okay, dann sehen wir uns in zwei Wochen wieder“, erwiderte Hanna trocken und stieg an ihr vorbei die Stufen empor. „Gute Nacht, Marie.“

Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat Marie die Küche. Darauf schienen ihre Kinder nur gewartet zu haben.

„Ich brauche zwei Euro für die Klassenkasse!“

„Du musst meinen Mathetest noch unterschreiben!“

„Darf ich heute nach der Schule mit zu Miriam gehen?“

„Auch ich wünsche euch einen wunderschönen guten Morgen.“

„Guten Morgen, Mamarie“, schallte es im Chor zurück. Sogar die Boxerhündin Geisha blieb Schwanz wedelnd vor ihr stehen.

„Na, also“, meinte Marie amüsiert und kraulte das Tier hinter den Ohren. „Geht doch.“ Aus einer Schale nahm sie ein 2-Euro-Stück und legte es neben den Teller ihrer 12-jährigen Tochter Sara. „Wo ist dein Mathetest?“, wandte sie sich an die drei Jahre ältere Anna.

„Auf der Anrichte.“

Ihre Mutter warf nur einen kurzen Blick in das Heft, ehe sie ihren Namen darunter setzte.

„In Bestform warst du dabei offensichtlich nicht“, sagte Marie ohne jeden Vorwurf und reichte es ihrer Tochter. „Woran hat es denn gelegen? Waren die Aufgaben zu schwer?“

„Eigentlich nicht...“

„... aber?“

„Irgendwie war das nicht mein Tag“, antwortete ihre Tochter schulterzuckend „Bei der nächsten Arbeit gleiche ich das wieder aus.“

„Kann ich nach der Schule zu Miriam?“, fragte das Nesthäkchen Lisa noch einmal. „Wir wollen mit ihrer Mutter in den Zoo.“

„Und was ist mit den Hausaufgaben?“

„Die machen wir vorher zusammen.“

„Okay, dann telefoniere ich nachher noch mit ihrer Mutter“, stimmte Marie zu, bevor sie einen Blick auf die große Uhr über der Tür warf. „Ihr müsst allmählich los.“ Aus dem Kühl-schrank nahm sie für jede ihrer Töchter eine noch in der letzten Nacht zubereitete Sandwichbox. „Vergesst euren Pausenimbiss nicht.“

Wenige Minuten später verließen die Kinder das Haus. Noch im Morgenmantel räumte Marie die Küche auf, sammelte die Wäsche in den Kinderzimmern zusammen und machte die Betten. Während die Waschmaschine die erste Ladung Buntwäsche durch die Trommel wirbelte, stellte sich Marie unter die Dusche.

Ihre Cousine war bereits mit einer langen Einkaufsliste unterwegs zum Großmarkt, als Hanna in der zweiten Etage des Hauses endlich einschlief. Was sich als ungünstiger Zeitpunkt erwies, da der Müllwagen in die Straße einbog, um für alle Anwohner unüberhörbar die Container zu leeren. Prompt war Hanna wieder wach. Sie wälzte sich ungeduldig herum, bis draußen Ruhe einkehrte. Kaum wieder eingeschlummert, riss das durchdringende Krähen eines Hahnes begleitet von schrillen Klingeltönen Hanna abermals aus ihren Träumen. Als gäbe es keine Menschen, die tagsüber schlafen mussten, weil sie nachts arbeiteten, pries der Oldenburger Landbauer lauthals seine frischen Eier und Wurstwaren an.

Einen wenig damenhaften Fluch ausstoßend, zog Hanna sich das Kissen über den Kopf.

Fast zwei Stunden blieb sie ungestört, bis erneut Lärm von der Straße in ihr Bewusstsein drang. Genervt sprang Hanna aus dem Bett. Sie schob die Tür zum Dachgarten weiter auf und trat barfuß hinaus. Ein Blick hinunter genügte, um die beiden Möbelwagen vor dem Nachbargrundstück zu entdecken. Mussten die neuen Bewohner der alten Villa ausgerechnet einziehen, wenn man selbst dringend Schlaf benötigte? Mit mäßigem Interesse beobachtete sie die große Kisten ins Haus schleppenden Möbelpacker. In der Eingangstür stand ein schlanker Hüne mit eisgrauem Haar, der die Männer offenbar in die verschiedenen Räume dirigierte. Als die Möbelträger nun einen Flügel aus einem der Wagen luden, lief der Besitzer zu ihnen. Seiner Gestik war zu entnehmen, dass er zu einem umsichtigen Transport des kostbaren Instrumentes ermahnte. Dieser wäre vermutlich problemlos gelungen, wäre die Dachterrasse des Nebenhauses nicht zufällig in den Blickwinkel eines Möbelträgers geraten. Die reizvolle Gestalt der Frau in dem dünnen Seidenhemdchen verfehlte ihre Wirkung auf den Betrachter nicht. Unwillkürlich trat er einen Schritt zur Seite, um besser sehen zu können. Dadurch schwankte der Flügel in den Haltegurten bedenklich. Dies wiederum schien den Eigentümer des Instrumentes einige Nerven zu kosten. Bis hinauf zu ihrem Standort hörte Hanna den Mann schimpfen, wobei er aufgebracht mit den Armen herumfuchtelte. War das ein Zeichen von Temperament oder einfach nur Unbeherrschtheit? Offenbar gab der Möbelträger eine Erklärung für seine Unachtsamkeit ab, denn nun schaute auch der Grauhaarige nach oben. Obwohl er seine Augen mit der Hand beschattete, konnte er niemanden entdecken. Hanna hatte es vorgezogen, blitzschnell von der Bildfläche zu verschwinden. Es zählte nicht zu ihren Gepflogenheiten, sich den Nachbarn im Nachthemd zu präsentieren. Sie schloss die Terrassentür, ließ die Jalousien herunter und legte sich wieder in ihr Bett. An Schlaf war jedoch nicht mehr zu denken...

Marie reagierte überrascht, als ihre Cousine bereits gegen Mittag im Jogginganzug in der großen Küche im Souterrain auftauchte.

„Sind die zwei Wochen schon um, oder weshalb liegst du nicht mehr in Abrahams Schoß?“

„Das lebhafte Treiben in unserer sonst so ruhigen Straße hat mich aus dem Bett getrieben.“ Sie stibitzte eine kleine Partyfrikadelle von einer großen Platte und biss genüsslich hinein.

„Mmm, lecker. Deine Frikadellen sind unübertrefflich.“ Beeindruckt blieb sie vor der zweistöckigen, mit rosa Blüten verzierten Geburtstagstorte stehen. Mit Zuckerschrift stand der Name Nina über einer großen 7 darauf „Diese Torte ist ein richtiges kleines Kunstwerk.“

„Hüte dich, davon zu naschen“, warnte Marie ihre Cousine und deutete mit dem Kochlöffel nach rechts. „Für euch ist der Apfelkuchen. Nachher backe ich noch jede Menge Krapfen.“

Erwartungsvoll blitzte es in Hannas Augen auf.

„Mit Vanillecreme gefüllt?“

„So lautet die Bestellung für den Kindergeburtstag.“

„Und was ist mit uns?“, fragte Hanna vorwurfsvoll. „Willst du deiner Familie diese Gaumenfreude etwa vorenthalten?“

„Glaubst du, ich will es mir mit meiner Hauswirtin verderben?“

„Fang bloß nicht wieder mit der Nummer an“, versetzte Hanna mit wegwerfender Geste. „Für mich allein war das Haus viel zu groß. Wärst du nicht mit den Kindern zu mir gezogen, hätte ich es wahrscheinlich verkauft.“

Ungläubig weiteten sich Maries Augen.

„Das ist nicht dein Ernst, Hanna. Du hättest es bestimmt nicht fertiggebracht, dich von Achims Elternhaus zu trennen.“

„Nach seinem Unfall habe ich dieses Haus nur noch wie ein Gefängnis empfunden, in dem ich die einzige Insassin war. Alles um mich herum hat mich an Achim erinnert, an die glücklichen Jahre mit ihm. Die Erinnerung drohte mich förmlich zu erdrücken.“

„Warum hast du nie mit mir darüber gesprochen?“

„Hattest du mit deiner schwierigen Familiensituation nicht schon genug Probleme?“

„Die mit deinem Angebot, mit den Kindern hier einzuziehen, verschwanden“, vollendete Marie. „Seit drei Jahren erträgst du uns nun schon.“

„Vor drei Jahren kam wieder Leben ins Haus“, korrigierte Hanna ihre Cousine. „Seitdem fühle ich mich hier so wohl wie früher.“

Ihr strenger Blick konzentrierte sich auf Marie. „Also nenn mich nie mehr deine Hauswirtin. – Zumal du deine Ersparnisse in den Umbau investiert hast.“

„Ohne diese Räumlichkeiten wäre mein Traum vom eigenen Partyservice doch wie eine Seifenblase zerplatzt.“

„Einigen wir uns darauf, dass wir einander gegenseitig geholfen haben“, schlug Hanna vor. „Damit ist dieses Thema aber endgültig vom Tisch.“ Sie warf noch einen bedauernden Blick auf die appetitliche Geburtstagstorte und nahm sich ein Stück von dem noch warmen Apfelkuchen. „Übrigens bekommen wir neue Nachbarn. Die Möbelwagen blockieren die ganze Straße. Nach dem zu urteilen, was da alles ins Haus geschleppt wird, zieht dort mindestens eine zehnköpfige Familie ein.“

„Was sind denn das für Leute?“ fragte Marie interessiert. „Hast du sie schon gesehen?“

„Nur einen langen Kerl, der die Möbelträger herumkommandiert hat. Wahrscheinlich das allmächtige Oberhaupt einer schrecklich netten Familie.“

„Warten wir es ab“, schlug Marie belustigt vor. „Spätestens wenn sie sich über unsere lebhafte Kinderschar beschweren, wird sich herausstellen, wie nett sie wirklich sind.“

„Demnach wird das schon bald sein“, meinte Hanna lachend und wandte sich zur Tür. „Ich gehe jetzt eine Runde joggen. Geisha nehme ich mit.“

„Viel Spaß!“, rief Marie ihrer Cousine nach.

Wenige Minuten später verließ Hanna mit der Boxerhündin an der Leine das Haus. Während sie am Nachbargrundstück vorbeitrabte, schaute sie durch die Gläser ihrer Sonnenbrille mit- fühlend zu den Möbelträgern hinüber, die sich im Vorgarten eine Standpauke von ihrem nicht gerade zufrieden wirkenden Kunden anhören mussten. Dabei fuchtelte er wild mit den Armen herum wie eine Mischung aus Joe Cocker und Herbert von Karajan. Auslöser dafür war offensichtlich ein unter seinem gewichtigen Inhalt geborstener Umzugskarton. Neben der Pappruine lagen zahlreiche Bücher auf dem Plattenweg verstreut. Sollte das so weitergehen, dachte Hanna, würde der arme Mann noch vor seinem Einzug einen Herzinfarkt erleiden.

Trotz seiner Erregung bemerkte er das Interesse der Frau im Jogginganzug. Er beschrieb eine Geste, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen.

„Du mich auch“, murmelte Hanna und setzte ihr Lauftraining fort.

Nachdem die Möbelpacker abgerückt waren, herrschte ein un- übersehbares Chaos in dem gerade bezogenen Haus. Überall standen unausgepackte Umzugskartons herum.

Die jüngsten Familienmitglieder waren in den drei Kinderzimmern damit beschäftigt, Schubladen und Schränke mehr oder weniger ordentlich zu füllen.

Am späten Nachmittag traf Jonas Jensen in seinem neuen Domizil ein. Durch einen Slalomlauf um mehrere große Kisten bahnte er sich einen Weg zu dem Raum, den sein Bruder als Arbeitszimmer nutzen wollte.

„Spät kommt er – aber er kommt“, bemerkte Jakob Jensen, ohne sich beim Einräumen seiner Bücher in die hohen Regale stören zu lassen.

„Tut mir leid, dass ich es nicht eher geschafft habe“, bedauerte Jonas. „Die Sitzung hat länger als erwartet gedauert. Zu allem Überfluss habe ich anschließend noch im Stau gestanden.“

Über den Rand seiner Lesebrille hinweg musterte Jakob seinen jüngeren Bruder.

„Du hast die Wahl zwischen Küche und Wohnzimmer.“

„Darf ich mich vorher noch umziehen und den Rest der Familie begrüßen?“

„Du erinnerst dich tatsächlich an die Existenz deiner Kinder, Jonas?“ spottete Jakob. „Erstaunlich...“

„Nun tu nicht so, als würde ich die drei ständig vernachlässigen“, beschwerte sich sein Bruder. „Da ich eine Familie ernähren muss, bleibt es nun einmal nicht aus, dass ich meinen Job machen muss. So gut wie ihr Lehrer mit eurer vielen Freizeit habe ich es leider nicht.“

„Sei froh, dass ich mittags meistens zu Hause bin. Immerhin bin ich ein ganz brauchbares Kindermädchen.“

„Sogar ein pädagogisch wertvolles“, schmunzelte Jonas. „Ich glaube, in dieses Haus zu ziehen, war eine gute Idee.“

„Das wird sich erst noch herausstellen müssen. Falls du hoffst, ich spiele ab jetzt ständig die Mutter deiner Kinder...“

„Keine Sorge“, unterbrach Jonas ihn vergnügt. „So schön bis du nun auch wieder nicht, dass ich dir gleich einen Heiratsantrag machen würde.“

„Du weißt schon, wie ich das meinte“, tadelte sein Bruder ihn scheinbarer Strenge. „Deine Kinder brauchen ihren Vater gerade jetzt mehr als sonst. Der Umzug, die neue Umgebung...“

„Ich weiß“, seufzte Jonas. „Wann immer es möglich ist, trete ich künftig kürzer. Trotzdem hoffe ich, dass die Jungs auch hier bald Freunde finden. Vielleicht sogar in der Nachbarschaft.“

„Ob das so wünschenswert ist“, zweifelte Jakob. „Hier nebenan scheint eine ziemlich leichtlebige Person zu wohnen, die vor-mittags halbnackt auf der Dachterrasse herumhüpft.“

„Was du nicht sagst. Ist sie wenigstens hübsch?“

„Keine Ahnung.“ Ohne eine Miene zu verziehen, berichtete Jakob von der Gefahr, in der sein Flügel geschwebt hatte.

„Wahrscheinlich macht sie sich einen Spaß daraus, spärlich bekleidet Aufmerksamkeit zu erregen, um dann genauso schnell wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Vermutlich eine exhibitionistisch veranlagte, unbefriedigte Hausfrau. Das ist wohl kaum der richtige Umgang für die Jungs.“

„Vielleicht aber für dich“, neckte Jonas ihn. „Anstatt dich permanent hinter deinen Büchern zu verstecken, solltest du dich allmählich auf Brautschau begeben. Sonst ist der Zug für dich endgültig abgefahren.“

„Ich bin Single aus Überzeugung“, betonte Jakob. „Im Übrigen wäre es angebrachter, du würdest dir endlich wieder eine Frau suchen. Deine Kinder brauchen eine Mutter.“

„Glaubst du, es sei so einfach, eine Frau zu finden, die nicht gleich die Flucht ergreift, wenn sie hört, dass dieser äußerst attraktive Mann ein Witwer mit drei Lausebengeln ist? Die wiederum würden jede Kandidatin mit ihrer Mutter vergleichen und nicht ohne weiteres akzeptieren, dass eine andere deren Platz einnimmt. Hinzu käme, dass die Ärmste auch noch vor deinem gestrengen Auge bestehen müsste. Das würde wahrscheinlich der schwierigste Teil der Übung.“

„Schieb nur mir den Schwarzen Peter zu“, antwortete Jakob gelassen. „Dafür hat man schließlich einen großen Bruder.“

„Eben“, bestätigte Jonas und wandte sich zur Tür. Über die Treppe gelangte er in die erste Etage des zwei-stöckigen Hauses. Im Flur blieb er vor den drei nebeneinander liegenden Kinderzimmern stehen.

„Hallo, Jungs!“, rief er. „Habt ihr einen Moment für euren alten Vater?“

Fast gleichzeitig kamen seine Söhne aus ihren Räumen. Allen voran ein Jack-Russell-Terrier. Der kleine Hund vollführte schwanzwedelnd einen Freudentanz, so dass Jonas in die Hocke ging und den kleinen Kerl kraulte.

„Na, Pavarotti“, begrüßte er das Tier. „Wo hast du denn deinen Ball?“ Sofort sauste der Hund davon. „Wie weit seid ihr, Männer? Kommt ihr mit dem Auspacken voran?“

„Ich bin fast fertig“, sagte Max, der Älteste. „Nur meine CDs muss ich noch einsortieren.“

„Meine Klamotten müssen noch in den Schrank“, meldete der 12jährige Leon. „Dafür habe ich meinen Computer schon angeschlossen.“

„Und du, Timo?“ wandte Jonas sich an seinen Jüngsten. „Wie sieht es bei dir aus?“

„Ich habe Hunger.“

„Das war nicht meine Frage.“

„Klar bin ich fertig“, lautete die prompte Antwort. „Trotzdem habe ich Hunger. Heute Mittag gab es bloß Ravioli, weil Onkel Jakob keine Zeit zum Kochen hatte.“

„Dann hältst du bestimmt nicht durch, bis in der Küche alles eingeräumt ist“, vermutete sein Vater. „Wie wäre es deshalb zum Abendessen mit einem Stapel Mafiatorten?“

Wie erwartet, fand dieser Vorschlag allgemeine Zustimmung. Nachdem jeder seine Wünsche für den Belag geäußert hatte, rief Jonas den Pizzaservice an.

Im Nebenhaus kümmerte sich wie gewöhnlich Hanna um das Abendessen. Als der Tisch gedeckt war, rief sie die Familie zusammen. Bevor sie sich zu den anderen setzte, trat sie ans Fenster, um die Vorhänge zu schließen.

„Oh, unsere neuen Nachbarn scheinen Feinschmecker zu sein“, sagte sie in leicht spöttischem Ton. „Sie bevorzugen die italienische Küche.“

Beeindruckt schaute die kleine Lisa sie an.

„Kannst du so weit gucken, Hanna? Bis auf ihren Tisch?“

„Nein, mein Schatz.“ Im Vorbeigehen strich sie ihrem Patenkind liebevoll über den blonden Lockenkopf. „Aber der Pizzabringdienst ist gerade nebenan vorgefahren.“

„Die können bestimmt nicht kochen“, meinte Sara. „Jedenfalls nicht so gut wie Mamarie.“

„Wenn man gerade umgezogen ist, und im Haus lauter unausgepackte Kisten rumstehen, ist man wahrscheinlich froh, sich nicht auch noch ums Abendessen kümmern zu müssen“, vermutete Marie. „Wir werden unsere neuen Nachbarn sicher bald kennenlernen. Vielleicht sind sie sehr nett.“

„Wetten würde ich darauf nicht“, bemerkte Hanna trocken. „Aber wir müssen uns ja auch nicht zwangsläufig mit ihnen verbrüdern.“

Wie an jedem Abend ging Jakob Jensen noch einmal mit dem Hund raus. Er ließ das Tier an der langen Leine laufen, um ihm Gelegenheit zu geben, die neue Umgebung gründlich zu erkunden. Schon das Nachbargrundstück schien eine magische Anziehung auf den kleinen Hund auszuüben. Die Nase am Boden schnüffelte er die dunkle Einfahrt hinauf. Jakob ließ ihn gewähren. Offenbar hatte Pavarotti den Geruch eines anderen Vierbeiners aufgenommen. Nun würde er an jedem Steinchen sein Beinchen heben, um seine Visitenkarte zu hinterlassen. Geduldig wartete sein Herrchen. Plötzlich kam eine Gestalt um das Haus herum direkt auf ihn zu.

„Ach, du meine Güte“, murmelte Jakob angesichts der Kleidung der Frau. Die Farbzusammenstellung von langem blaugeblümten Rock, weiter roter Bluse und ausgebeulter grüner Strickjacke wirkte wie eine Beleidigung auf das Auge eines Ästheten. Das tief in die Stirn reichende gestreifte Kopftuch und die Brille mit den dicken Gläsern entsprachen auch nicht unbedingt dem letzten modischen Chic.

„Was machen Ihre Hund da?“ sprach die unförmige Fremde den Mann in gebrochenem Deutsch empört an. „Er nicht einfach können machen Geschäft auf fremde Grundstück!“

„Er hat nur geschnüffelt und sein Bein gehoben“, versuchte Jakob die aufgebrachte Frau zu beruhigen. „Das ist doch nicht so schlimm.“

„Nix schlimm?“, echote sie wild gestikulierend. „Hund hat gemacht stinkende Haufen mitten vor die Tor von Garage! Ist üblich das, da wo Sie kommen her? Bei uns das ist verboten! Sie wegmachen das Haufen, sonst Sie kriegen großes Ärger!“

„Ist ja schon gut“, erwiderte er beschwichtigend. „Selbst-verständlich beseitige ich das Malheur.“ Er stieß einen kurzen Pfiff aus uns zog leicht an der Leine. „Hierher, Pavarotti!“

Sofort kam der kleine Hund angesaust und blieb erwartungsvoll zu ihm aufschauend stehen.

„Pavarotti...“, wiederholte die Frau kopfschüttelnd. „Sie ihn müssen mehr füttern, damit passt diese Name zu das Hund.“

Etwas Unverständliches vor sich hinmurmelnd, wandte sie sich ab, drehte sich aber nach wenigen Metern noch einmal um. „Nix vergessen machen sauber unsere Weg!“

Leise seufzend kramte Jakob eine für alle Fälle eingesteckte kleine Tüte aus der Jackentasche und ging die Einfahrt hinauf.

Wenige Minuten später betrat er mit dem Übeltäter sein Haus.

„Jetzt brauche ich erst mal einen Cognac“, sagte Jakob im Wohnzimmer zu seinem Bruder, der mittlerweile einige Kisten ausgepackt hatte, und ließ sich in einen Sessel fallen. „Eben hatte ich eine Begegnung der 3. Art.“

„Welcher Außerirdische treibt sich denn draußen rum?“ Jonas trat zum Schrank und nahm die Cognacflasche heraus. „ET oder Mr. Spock?“

„Die beiden sind garantiert harmlos gegen den Besen von nebenan“, behauptete Jakob. „Unsere Nachbarn sind offenbar Türken. Wahrscheinlich aus dem tiefsten Anatolien.“ Mit knappen Worten berichtete er von seinem Zusammenstoß mit der Nachbarin. „Dieser hässliche Vogel hätte mich vermutlich am liebsten mit einem langen Dolch gemeuchelt.“

„Hast du vorhin nicht erzählt, die Möbelträger hätten auf dem Balkon eine halbnackte Schönheit gesehen?“, überlegte Jonas und reichte ihm eines der Gläser. „Demnach war deine Vogelscheuche bestimmt die Putzfrau unserer Nachbarn.“

„Eine Putzfrau arbeitet wohl kaum bis spätabends.“ Mit Genuss ließ Jakob den edlen Tropfen auf der Zunge zergehen. „Wer sie auch war, ich hoffe, dass ich ihr nicht noch mal über den Weg laufe.“

Unterdessen betrat die türkische Vogelscheuche das Gebäude des Senders Radio 2000. In ihren altmodischen flachen Schuhen latschte sie mit schlurfenden Schritten zum Lift. Niemand beachtete die vermeintliche Putzfrau. Selbst der Pförtner blickte nur kurz von seiner Zeitung auf. Er kannte die Leute vom Reinigungspersonal, die allabendlich das Haus bevölkerten. Mit einigen von ihnen wechselte er stets ein paar Worte. Die Frau, die gerade im Aufzug verschwand, zählte nicht dazu. Er vermutete, sie sei der deutschen Sprache nicht mächtig und vertiefte sich wieder in seinen Sportteil.

In der vierten Etage verließ die farbenfroh gekleidete Gestalt den Fahrstuhl und wandte sich nach rechts. Ohne Anzuklopfen öffnete sie eine Tür mit der Aufschrift Redaktion. An einem ovalen Tisch saßen eine junge Frau und zwei Männer, die bei ihrem Eintreten erleichtert schienen.

„Du kommst spät“, sagte der Redakteur Sandro Müller ohne jeden Vorwurf. „Gab es Probleme?“

„Zuerst ich musste vertreiben neue Nachbar, weil er hat verwechselt unsere Einfahrt mit Hundeklo“, zählte sie auf. „Dann alte Schrottkiste nix wollte springen an. Hier auf Parkplatz wieder ein paar Leute lungern rum. Sie mich wollten ausfragen, aber Suleika nix verstehen. Ich nur türkisches Putzfrau.“

„Du bist ein Goldschatz“, korrigierte Sandro sie. „Setz dich und hör dir deine grandiosen Einschaltquoten an.“

Bevor sie Platz nahm, zog sie zuerst die Brille von der Nase und das Tuch vom Kopf. Mit den Händen fuhr sie sich durch ihre schulterlangen dunklen Locken.

„Ich höre?“

„Gestern hast du noch 2% zugelegt“, erklärte Babs, die Redaktionsassistentin. „Bald gibt es niemanden mehr, der zwischen Geisterstunde und Morgengrauen einen anderen Sender einschaltet.“

„Unsere Angel ist tatsächlich ein Phänomen“, schloss sich Ulrich Maiwald an. Als Programmdirektor wusste er, wovon er sprach. „Dass ein relativ kleiner Regionalsender wie unserer weit über die Landesgrenzen hinaus so populär wurde, verdanken wir nur ihr. Der Engel der Nacht ist auf dem besten Weg, eine Kultfigur zu werden.“

„Ihr übertreibt wieder mal maßlos“, winkte die so hoch gelobte Moderatorin in plötzlich akzentfreiem Deutsch ab. „Es ist reines Glück, dass das Konzept der Sendung so gut funktioniert.“

„Du bist viel zu bescheiden“, widersprach Ulrich. „Die Mischung aus deiner faszinierenden Stimme, deiner humorvollen Spontanität und deinem enormen Einfühlungsvermögen macht diesen Erfolg aus.“

„Außerdem das Geheimnis, das dich umgibt“, fügte der Redakteur hinzu. „Erinnert ihr euch, was der Reporter vom Focus vor einigen Tagen alles angestellt hat, um das Inkognito des Engels der Nacht zu lüften? Wahrscheinlich dachte er, wir würden ihm Angel auf einem Silbertablett servieren, damit er über unseren Sender schreibt.“

„Die Idee mit dem telefonischen Interview war doch super“, befand Babs. „Fast so genial wie die türkische Putzfrau, die hier abends mit einem klapprigen Fiat vorfährt. Wahrscheinlich würde Hanna in dieser ätzenden Verkleidung nicht mal von ihrer eigenen Großmutter erkannt.“

„Hier gibt es keine Hanna“, betonte Sandro, wobei er seine Assistentin mit einem scharfen Blick fixierte. „Pass bloß auf, dass du dich nicht mal verplapperst, Babs. Das können wir uns nicht leisten.“

„Okay, okay“, beruhigte sie ihn. „Dieser Name kommt nie wieder über meine Lippen.“

„Irgendwann findet doch jemand raus, wer sich hinter dem Engel der Nacht verbirgt“, sagte Hanna nüchtern. „Oder glaubt ihr etwa, das kann man ewig verheimlichen?“

„Solange es so gut läuft wie bisher, bin ich optimistisch“, verkündete der Programmdirektor. „Mit den Werbeeinnahmen schaffen wir uns ein gutes Polster. Außerdem muss die Sendung nicht zwangsläufig sterben, falls du enttarnt werden solltest. Wenn bekannt wird, was für eine tolle Frau sich hinter dem Engel der Nacht verbirgt, wächst deine Fangemeinde wahrscheinlich noch. – Aber darüber sprechen wir, wenn es soweit ist.“ Aus den vor ihm liegenden Unterlagen fischte er eine Karte hervor und reichte sie der Moderatorin. „Weil immer mehr Leute ein Autogramm von dir wollen, habe ich diese Aufnahme anfertigen lassen. Hoffentlich gefällt sie dir.“

Kritisch begutachtete Hanna die Autogrammkarte. Sie zeigte einen Engel mit langem wallenden Haar und zarten Flügeln. Obwohl er dem Betrachter abgewandt auf einem großen Stein saß, erkannte man an der Kopfhaltung, dass er in den Sternenhimmel hinaufschaute.

„Nicht schlecht. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass nun noch mehr Arbeit auf mich zukommt.“ Ihre ausdrucksvollen Augen richteten sich fragend auf den Jugendfreund. „Du erwartest doch sicher, dass ich künftig nicht nur wie bisher meine Fanpost beantworte, sondern auch jede Menge Autogrammkarten signiere. Oder sehe ich das falsch, Uli?“

„Da du zu logischen Schlussfolgerungen neigst...“, entgegnete der Angesprochene mit vielsagendem Lächeln, „werde ich mich hüten, dir zu widersprechen.“

„Das dachte ich mir“, bemerkte Hanna trocken. „Was wäre mir alles erspart geblieben, hätte ich nicht in grauer Vorzeit ein paar Semester Psychologie belegt und mich Jahre später von einem alten Freund überreden lassen, in seinem Sender zu arbeiten.“

„Das alt möchte ich überhört haben“, schmunzelte ihr ehemaliger Klassenkamerad. „Darf ich dich daran erinnern, dass du das Konzept für den Engel der Nacht entwickelt hast?“

„Hätte ich geahnt, du würdest darauf bestehen, dass ich diese Sendung moderieren soll, wäre das Konzept im Papierkorb gelandet.“

„Inzwischen macht dir die Arbeit am Mikrofon doch Spaß. Deine Hörer lieben dich und deine unverwechselbare, erotische Stimme.“

„Keine andere hätte mit dieser Sendung einen solchen Erfolg erzielt“, schloss Sandro sich an. „Worüber möchtest du denn heute mit deiner Fangemeinde sprechen?“

„Über Freundschaft“, gab Hanna ihm Auskunft und zog einige Unterlagen aus ihrer großen Umhängetasche. „Ich habe schon was zu diesem Thema vorbereitet.“

Wie an allen fünf Abenden der Woche, an denen Hanna um Mitternacht auf Sendung ging, begrüßte sie ihre Zuhörer mit den gleichen Worten:

„Hallo, liebe Freunde, Nachtschwärmer, Kapitäne der Landstraße und alle, die noch nicht in den Schlaf finden. Hier ist wieder euer Engel der Nacht. Wie immer begleite ich euch in die Morgendämmerung eines neuen Tages. Habt ihr Lust, mit mir zu plaudern, freue ich mich über euren Anruf hier im Sender. Selbst wenn ihr nur jemanden zum Zuhören braucht, seid ihr bei mir richtig. Die heutige Nacht soll ganz unter dem Motto Freundschaft stehen. Habt ihr mir dazu etwas zu sagen? Was versteht ihr unter Freundschaft? Wo hat sie sich bewährt? In welcher Situation hat sie versagt? Ruft mich an unter der Nummer 01805 66 66 66...“

Die Räume im Obergeschoss des Hauses hatte Jakob bezogen. Außer seinem Schlafzimmer und dem Bad befand sich hier eine kleine Stube, in die er sich zurückziehen konnte, wenn er ungestört sein wollte.

Neben einem Bücherschrank stand die Stereoanlage auf einer Kommode. Mitternacht war längst vorüber, als Jakob seine CD-Sammlung einsortierte. Der Klang einer sanften Stimme aus dem Radio ließ ihn innehalten. Das leichte Vibrieren in dem dunklen melodischen Timbre wirkte anziehend und geheimnisvoll. Seltsam berührt drehte Jakob das Radio etwas lauter. Dem Gespräch mit einem Anrufer zufolge nannte sich die Moderatorin Angel oder Engel der Nacht. Diese überirdische Bezeichnung passte durchaus zu der samtweichen Stimme. Interessiert folgte Jakob den Dialogen über Freundschaft, wo- bei ihn die klugen Worte der Frau am Mikrofon ebenso imponierten wie ihre humorvollen Bemerkungen.

Zwischen den einzelnen Telefonaten wurde Musik gespielt. Zur vollen Stunde kamen Nachrichten über den Äther, die einen kurzen Werbeblock ablösten.

Unterdessen machte es sich Jakob mit einem Glas Wein in einem Ohrensessel bequem. Nach dem Verkehrslagebericht erklang wieder die Stimme des Engels der Nacht, die die Zuhörer aufforderte, sich zum Thema Freundschaft zu äußern.

Spontan griff Jakob zum Telefon und tippte die leicht zu merkende Nummer des Senders ein. Beim ersten Versuch war die Leitung besetzt, aber schon beim zweiten wurde er aufgefordert, am Apparat zu bleiben. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Freunde womöglich seine Stimme erkennen würden. Da er jedoch ebenso anonym wie die Moderatorin bleiben wollte, legte er vorsichtshalber ein Taschentuch über die Sprechmuschel des Telefons.

„Hier ist Angel.“ Plötzlich war er auf Sendung. „Mit wem spreche ich?“

„Man nennt mich ... Dracula“, antwortete Jakob scherzhaft.

„Dracula!?“, wiederholte sie mit leisem Spott. „Willst du mir nicht deinen richtigen Namen verraten?“

„Sind Namen nicht nur Schall und Rauch? Oder erzählst du mir, wie deine Mutter dich gerufen hat?“

Hinter der Scheibe des Studios gab der Redakteur der Moderatorin ein Zeichen, das Gespräch abzubrechen. Hanna schüttelte jedoch den Kopf.

„Meine Mutter nannte mich Spatz“, sagte sie gelassen. „Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass eine Mutter ihren kleinen Jungen Dracula gerufen hat.“

„Das hat sie nicht getan“, erklärte Jakob leise lächelnd. „Sie nannte mich Einstein.“

„Deine Mutter hat dich für ein Genie gehalten?“

„So was soll vorkommen.“

„Okay, Dracula“, kam Hanna auf den Tenor der Sendung zurück. „Was hast du uns zum Thema Freundschaft zu sagen?“

„Für mich bedeutet Freundschaft nicht nur das, was die bisherigen Anrufer darunter verstehen. Natürlich sollte sie sich in großer Not bewähren, aber es sind vielmehr die kleinen Gesten, die zählen.“

„Kannst du uns ein Beispiel nennen?“

„Sicher“, sagte Jakob, um keine Antwort verlegen. „Stell dir vor, du hast einen schweren Tag hinter dir, bist müde, freust dich auf ein heißes Bad und ein gutes Buch. Auf dem Heimweg schüttet es wie aus Eimern und du gerätst in einen Stau. Des-halb bist du etwas unwirsch, als dein Handy unterwegs klingelt. Ein Freund sagt ein geplantes Treffen für das Wochenende ab, weil er mit einer schweren Grippe das Bett hütet. Du wünschst ihm gute Besserung und bist froh, dass du endlich nach Hause kommst. Während das Wasser in die Wanne läuft, schenkst du dir ein Glas Wein zur Einstimmung auf einen geruhsamen Abend ein. Das Wissen, dass dein kranker Freund niemanden hat, der sich um ihn kümmert, versuchst du zu verdrängen. Es gelingt dir aber nicht. Mit einem sehnsüchtigen Blick auf die einladende Wanne drehst du das Badewasser ab, ziehst deinen Mantel wieder an und läufst durch den strömenden Regen zur nächsten Apotheke. Beim griechischen Gemüsehändler besorgst du einen Korb frisches Obst. Angesichts der Fluten von oben fragst du dich, weshalb du dir das antust, anstatt dich zu Hause in deiner Badewanne zu entspannen. Als du pitschnass zu deinem Krankenbesuch eintriffst, belohnt dich ein dankbares Lächeln für deine Mühe. Er hätte dich allerdings auch dann seinen Freund genannt, wärst du zu Hause in deiner warmen Stube geblieben.“

„Das klingt wie eine erlebte Geschichte“, sagte Hanna, als der Anrufer schwieg. „Warst du der bazillengeplagte Kranke oder der nasse Besucher?“

„Das ist unwichtig“, lautete die Antwort. „Diese Episode macht deutlich, dass es manchmal schon genügt, die eigenen Bedürfnisse ein wenig zurückzuschrauben, Verantwortung zu übernehmen und Unbequemlichkeiten in Kauf zu nehmen, um jemandem einen kleinen Freundschaftsdienst zu erweisen.“

„Hast du viele Freunde, Dracula?“

„Nicht so viele, wie du Fans hast, Angel. Im Leben kommt es nicht auf die Anzahl der Freunde an. Ein verlässlicher ist mehr wert, als eine ganze Horde, die beim kleinsten Problem kneift.“

„Ist dir das schon passiert? Dass ein sogenannter Freund im entscheidenden Moment um keine Ausrede verlegen war?“

„Mit zunehmenden Alter und einem gewissen Grad an Reife sollte man genug Menschenkenntnis besitzen, um zwischen wahren Freunden und oberflächlichen Zeitgenossen unter-scheiden zu können“, manövrierte er um eine direkte Antwort herum. „Wie sehen denn deine Erfahrungen in dieser Hinsicht aus, Angel? Wirst du deinem Namen gerecht? Immer engelsgleich und täglich mindestens eine gute Tat? Oder passiert es sogar dir, dass du gelegentlich schimpfst wie ein Rohrspatz und deine Mitmenschen zum Teufel wünschst?“

„Das geschieht allenfalls, wenn sie anfangen, zu viele Fragen zu stellen“, gab sie schlagfertig zurück. Es würde ihm nicht gelingen, mehr aus ihr herauszulocken, als sie preiszugeben bereit war. „Nun wollen wir aber noch andere Zuhörer zu Worte kommen lassen. Ich danke dir für dieses interessante Gespräch, Dracula. – Gute Nacht.“

Ohne auf seine Antwort zu warten, unterbrach sie die Verbindung. Während der Sender nun wieder Musik spielte, saß er noch eine Weile nachdenklich in seinem Ohrensessel.

Angel - Engel der Nacht

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