Читать книгу Angel - Engel der Nacht - Eisgräfin - Claudia Rimkus - Страница 12
Kapitel 9
ОглавлениеAm Samstagmorgen wurde Hanna bereits von der gesamten Familie erwartet. Nicht zuletzt deshalb, weil sie frische Brötchen mitbrachte.
„Ihr seid aber früh auf den Beinen“, wunderte sie sich, da auch die Kinder schon am Frühstückstisch saßen. „Hat unser reizender Nachbar heute etwa zu nachtschlafender Zeit Bäume gefällt, oder steht euch ein Verwöhnwochenende bevor?“
„Wir haben ein Date mit dem coolsten Typen der Stadt“, erklärte Anna. „Der hat immer Super-Ideen.“
„Die sollte er als Architekt auch haben“, bemerkte sie trocken und leerte den Inhalt der Tüte in den Brötchenkorb. „Ich gehe jetzt mit Geisha die Morgenrunde. Vielleicht habe ich Glück und kann bei meiner Rückkehr noch einen Blick auf diesen ach, so coolen Typen erhaschen.“
„Oliver wird kaum abfahren, ohne dich zu begrüßen“, meinte Marie. „Immerhin ist er einer deiner größten Bewunderer.“
„Das behaupten viele“, versetzte Hanna achselzuckend im Hinausgehen. „Bis später!“
Jakob zog gerade die Wochenendausgabe der HAZ aus dem Briefkasten, als ein schwarzer Jeep vor seinem Grundstück stoppte. Dem großen Wagen entstieg ein sportlich gekleideter Hüne.
„Guten Morgen“, sprach Jakob ihn an. „Wollen Sie zu uns?“
„Zu Ihren Nachbarn“, verneinte Oliver Mertens. Er sah Hanna mit dem Hund die Straße überqueren, worauf ein Lächeln sein Gesicht erhellte. „Da kommt schon die Frau meiner Träume...“
Zuerst kraulte er Geisha, die vorgelaufen war, um ihn freudig zu begrüßen.
„Hallo, meine Schöne“, wandte er sich dann an Hanna, zog sie in seine Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Wie machst du das nur, dass du bereits am frühen Morgen so fantastisch ausschaust?“
Da Hanna den Nachbarn am Gartenzaun bemerkte, ließ sie Oliver gewähren.
„Man muss nur die ganze Nacht durcharbeiten“, erwiderte sie lächelnd. „Das wirkt Wunder.“
„Folglich sehnst du dich jetzt nach einem Bett“, mutmaßte er schmunzelnd. „Wie wäre es vor dem Einschlafen mit einer entspannenden Massage?“
„Ich fürchte, damit wärst du überfordert“, antwortete sie zu Jakobs Zufriedenheit. „Es dauert Stunden, bis ich einschlafen kann, weil es hier neuerdings in der Nachbarschaft einen merkwürdigen Halbidioten gibt, der die Stille des Samstag- morgens garantiert wieder nutzt, um mit seinem vorsintflutlichen Rasenmäher die Schallmauer zu durchbrechen.“
Wie erwartet wandte sich Jakob verärgert um und marschierte zu seinem Haus zurück.
„Das war er eben wohl?“, vermutete Oliver grinsend. „Der wohnt aber noch nicht lange hier, oder?“
„Seit etwa zwei Wochen“, sagte Hanna auf dem Weg über ihr Grundstück. „Allerdings brauchte er nur wenige Stunden, um sich als Nervensäge zu outen.“
„Vielleicht ist er heimlich in dich verliebt“, zog er sie auf. „Nachbarn sind schließlich auch nur Menschen.“
„Sehr witzig“, kommentierte Hanna. In der Diele nahm sie Geisha das Halsband ab. „Wo seid ihr, Mädels? Euer Erzeuger ist eingetroffen!“
Während die Kinder in ihren Zimmern noch ihre Sachen zusammenpackten, kam Marie aus der Küche.
„Guten Morgen, Oliver“, begrüßte sie ihren Ex, der sie ungeniert musterte. „Was ist?“, fragte sie verunsichert. „Weshalb starrst du mich so an?“
„Irgendwas an dir ist verändert“, sagte er nachdenklich. „Hast du dir etwa einen Freund zugelegt?“
„Und wenn es so wäre?“, antwortete sie schnippisch. „Ginge dich das was an?“
„Logisch“, bestätigte er prompt. „Immerhin bist du die Mutter meiner Kinder. Da möchte ich schon wissen, mit wem du dich ... triffst.“
„Marie hat viele Verehrer“, kam Hanna ihrer Cousine zuvor. „Es hat sich rumgesprochen, dass diese tolle Frau solo ist. Oder glaubst du, deine Geschlechtsgenossen sind blind, Olli?“
„Natürlich nicht“, gab er widerstrebend zu. „Außerdem sollst du mich nicht immer Olli nennen.“
„Ich werde es mir merken..., Olli.“
Da die Mädchen nun die Treppe herunterkamen, verzichtete er auf eine Erwiderung. Liebevoll begrüßte er seine Töchter.
Bald verließ er, von einigen Ermahnungen begleitet, mit seinen Kindern das Haus.
Unterdessen deckte Jakob den Frühstückstisch. Nur mit einer kurzen Pyjamahose bekleidet kam Jonas in die Küche.
„Morgen“, murmelte er und fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar. „Musst du am frühen Morgen schon so laut mit dem Geschirr klappern, dass man vor Schreck fast aus dem Bett fällt?“
„Wenn dir was nicht passt, kannst du dich ja selbst um den Haushalt und um die Versorgung deiner Kinder kümmern!“
„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Hat dich schon vor dem Frühstück jemand geärgert?“ Als Jakob nur kommentarlos abwinkte, lächelte Jonas verstehend.
„Ist es möglich, dass du heute schon unserer reizenden Nachbarin begegnet bist?“
„Zwangsläufig, als ich die Zeitung hereingeholt habe. Frau Flemming war mit ihrem Hund draußen, als dieser komische Typ hier vorgefahren ist...“
„Welcher komische Typ?“
„Ein Verehrer, Lover, neuste Eroberung – oder was weiß ich“, brummte Jakob. „Nur weil er vor unserem Grundstück geparkt hat, habe ich ihn gefragt, ob er zu uns wolle. In diesem Moment überquerte nach seinen Worten die Frau seiner Träume die Straße. Nach der innigen Begrüßung hat er ihr vor dem Einschlafen eine Entspannungs-Massage angeboten.“
„Deshalb bist du sauer? Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“
„Unsinn!“, brauste Jakob auf. „Diese Person würde ich nicht mal geschenkt nehmen!“
„Wo liegt dann das Problem?“
„Sie hat mich ihrem Freund gegenüber als einen merkwürdigen Halbidioten bezeichnet.“
Lachend sank Jonas auf einem Stuhl.
„Ärgerst du dich darüber, dass sie ihm nicht die volle Wahrheit über dich sagte?“
„Herzlichen Dank“, erwiderte Jakob missmutig. „Auch du hältst mich für einen Vollidioten!“ Wütend schnappte er sich die Tageszeitung. „Wahrscheinlich mache ich mich hier tat-sächlich zum Affen, weil ich für euch die Haushälterin spiele. Es wird Zeit, dass du dich nach einer geeigneten Tagesmutter umsiehst.“
„Jakob“, sagte Jonas besänftigend. „Du managst das hier ausgesprochen gut. Niemand urteilt abfällig darüber. Im Gegenteil: Es ist bewundernswert, wie du das trotz deines Berufs meisterst. Leider bin ich in dieser Hinsicht eine völlige Niete.“ Ernst erwiderte er den skeptischen Blick seines Bruders. „Mir ist auch klar, dass es keine Dauerlösung sein kann, wie du dich für meine Kinder aufopferst. Ich hätte längst eine Hilfe engagieren sollen, die sich tagsüber um die Jungs kümmert. Mit der Zeit werden sie sich schon an eine Fremde gewöhnen.“
„Lass es gut sein“, bat Jakob kopfschüttelnd. „Du weißt doch, wie allergisch die drei auf Haushaltshilfen reagieren. Bevor ich das Kommando bei euch übernommen habe, ist es ihnen mühelos gelungen, innerhalb von vier Wochen zwei Haushälterinnen zu vertreiben. Das würden sie auch heute noch problemlos hinkriegen.“
„Wahrscheinlich fürchten Sie, eine Frau im Haus würde irgendwann versuchen, den Platz ihrer Mutter einzunehmen. Selbst wenn ich mal ein weibliches Wesen fände, das einen Witwer mit drei Kindern nähme, hätte das Mädel es verdammt schwer, von den Jungens akzeptiert zu werden.“
„Glaub nur nicht, dass ich dich deshalb heirate“, scherzte Jakob. „Irgendwann, wenn die drei älter sind, werden sie verstehen, dass sich auch ihr Vater wieder nach einer Partnerin sehnt. Bis dahin musst du eben mit mir vorlieb nehmen.“
Am Wochenende waren Marie und Hanna allein im Haus. Nach dem gemeinsamen Mittagessen half Hanna ihrer Cousine im Souterrain bei der Zubereitung eines Buffets für dreißig Personen. Im Ofen brutzelte ein edler Hirschrücken; auf dem Tisch kühlte auf einem großen Blech ein Krustenbraten, Schweinemedaillons und ein ganzes Roastbeef ab.
Marie war mit der Zubereitung einer gigantischen Portion Mousse au chocolat beschäftigt. Unterdessen richtete Hanna nach Anweisung ihrer Cousine nationale und internationale Käsespezialitäten auf einer großen runden Glasplatte an.
Gedankenverloren sang sie dabei den Song aus dem Radio mit.
Deshalb bemerkten sie nicht, dass Jakob schon eine Weile vor der Tür stand. Nicht nur als Musiklehrer gefiel ihm Hannas Stimme, die gefühlvoll die Ballade aus dem Lautsprecher begleitete. Fasziniert lauschte er bis zum Ende der Melodie. Dann machte er sich durch Klopfen an den Türrahmen bemerkbar.
„Herr Dr. Jensen“, sagte Marie lächelnd, während Hanna die letzten Töne verschluckte. „Kann ich was für Sie tun?“
„Verzeihen Sie bitte die Störung, Frau Mertens“, bat er, mit einem großen Korb eintretend. „Wie ich sehe, haben Sie viel zu tun. Nach dem köstlichen Duft in Ihrer Küche zu urteilen, muss das ein ganz besonderes Festmahl werden.“
„Mein Buffet Royal“, erklärte Marie. „Hirschrücken mit gefüllten Birnen und Preiselbeeren, Putenbrust, Krustenbraten, Roastbeef, Schweinemedaillons, Schinkenmett auf Zwiebelbett, verschiedene Aufschnitte und Salate, Fischplatte mit Räucheraal, Lachs und Forellenfilets mit Meerrettich-Rosette, Tiefseekrabben; Riesengarnelen, Hummer sowie andere Delikatessen aus dem Meer, großer Käseplatte...“
„Bitte, hören Sie auf“, unterbrach Jakob sie seufzend. „Mir läuft schon jetzt das Wasser im Munde zusammen.“
„Dann will ich Sie nicht auch noch mit den Desserts quälen“, erwiderte Marie, bevor sie auf seinen Korb deutete. „Was haben Sie denn da mitgebracht?“
„Zutaten für einen Kuchen“, gestand Jakob. „Meine Neffen wollen unbedingt eine Erdbeertorte. Sie muss aber so lecker sein, wie die Ihre vom letzten Wochenende.“ Sein Blick verriet, dass er sich damit reichlich überfordert fühlte. „Im Supermarkt hat man mir zu einem fertigen Tortenboden geraten. Als ich das zu Hause in Angriff nehmen wollte, wurde mir jedoch klar, dass noch irgendwas fehlen muss, da sonst die Erdbeeren vom Kuchen kullern würden. Bei Ihrer Torte war doch auch so ein rotes Zeug drauf.“
„Tortenguss“, sagte Marie amüsiert. „Vorher sollten Sie den Boden mit Sahnesteif bestreuen, damit er nicht so schnell durchweicht.“ Sie warf einen raschen Blick in seinen Korb. „Außerdem sollten Sie die Erdbeeren vor dem Belegen putzen und halbieren.“
„Tortenguss..., Sahnesteif...“, wiederholte er hilflos. „Ich fürchte, das ist zu hoch für mich...“
„Das ist überhaupt nicht schwer“, beruhigte Marie ihn, wobei sie weiterhin in einem großen Topf rührte. „Momentan bin ich hier am Herd leider unabkömmlich, sonst wird mein Dessert ungenießbar.“ Über ihre Schulter schaute sie zu ihrer Cousine hinüber, die tat, als ginge sie das Problem des Nachbarn überhaupt nichts an. „Hanna, sei bitte so lieb und zeig Herrn Dr. Jensen, wie man eine Erdbeertorte zubereitet.“
„Wieso ich?“, protestierte Hanna entsetzt. „Du siehst doch, dass die Käseplatte noch nicht fertig ist.“
„Das kann warten“, meinte Marie. „Wir können die Leckermäulchen von nebenan doch nicht enttäuschen.“
Am liebsten hätte Hanna mit einem Stück Käse nach ihrer Cousine geworfen. Sie bezwang diesen Impuls jedoch und blickte Jakob kühl an.
„Nun geben Sie Ihre Zutaten schon her“, forderte sie ihn auf, worauf er ihr den Korb reichte.
„Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen, Frau Flemming.“
„Das tue ich nur für Ihre Neffen“, ließ sie ihn wissen. „Und für Ihren sympathischen Bruder“, fügte sie hinzu, wobei sie den Korb leerte. „Haben Sie keine Tortenplatte?“
„Nein..., doch...“, stotterte Jakob. „Daran habe ich überhaupt nicht gedacht...“
„Typisch...“, murmelte Hanna, wandte sich um und nahm hinter sich eine Platte aus dem Schrank. Darauf platzierte sie den Tortenboden. Die Erdbeeren schüttete sie in ein Sieb und ließ an der Spüle einen sanften Wasserstrahl darüber perlen. Nach einem Moment des Abtropfens gab Hanna die Früchte auf einige Bogen Küchenkrepp. Aus einem Metallkorb nahm sie je ein Päckchen roten Tortenguss und Sahnesteif. Letzteres ließ sie gleich aus der Tüte gleichmäßig auf den Tortenboden rieseln. Mit einem kleinen Messer entfernte Hanna das Grün der Erdbeeren, halbierte die Früchte und ordnete sie kreisförmig auf dem Kuchen an.
„Sie können gern mithelfen“, sprach sie Jakob an, denn es machte sie nervös, dass er jede ihrer Handbewegungen mit den Blicken verfolgte. Über den Tisch schob sie ihm ein Messer zu. „Learning by doing.“
„Okay, Mrs. F.“ Mit einer Hand nahm er das Messer, mit der anderen eine Erdbeere. „Ich schneide das Grünzeug ab, und Sie belegen den Boden.“
„Seit wann bestimmt der Lehrling den Arbeitsablauf?“, tadelte Hanna ihn ironisch. „Sie sollen hier was lernen, Herr Oberlehrer. Dazu gehört auch die akkurate Anordnung der Früchte.“
„Ihnen bereitet es offenbar eine diebische Freude, mir zu sagen, was ich zu tun habe“, mutmaßte Jakob, während er brav ihrer Anweisung folgte. „Das wünschen Sie sich insgeheim wohl schon länger.“
„Bedauerlicherweise muss ich Sie enttäuschen“, konterte Hanna. „Meine geheimsten Wünsche haben absolut nicht das Geringste mit Ihnen zu tun.“
„Tatsächlich nicht?“ forderte Jakob sie heraus. „Ich hätte schwören können, dass Sie mich in den letzten zwei Wochen nicht nur einmal zum Teufel gewünscht haben.“
„Damit Sie seine Hölle aufmischen? Das hätte selbst der Typ mit dem Pferdefuß nicht verdient.“
Marie stand auf der anderen Seite der großen Küche am Herd, verfolgte aber dennoch das Gespräch in ihrem Rücken. Offenbar konnten die beiden keine fünf Minuten zusammen in einem Raum sein, ohne sich Wortgefechte zu liefern.
Unterdessen stellte Hanna fest, dass Jakob das Messer mit der linken Hand benutzte. Genau wie ihr verstorbener Mann, der ebenfalls Linkshänder gewesen war. Aus einem unerklärlichen Grund ärgerte sie diese Gemeinsamkeit.
Mittlerweile war der Tortenboden fast vollständig belegt. Nur in der Mitte fehlte noch eine Erdbeere. Gleichzeitig wollten Hanna und Jakob die Lücke mit einer halbierten Frucht füllen. Unwillkürlich berührten sich ihre Fingerspitzen. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Blicke, wobei Hanna ihre Hand so abrupt zurückzog, als hätte sie sich verbrannt.
„Nanu“, versuchte Jakob, die peinliche Situation zu überspielen. „Sie haben doch nicht etwa Berührungsängste, Mrs. F?“
„Absolut nicht“, verneinte Hanna völlig ruhig. „Bei manchen Menschen verzichte ich aber lieber auf solche Kontakte. Das ist nur eine Frage der Sympathie.“
„Herzlichen Dank für Ihre schonungslose Offenheit. Auch ich hätte es vorgezogen, Ihre Cousine allein hier anzutreffen.“
„Warum haben Sie nicht gleich gesagt, dass die Nummer mit der Torte nur ein Vorwand war?“ Rasch wischte sie sich die Hände an einem Stück Küchenkrepp ab. „Bin schon verschwunden“, sagte sie noch – und rauschte aus der Küche.
„Diese Frau treibt mich noch in den Wahnsinn“, sagte Jakob. „Wie können Sie es nur mit dieser Person unter einem Dach aushalten, Frau Mertens?“
„Ausgesprochen gut“, erwiderte Marie und schaltete den Herd aus. „Hanna ist eine Seele von Mensch. Sie ist überall sehr beliebt. Mir ist unbegreiflich, weshalb Sie beide so kontrovers aufeinander reagieren.“
„An mir liegt das nicht“, behauptete Jakob. „Im Grunde bin ich ein friedliebender Mensch. Gewöhnlich lasse ich mich nicht so leicht provozieren. Ihre Cousine besitzt jedoch die seltene Gabe, mich in kürzester Zeit auf Hochtouren zu bringen.“
„Umgekehrt verhält es sich anscheinend genauso. Wie Hund und Katze: Wehe, wenn sie einander zu nahe kommen.“
„Offen gestanden hatte ich überhaupt nicht damit gerechnet, Mrs. F. in Ihrer Küche anzutreffen. Hilft sie Ihnen öfter?“
„Manchmal bei großen Aufträgen – wenn es ihre Zeit erlaubt.“
„Haben Sie für solche Fälle nicht eine türkische Aushilfskraft?“, überlegte Jakob, obwohl er sich ungern an die Begegnung mit dieser resoluten anatolischen Dorfschönheit erinnerte. „Bislang habe ich sie hier nur ein einziges Mal gesehen.“
„Suleika ist momentan in ihrer Heimat“, schwindelte Marie. „Deshalb habe ich so viel Arbeit.“ Ein vergnügtes Lächeln erhellte ihre Züge. „Erst mal muss ich aber Ihre Unterrichtsstunde übernehmen.“ Mit einer Hand holte sie einen kleinen Topf aus dem Regal, mit der anderen winkte sie Jakob zu sich. „Kommen Sie, Herr Nachbar. Den Tortenguss dürfen Sie nach meinen Anweisungen herstellen.“
Als Hanna eine halbe Stunde später abermals die Küche betrat, war Jakob verschwunden. Forschend betrachtete sie ihre Cousine, die leise summend in einem Topf rührte.
„Du wirkst so zufrieden, Marie. Hat er dich angebaggert?“
„Selbst wenn es so wäre...“ Mit einem tiefen Seufzer schaute Marie ihre Cousine an. „Ich musste stark bleiben. Obwohl heute eine günstige Gelegenheit wäre: Du gehst abends aus, die Kinder sind bei ihrem Vater... Marie ist allein zu Haus, aber das durfte sie ihrem attraktiven Nachbarn nicht verraten, weil ihre Cousine ihr verboten hat, mit ihm anzubandeln.“
„Wie jetzt?“, fragte Hanna stirnrunzelnd. „Solltest du dich unverständlicherweise zu diesem Mann hingezogen fühlen, bin ich die Letzte, die dir da reinredet. Hör auf dein Herz und lass dich nicht davon beeinflussen, was ich über ihn denke.“
„Sie sind ein Schatz, Mrs. F.“, sagte Marie und küsste sie spontan auf die Wange. „Um ehrlich zu sein, mag ich unseren Nachbarn. – Aber ich bin definitiv nicht in ihn verliebt.“
„Sicher?“
„Ja. Sollte sich das mal ändern, erfährst du es als Erste.“
„Ich kann es kaum erwarten“, erwiderte Hanna erleichtert lächelnd. Suchend schaute sie sich um. „Wo ist denn die Käseplatte geblieben?“
„Die ist inzwischen fertig“, sagte Marie mit Blick auf die große Wanduhr. „Den Rest schaffe ich allein, Hanna. Dagmar wartet bestimmt schon auf dich.“ Fragend hob sie die Brauen. „Weißt du nun eigentlich, in welchem Kostüm du den Maskenball besuchst?“
„Keine Ahnung“, gestand Hanna. „Ich verlasse mich voll und ganz auf Daggi. Hauptsache, niemand erkennt mich. Sonst verliere ich meine Wette.“
„Wenn man eine Freundin hat, die zugleich Masken – und Kostümbildnerin ist, kann eigentlich nichts schief gehen“, vermutete Marie. „Das wird ein teurer Spaß für Sandro.“
„Selbst schuld“, meinte Hanna vergnügt. „Dann verschwinde ich jetzt. Denkst du heute Abend bitte an Geisha?“
„Keine Sorge, ich vergesse unsere Hundedame nicht“, versprach Marie. „Viel Spaß!“
Eine halbe Stunde später traf Hanna im Atelier ihrer Freundin ein. Während ihres Studiums hatte sie mit Dagmar Dietrich und zwei weiteren jungen Frauen in einer WG zusammengewohnt. Seitdem waren sie miteinander befreundet.
„Was hast du dir denn für mich ausgedacht?“, fragte Hanna nach der herzlichen Begrüßung. „Oder verrätst du mir das immer noch nicht?“
„Keine Chance“, verneinte die Freundin geheimnisvoll. „Lass dich einfach überraschen.“
„Okay. – Was soll ich tun?“
„Zieh dich aus.“
„Fangen wir mit der Kostümprobe an?“
„Mit dem Schminken“, verneinte Dagmar abermals, während Hanna schon aus Rock und Bluse schlüpfte. „Den BH auch“, bat sie, so dass die Freundin nur noch einen Spitzenslip trug.
„Setz dich bitte“, bat Dagmar und schob den Stuhl vor dem Schminktisch zurecht. Zunächst legte sie Hanna einen Umhang um. Mit den Händen griff sie in das üppige Haar der Freundin, strich es zurück und fixierte es mit einigen Spangen am Hinterkopf. Anschließend forderte sie Hanna auf, ihren gesamten Schmuck abzulegen. Ohrstecker, Halskette, Armbanduhr sowie die beiden Eheringe wanderten in die Handtasche.
Nun wurde Hannas Teint sanft mit einer Lotion gereinigt, bevor Dagmar die Grundierung auftrug.
In der nächsten Stunde bestritt überwiegend die Maskenbildnerin das Gespräch, da Hanna bei der Arbeit an ihrem Gesicht möglichst keine Miene verziehen durfte.
„Kurze Pause“, sagte Dagmar schließlich, worauf Hanna die Augen aufschlug. Interessiert betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie erkannte sich selbst nicht mehr.
„Eine Schlange“, brachte sie verblüfft hervor. „Das ist unglaublich, Daggi. Wie hast du das gemacht?“
„Ein bisschen modelliert, ein bisschen gemalt...“, antwortete die Freundin lächelnd. „Gefällt es dir?“
„Es ist toll!“ erwiderte Hanna begeistert und betrachtete sich von allen Seiten. Ihre schmale Nase war völlig verschwunden. Dafür wirkte ihr Gesicht nun von den Wangenknochen her breiter und trug die typische Zeichnung eines Reptils. Nur die Mundpartie war noch frei. „Warum hast du diese Maske gewählt? Hältst du mich etwa für eine falsche Schlange?“
„Dann wären wir bestimmt nicht schon so lange befreundet“, tadelte Dagmar sie. „Die Schlange passt insofern zu dir, weil auch du gewandt bist und dich sehr geschmeidig bewegen kannst. Außerdem wolltest du eine außergewöhnliche Maskerade. Soll ich weitermachen, oder hast du Bedenken?“
„Ich vertraue dir voll und ganz.“
Nachdem das Gesicht fertig war, bemalte die Maskenbildnerin Hals und Dekolleté im Schlangenmuster. Anschließend bürstete sie das Haar straff zurück und steckte es flach um Hannas Hinterkopf fest, bevor sie eine Haube im Schlagen-Design darüber zog. Auf Nacken, Schultern und einen Teil des Rückens trug Dagmar wieder Farbe auf.
Nach einer weiteren kurzen Pause zog Hanna zum Kostüm passende halterlose Strümpfe und das hautenge schulterfreie Kleid an. Lange Handschuhe und hohe Pumps im Schlangen-muster vervollständigten das Outfit.
Begeistert drehte sich Hanna vor dem raumhohen Spiegel.
„Du bist ein Genie, Daggi!“
Kritisch beäugte die Freundin sie von Kopf bis Fuß.
„Nirgendwo schimmert deine Haut durch. Trotzdem, irgendwas ist noch nicht perfekt...“
„Was meinst du?“, fragte Hanna, sich abermals betrachtend. „Es ist toll! Kein Mensch wird mich erkennen!“
„Vergiss nicht deine Stimme“, riet Dagmar ihr. „Als Schlange musst du zischelnd sprechen, sonst nützt die beste Maskerade nichts.“ Aus einer Schublade nahm sie zwei weiße Plättchen. „Die befestigen wir mit Spezialkleber innen an deinen Zähnen“, erklärte sie. „Dadurch wirst du richtig schön lispeln, so dass man dich nicht mehr an deiner Stimme erkennen kann.“
„Davon habe is son als kleines Mädsen geträumt“, lispelte Hanna. „Das macht mis so ristis sexy.“
„Genau“, lachte Dagmar, wobei sie die Freundin abermals kritisch musterte. „Es ist dein Slip“, stellte sie plötzlich fest. „Er zeichnet sich deutlich unter dem engen Kleid ab.“
„Dieser gummierte Stoff sitzt ja auch wie eine zweite Haut“, stimmte Hanna ihr nach einem weiteren Blick in den Spiegel zu. „Darunter würde sich sogar ein String-Tanga abzeichnen. Da kann man halt nichts machen.“
„Sicher kann man das“, widersprach Dagmar. „Zieh den Fummel einfach aus.“
„Du meinst, ich soll ohne...? Das ist doch total verrückt!“
„Nun stell dich nicht so an“, forderte Dagmar. „Kein Mensch wird das bemerken.“
„Ich weiß nicht“, zögerte Hanna noch immer. „Bislang war ich noch nie unten ohne unterwegs.“
„Dann ist das heute eben eine Premiere“, sagte Dagmar leichthin. „Mit dem Slip siehst du jedenfalls aus, wie eine Schlange mit Verdauungsproblemen. Er ruiniert das ästhetische Gesamtbild. Zieh das Teil wenigstens probehalber aus, Hanna.“
„Also gut...“ Mit einem Seufzer raffte sie in Kniehöhe den auf beiden Seiten geschlitzten Stoff hoch und schlüpfte aus dem störenden Stück weißer Spitze. Vor dem Spiegel strich sie das Kleid wieder glatt.
„Perfekt“, sagte Dagmar zufrieden. „Genau, wie es sein sollte.“ Rasch griff sie ihre Kamera von einer Kommode. „Ich brauche ein paar Fotos für meine Arbeitsmappe. Dreh dich bitte ganz langsam....“
Auch in diesem Jahr fand der Maskenball im Festsaal der Musikhochschule statt. Die Gäste bestanden aus Professoren, Lehrern, Freunden und Förderern dieser Einrichtung mit ihren Partnern. Hannas verstorbener Mann, ein Musikwissenschaftler, hatte zu seinen Lebzeiten stets an der Organisation dieses Balles mitgewirkt. Auch nach seinem Tod erhielt Hanna eine Einladung zu dieser Feier, nahm an diesem Abend allerdings erst das zweite Mal wieder daran teil.
Bei ihrem Eintreffen herrschte bereits eine ausgelassene Stimmung. Sämtliche Gäste waren phantasievoll kostümiert. Um bis zur Demaskierung um Mitternacht nicht erkannt zu werden, trugen sie entweder das gesamte Gesicht bedeckende Masken oder Dominos über der Augenpartie.
Die als Schlange verkleidete Frau erregte durch das kunstvolle Outfit einiges Aufsehen. Mehrfach wurde sie auf ihr gelungenes Äußeres angesprochen, aber von niemandem erkannt.
Langsam bewegte sie sich durch die fröhliche Menge. Plötzlich wurde sie von einem temperamentvoll mit einer Haremsdame tanzenden Clown angerempelt und taumelte gegen eine breite Brust. Zwei starke Arme bewahrten Hanna vor einem Sturz.
„Sorry“, murmelte sie und blickte zu ihrem Retter auf. Er trug eine Maske mit langem dunklem Bart, buschigen Augenbrauen und einer Adlernase. Unter dem weißen Turban schaute dichtes schwarzes Haar hervor. Seine grauen Augen waren amüsiert auf Hanna gerichtet.
„Meine Gebete wurden erhört“, sagte er mit unter der Maske dumpfer, aber nicht unangenehmer Stimme. „Ich warte schon den ganzen Abend auf dich.“
„Auf mich?“, wiederholte sie in leicht zischelndem Ton. „Warum?“
„Schau mich an“, forderte er sie auf. „Für was hältst du mich?“
Unwillkürlich trat Hanna einen Schritt zurück und musterte ihn. Er trug eine weinrote Weste über dem bloßen gebräunten Oberkörper. Dazu beigefarbene Pumphosen – und war barfuß. Um seinen Hals baumelte eine lange Gummischlange; an dem ebenfalls weinroten Stoffgürtel hing eine Flöte.
„Man könnte dich für einen Fakir halten.“
„Ich bin der weltberühmte Schlangenbeschwörer Abú“, erklärte er feierlich. „Meine Kobra ist nach der langen Reise aus dem Morgenland total erschöpft eingeschlafen. – Aber was ist ein Schlangenbeschwörer ohne Schlange? Wie eine klare Nacht ohne Sterne. Das Schicksal hat uns beide hier zusammengeführt, meine schöne Boa.“
Belustigt blitzte es in Hannas Augen auf.
„Du erwartest doch nun hoffentlich nicht, dass ich in einem Korb verschwinde und erst wieder auftauche, wenn du in deine Flöte bläst?“
„Eine so außergewöhnliche Schlange, wie du es bist, kann gewiss auch ohne Flötenspiel tanzen“, vermutete er und streckte ihr die Hand entgegen. „Darf ich bitten?“
Wortlos legte Hanna ihre Hand in die seine und ließ sich auf die Tanzfläche führen. Während sie sich im Rhythmus der Musik bewegten, überlegte Hanna, wie alt ihr Beschwörer wohl sein mochte. Die Hand, in der ihre Rechte ruhte, war schmal, die Finger feingliederig wie bei einem Pianisten. Das war auf einem Ball der Musikhochschule aber nicht verwunderlich. Hannas Blick wanderte seinen Arm hinauf: glatte, leicht gebräunte Haut, feste Muskeln, erste graue Haare in den dunklen Locken auf der Brust, flacher Bauch.
„Findet das, was du siehst, deine Zustimmung?“
Ohne eine Spur von Verlegenheit schaute Hanna in seine Augen.
„Ich weiß immer gern, mit wem ich es zu tun habe.“
„Was schließt du denn aus dem, was du an mir wahrnimmst?“
„Außer auf deiner Flöte spielst du auch Klavier“, erwiderte sie sachlich, ohne jedoch zu vergessen, ihre Stimme zischelnd klingen zu lassen. „Vermutlich sogar noch andere Instrumente.
Dein Alter schätze ich zwischen vierzig und fünfzig. Du bist selbstbewusst, phantasievoll und kontaktfreudig. Wahrscheinlich hast du beruflich viel mit Menschen zu tun. Ich tippe auf irgendeine Lehrtätigkeit.“ Ihre grünlich geschminkten Lippen umspielte ein Lächeln. „Außerdem durftest du gut. – Hugo Boss oder Safari?“
„Ralph Laurens Safari“, gab er erstaunt zu. „Auch alles andere trifft so ziemlich zu.“ Sein Blick hielt den ihren gefangen. „Kennen wir uns womöglich?“
„Nicht, dass ich wüsste“, verneinte Hanna. „Menschenkenntnis, Lebenserfahrung und eine gute Beobachtungsgabe genügen oft.“ Ihre Augen nahmen einen herausfordernden Ausdruck an. „Jetzt bist du an der Reihe.“
„Das ist bei deiner perfekten Maskerade schwer“, behauptete er. „Trotzdem will ich es versuchen...“ Er hielt sie ein wenig von sich und nahm ihr Bild in sich auf. „Nach deiner biegsamen Figur zu urteilen, bist du jung – sehr jung. Irgendwo in den Zwanzigern. Dagegen sprechen allerdings deine ausgezeichnete Menschenkenntnis und deine Lebenserfahrung. Deshalb bist du womöglich doch schon Anfang dreißig. Jedenfalls hast du mich beinah wie ein Psychologe analysiert. Vielleicht arbeitest du in diesem Metier und hast dich nur zufällig unter uns Musiker verirrt.“ Behutsam zog er Hanna wieder dichter an sich. „Außerdem fühlst du dich gut an – verdammt gut sogar.“
„Letzteres streite ich besser nicht ab“, erwiderte Hanna vergnügt. „Mit deiner restlichen Analyse liegst du allerdings ziemlich daneben.“
Scheinbar entsetzt rollte er hinter seiner Maske mit den Augen.
„Bedeutet das etwa, du bist schon zwischen siebzig und achtzig? Eine Rentnerin mit Gummistrümpfen und Stützkorsett?“
„Jetzt kommen wir der Sache schon näher“, lachte sie. „So viel Gummi wie heute hatte ich noch nie am Körper.“
„Mir gefällt dieses hautenge Outfit“, gab er offen zu. „Läufst du im wirklichen Leben auch so sexy gekleidet herum?“
„Ist das hier nicht das wirkliche Leben?“, tat sie überrascht. „Verstecken sich die meisten Menschen nicht hinter einer Maske, aus Furcht, zu viel von sich selbst preiszugeben?“
„Offenbar schlummert in dir doch eine Madame Freud. – Oder sprichst du von dir? Brauchst du eine perfekte Tarnung? Die einer gefährlichen Schlange: unnahbar, kraftvoll, giftig und unberechenbar? Verbirgst du dahinter ein sensibles, verletzbares Wesen?“
„Schon wieder falsch gedeutet“, entgegnete Hanna ernst. „Es gibt keinen Grund, mich hinter einer Maske zu verschanzen. Ich bin stark, wo ich stark sein muss, versuche aber dennoch sensibel auf meine Mitmenschen einzugehen. Verletzbarkeit betrachte ich übrigens nicht als Schwäche. Wer unverletzbar ist, ist entweder aus Stein oder tot.“ Ihre kühlen, behandschuhten Finger strichen sacht über seine Brust. „Wie sieht es denn hier drinnen aus? Kannst du nur hinter einer Maske ganz du selbst sein?“
„Das würde nicht funktionieren“, war er überzeugt. „Wenn man tagtäglich mit vielen Menschen zu tun hat, muss man aufrichtig sein und zu dem stehen, was man verkörpert. Jedes Heucheln oder Verstellen würde rasch bemerkt und mich völlig unglaubwürdig erscheinen lassen. Deshalb zeige ich meine Ecken und Kanten, anstatt sie vor meiner Umwelt zu verbergen. Kein Mensch hat nur Schokoladenseiten.“
„Heute scheinst du aber viele davon zu haben“, scherzte sie, um das Gespräch wieder in heitere Bahnen zu lenken. „Deine Haut sieht richtig lecker aus. Ist die Bräune echt?“
Er war feinfühlig genug, um ihre Absicht zu durchschauen.
„Teneriffa aus der Tube“, gab er freimütig zu. „Trinkst du ein Glas mit mir, obwohl ich eigentlich ein Bleichgesicht bin?“
„Nur ein Glas? Momentan bin ich in der Stimmung für eine richtige Champagnerorgie.“
„Erst der Champagner“, bestimmte er scheinbar streng. „Über die Orgie verhandeln wir später.“
Es war schon dunkel, als Marie mit Geisha von einem langen Abendspaziergang heimkehrte. Die müde Hündin lief zuerst in die Küche zu ihrem Wassernapf, bevor sie sich in ihrem Korb in der Diele zusammenrollte.
Marie setzte sich an den Küchentisch und blätterte in einem Buch über kreatives Kochen...
Die Sichel des Mondes verschwand hinter einer Wolke. Auf leisen Sohlen schlich ein Mann am Gartenzaun entlang. Plötzlich flankte er über das Hindernis, um nicht in den Schein der Straßenlaterne zu geraten. Seine schwarz gekleidete Gestalt verschmolz mit der Dunkelheit. Ungesehen bewegte er sich über das fremde Grundstück auf das Haus zu, fand die Tür zum Souterrain und drückte die Klinke herunter. Als sie nachgab, schlüpfte er hinein...
Mit einem unwilligen Knurren sprang Geisha auf. Laut bellend blieb sie mitten im Flur stehen, den Blick auf die Treppe zum Souterrain gerichtet. Das Fell in ihrem Nacken stand hoch wie eine Bürste.
„Sei still, Geisha!“, befahl Marie, die aus der Küche kam. Beruhigend klopfte sie dem Tier die Seite. „Bist ein braver Hund“, lobte sie die Wachsamkeit des Boxers. „Da ist nichts. – Geh wieder in deinen Korb.“
Die Hündin rührte sich nicht von der Stelle. Stattdessen ließ sie ein leises Knurren hören.
„Wenn du mich unbedingt beschützen willst, dann komm mit.“
Sie wusste, Geisha würde nicht eher Ruhe geben, bis sie sich davon überzeugt hätte, dass keine Gefahr bestünde. Während Marie noch das Licht einschaltete, stürmte Geisha schon bellend die Stufen hinunter. Marie folgte ihr, war aber erst auf halber Treppe, als der Hund plötzlich verstummte.
Dennoch setzte Marie ihren Weg unerschrocken fort. In der Tür zur großen Küche blieb sie stehen – und lächelte. Geisha stand Schwanz wedelnd vor dem Eindringling und ließ sich von ihm kraulen.
„Geisha scheint ein ausgezeichneter Wachhund zu sein“, sagte er und wandte sich um. „Würde sie mich nicht kennen, müsstest du mich jetzt vermutlich verarzten.“ Zärtlich küsste er Marie auf die Lippen. „Eigentlich könntest du das trotzdem tun. Meine Wunden sind äußerlich zwar nicht sichtbar, aber ich bin schon ganz krank aus Sehnsucht nach dir.“
„Dagegen weiß ich ein wirksames Mittel“, erwiderte sie verheißungsvoll. „Allerdings müsstest du zur Behandlung mit in mein Schlafzimmer kommen.“
„Dir folge ich bis ans Ende der Welt.“
„Da möchte ich gar nicht hin“, ließ sie ihn mit schelmischem Lächeln wissen. „Wie viel Zeit haben wir denn für deine Therapie?“
„Die Kinder schlafen tief und fest – und mein Haushaltsvorstand kommt von einer solchen Veranstaltung erfahrungsgemäß nicht vor zwei Uhr nachts nach Hause.“
„Für meine Mitbewohnerin gilt sicher das gleiche.“ Rasch warf sie einen Blick auf die große Wanduhr. „Uns bleiben fast drei Stunden. So viel Zeit hatten wir lange nicht für uns.“
„Deshalb werden wir sie sinnvoll nutzen“, versprach er und griff nach ihrer Hand. „Führen Sie mich bitte in Ihren Behandlungsraum, Frau Doktor.“
„Mit dem größten Vergnügen, Herr Patient.“
Für Hanna verlief der Kostümball anders als im Jahr zuvor. Außer der üblichen oberflächlichen Konversation hatte sie er- wartet, ein bisschen zu tanzen, ein wenig zu flirten, um den Alltag für eine Weile zu vergessen. Mit einem Schlangenbeschwörer, der den ganzen Abend nicht von ihrer Seite weichen würde, hatte sie nicht gerechnet. Abú erwies sich als ausgezeichneter Tänzer, verstand es, amüsant zu plaudern, war aufmerksam und besaß gute Manieren. Sein Humor war dem ihren sehr ähnlich: schlagfertig, manchmal hintergründig, aber niemals aufdringlich oder anzüglich. Ein Mann zum Verlieben... Leise lachte Hanna über sich selbst. Sie kannte weder sein Gesicht noch strebte sie eine engere Beziehung an. Seit dem Tod ihres Mannes war sie gezwungen, sich ihr Leben ohne seine Liebe einzurichten. Im Laufe der Zeit hatte sie ihre Unabhängigkeit sogar zu schätzen gelernt. So mancher attraktive Mann hatte seitdem ihren Weg gekreuzt und sie umworben. Keiner von ihnen hatte jedoch den Wunsch in ihr geweckt, ihr restliches Leben mit ihm zu teilen. Selbst wenn er sich noch so gut anfühlte, dachte Hanna und löste sich etwas von ihrem Tanzpartner, um ihm in die Augen schauen zu können. Ihre Blicke versanken ineinander. Behutsam zog Abú sie wieder enger an sich.
„Es ist, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen“, flüsterte er an ihrem Ohr. „Du fügst dich so perfekt in meine Arme, als hättest du nie woanders hingehört.“
„Weil ich mich bei dir wohlfühle“, gab sie offen zurück. „Sehr wohl sogar.“
Er schaute sie an, als wolle er sagen: Verschwinden wir von hier.
„Eine gute Idee“, antwortete sie und nahm seinen Arm. „Hier ist es so warm. Lass uns eine Weile nach draußen gehen.“
Durch das Gedränge geleitete er Hanna zu den weit geöffneten Flügeltüren, die ins Freie führten. Tief atmete Hanna die klare Nachtluft ein. Schweigend schlenderten sie nebeneinander durch den dunklen Park. Hinter einer hohen Baumgruppe lag ein kleiner Pavillon. Aus einem Mauerspalt neben der Tür fischte Abú den Schlüssel und sperrte auf.
Drinnen war es stockfinster; man konnte die Hand nicht vor Augen sehen.
„Es gibt hier keinen Strom“, sagte Abú, während er die Tür von innen schloss. Er tastete nach Hanna und zog sie an sich. „Fürchtest du dich?“
„Nein...“
Sie hörte, dass er die Maske vom Kopf zog. Gleich darauf spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund. Sein Kuss war so leidenschaftlich, dass Hanna erschauerte. Sie spürte seinen harten Körper dicht an dem ihren, fühlte, in welchen Zustand ihre Nähe ihn versetzt hatte.
Urplötzlich gab Abú sie frei.
„Sorry“, sagte er mit vor Erregung heiserer Stimme. „Es ist schon einige Zeit her... Deshalb die prompte Reaktion...“
„Ich dachte schon, es läge an mir...“
„Natürlich liegt es an dir“, versicherte er ihr. „Nur an dir. Aber ich möchte dich nicht erschrecken. Wenn du nun lieber in den Saal zurück möchtest...“
Ihre Hände tasteten nach seinem Gesicht, umrahmten es sanft.
„Jetzt noch nicht...“, flüsterte sie und küsste ihn zärtlich. Ihre behandschuhten Finger schlüpften unter seine Weste, strichen kühl über seine Haut.
Auch seine Hände blieben nicht untätig. Begehrend streichelten sie über ihren bloßen Rücken, glitten zu ihren Hüften und pressten sie an sich.
„Wenn du mich jetzt nicht stoppst“, murmelte er rau, “kann ich für nichts mehr garantieren...“
„Ich will dich“, flüsterte Hanna. Obgleich sie kaum noch klar denken konnte, wurde ihr bewusst, dass sie kein Risiko ein-gehen durfte. „Hast du zufällig ein Kondom dabei?“
„Ja“, gestand er. „Als verantwortungsvoller...“
„Schon gut“, unterbrach sie ihn, wobei sie ungeduldig an seinem Hosenbund nestelte. Ihre Lippen liebkosten seine Brust. Als seine Hose fiel, raffte sie ihr Kleid hoch. Dabei stieß sie gegen einen Tisch und lehnte sich dagegen.
Nach einem Moment war auch Abú soweit. Er streckte die Hände nach Hanna aus, bekam sie an den Schultern zu fassen und küsste die Schlangenfrau stürmisch. Seine Lippen glitten ihren Hals hinab und vergruben sich in ihrem Dekolleté. Gleichzeitig strich seine Linke ihr rechtes Bein hinauf, bis sie zarte warme Haut fühlte.
Hanna konnte sich nicht erinnern, jemals etwas derart Prickelndes erlebt zu haben. Sich einem Mann, den sie kaum kannte, dessen Gesicht sie nie gesehen hatte, in absoluter Dunkelheit hinzugeben, empfand sie als ungeheuer erregend. Seine Hände schienen plötzlich überall zu sein. Sie seufzte leise und drängte sich an ihn. Dadurch signalisierte sie ihm ihre Bereitschaft. Mit einem tiefen Stöhnen drang er in sie ein. Schnell fanden sie denselben Rhythmus, steigerten gegenseitig ihre Lust. Sie konnten einander nicht sehen – nur fühlen. Das taten sie mit einer nie erlebten Intensität, die sie beide unausweichlich auf den Gipfel der Leidenschaft katapultierte.
Eng umschlungen verhielten sie, bis ihr Atem sich allmählich beruhigte.
„Wer bist du?“ fragte er und strich mit den Fingerspitzen über ihre Schulter. „Sag mir, wie du heißt."
„Ich bin nicht wirklich“, behauptete sie, um ihre Anonymität zu wahren. Sanft löste sie sich aus seinen Armen. Mit wenigen Handgriffen brachte sie ihr Kleid in Ordnung. „Diese Nacht war einmalig.“
„Aber ich will dich wiedersehen! Auf dich habe ich ein Leben lang gewartet.“
„Ich bin nur eine Illusion.“ Vorsichtig tastete sie sich zur Tür, fand die Klinke und schlüpfte hinaus.
„Warte!“, rief Abú ihr nach, aber sie reagierte nicht.
Anstatt in den Festsaal zurückzukehren, wandte sich Hanna nach rechts und lief über den Rasen zu einem Pfad, von dem sie wusste, dass er zur Straße führte. Derweil Abú in der Dunkelheit des Pavillons seine Kleider zusammensuchte, stieg Hanna in ein Taxi.
Im Atelier der Freundin stellte sie sich unter die Dusche und wusch die Farbe von ihrer Haut.
Unterdessen suchte Abú im Festsaal unter den mittlerweile demaskierten Gästen nach der Schlangenfrau, konnte sie aber nirgends entdecken. Enttäuscht ging er hinauf in das Büro eines befreundeten Professors und zog sich um.
Mit einem zufriedenen Seufzer schmiegte sich Marie an ihren Geliebten.
„Wäre es nicht schön, wenn wir jede Nacht zusammen in meinem Bett verbringen könnten? Ich möchte abends neben dir einschlafen und morgens neben dir erwachen.“
„Wenn das so einfach wäre, Marie.“ Sanft küsste er sie auf die Schläfe. „Wären wir beide frei und ungebunden...“ Er ließ offen, wir ihr Leben dann aussähe. „Wir müssen nun mal Rücksicht auf unsere Familien nehmen, sonst landen wir in einem totalen Chaos.“
Abermals löste sich ein Seufzer von ihren Lippen.
„Ich weiß.“ Sie richtete sich etwas auf, um ihm in die Augen schauen zu können. „Wüssten meine Mädchen, was ich hier treibe, während sie bei ihrem Vater sind, würden sie wahrscheinlich gar nicht mehr nach Hause wollen. Insgeheim hoffen sie vermutlich immer noch, dass Oliver und ich irgendwann wieder zusammenkommen.“
„Und du?“ Ernst, fast besorgt erwiderte er ihren Blick. „Bist du wirklich über ihn hinweg, Marie? Oder empfindest du noch etwas für ihn?“
„Das war schon vor unserer Trennung vorbei“, beruhigte sie ihn. „Oliver war als Architekt immer viel unterwegs. – Und er hat nicht gern allein geschlafen. Vielleicht waren seine Affären für ihn tatsächlich bedeutungslos, aber mir haben sie sehr wehgetan. Trotz seiner Beteuerungen ist es immer wieder passiert. Irgendwann konnte ich ihm nicht mehr glauben. Mit dem Vertrauen sind auch meine Gefühle für ihn gestorben.“
„Wie kann man nur eine so wundervolle Frau, wie du es bist...“
„Mist!“ unterbrach Marie ihn und schlug die Decke zurück. „Das klingt wie ein Taxi...“ Mit einem Satz war sie aus dem Bett. Splitternackt blieb sie hinter der Gardine stehen. „Das ist Hanna! Du musst verschwinden!“
„Wie denn?“ Rasch sprang auch er auf und stieg in seine Hosen. „Soll ich etwa aus dem Fenster hechten, um ihr nicht zu begegnen?“
„Wir müssen warten, bis sie nach oben geht.“ Hastig schlüpfte sie in ihren Morgenmantel, lief zur Tür und schaltete das Licht aus. Angestrengt lauschte Marie auf die Schritte ihrer Cousine.
Hanna begab sich nach Betreten des Hauses jedoch nicht gleich in ihr Schlafzimmer. Zuerst verlangte Geisha ihr Recht. Die Hündin freute sich, als hätte sie Hanna wochenlang nicht gesehen.
„Hast du mich so sehr vermisst?“ Liebevoll kraulte sie das Tier hinter den Ohren. „Wollen wir noch eine Runde gehen?“
Sofort lief Geisha erwartungsvoll zur Tür. Hanna legte ihr noch das Halsband um und griff sich eine Jacke und die Leine von der Garderobe, ehe sie das Haus verließen.
Als Marie die Tür klappen hörte, trat sie noch einmal ans Fenster.
„Sie unternimmt noch einen Spaziergang mit Geisha“, sagte Marie erleichtert. „Komm, ich lasse dich unten im Souterrain raus.“
Die Straße lag wie ausgestorben. Zügig ging Hanna mit der Hündin in die gewohnte Richtung. An der ersten, mit Gras bewachsenen Stelle um einen Baum verrichtete Geisha ein kleines Geschäft. Noch ehe Hanna ihn bemerkte, witterte das Tier einen Artgenossen. Abwartend blieb Geisha stehen. Ihr Blick wechselte zwischen Hanna und dem kleinen Hund, der nun in den Lichtkegel einer Laterne lief.
„Du bleibst hier!“, befahl Hanna leise und leinte die Hündin an. „Wir wollen erst mal sehen, mit wem dein Freund Gassi geht.“
Langsam gingen sie weiter, bis Pavarotti sie erreichte. Während sich die Hunde beschnüffelten, schlenderte der Besitzer des Jack-Russel-Terriers gemächlich auf sie zu.
„Guten Abend, Mrs. F.“, begrüßte er Hanna erstaunt. „So spät noch unterwegs? Haben Sie keine Angst, mitten in der Nacht irgendwelchen bösen Buben zu begegnen?“
„Falls Sie sich damit meinen, muss ich Sie enttäuschen, Herr Dr. Jensen. Sie wirken völlig ungefährlich auf mich.“
„Der Schein trügt manchmal“, gab Jakob zu bedenken. „Allerdings würde ich mir mein Opfer sorgfältig auswählen. Sie kämen vermutlich nicht einmal in die engere Wahl. Ich bevorzuge warmherzige, anschmiegsame Wesen.“
„Damit habe ich absolut kein Problem“, erwiderte sie leicht-hin. „Im Übrigen können Sie mich heute auch nicht mit noch so freundlichen Worten ärgern. Dazu bin ich in viel zu guter Stimmung.“
„Die Sie wahrscheinlich einem Mann verdanken“, mutmaßte er, wobei er Geisha die Flanke klopfte. „Wer war denn der bedauernswerte Kerl?“
„Bedauernswert?“, spottete die Dame am anderen Ende der Leine. „Er hat diese Nacht mindestens so wie ich genossen.“
„Trotzdem werden Sie ihn nicht wiedersehen“, war Jakob überzeugt. „Wie ich Sie einschätze, haben Sie bei ihm nur Ihre Libido gestillt und ihm anschließend einen Tritt versetzt.“
„So etwas macht man allenfalls mit einem Typen, der sich ständig aufbläst wie ein Gockel auf Extasy“, konterte sie, denn ihr Liebesleben ging ihn überhaupt nichts an. „Mein Gespiele war jedoch ein richtiger Mann“, konnte sie sich dann doch nicht verkneifen, zu bemerken. „Deshalb werde ich schon in wenigen Stunden mit ihm zusammen frühstücken. – Im Bett, falls Sie es genau wissen möchten.“
Jakob verstand die Anspielung und ärgerte sich darüber, dass sie ihn offenbar für einen kompletten Versager hielt.
„Sie glauben, dass Sie die Einzige sind, die sich diese Nacht mit erotischen Spielchen versüßt hat“, sagte er triumphierend. „Weit gefehlt, meine Liebe! Auch ich war in den letzten Stunden nicht untätig! Das war ein einmaliges Erlebnis!“
„Zum einen bin ich nicht Ihre Liebe“, versetzte Hanna ihm einen Dämpfer. „Zum anderen muss ich Ihnen wohl gratulieren, dass es ein Mann mit Ihrer unvergleichlichen Art überhaupt geschafft hat, eine Frau zu überreden, mit ihm in die Horizontale zu gehen.“
„Dazu musste ich sie nicht überreden!“ betonte Jakob. „Im Gegenteil: Sie war ganz wild auf mich!“
„Was Sie nicht sagen...“ Diese Vorstellung schien Hanna offensichtlich zu erheitern. „War sie blind, oder war es so finster, dass sie nicht erkennen konnte, mit wem sie sich einließ?“
„Sie wollte mich!“ erregte sich Jakob. „Nur mich! Das können Sie wohl nicht verstehen!?“
„Beileibe nicht“, gab sie zu. „Aber da das heute Ihr Glückstag zu sein scheint, sollten Sie die Dame festhalten.“
„Das ist unmöglich...“ Seine Augen schauten plötzlich so traurig, dass er Hanna beinah Leid tat. „Wir werden uns nicht wiedersehen...“
„Ach!?“ Forschend musterte sie ihn. „Versetzte sie Ihnen einen Tritt oder umgekehrt? – Sie brauchen gar nicht zu antworten“, schloss sie aus seiner finsteren Miene. „Deshalb also unterstellten Sie mir eben das gleiche! Ziehen Sie gar nicht in Erwägung, dass es womöglich an Ihnen liegen könnte? Dass Sie einfach nicht der Typ sind, den man wiedersehen möchte?“
„Was bilden Sie sich eigentlich ein?“, brauste Jakob auf. „Sie haben doch überhaupt keine Ahnung...“
Geishas lautes Knurren ließ ihn verstummen.
„Schon gut, Geisha“, beruhigte Hanna die Hündin. „Er bellt, aber er beißt nicht.“
Ohne Hanna noch eines Blickes zu würdigen, nahm Jakob seinen kleinen Hund auf den Arm und ging mit langen Schritten davon.
„Wer austeilt, sollte auch einstecken können“, murmelte Hanna und ließ Geisha wieder von der Leine.
Jakob war ziemlich geladen, als er nach Hause kam. Ärgerlich warf er die Haustür ins Schloss und marschierte schnurstracks ins Wohnzimmer. Sein Bruder saß auf dem Sofa und zappte durchs Fernsehprogramm.
„Wo warst du vorhin?“, fragte Jakob statt einer Begrüßung vorwurfsvoll. „Als ich nach Hause gekommen bin, waren die Kinder mit dem Hund allein.“
„Ich habe mir nur die Füße vertreten“, rechtfertigte sich Jonas. „Mit Pavarotti war ich gegen elf Uhr draußen – und die Jungs haben längst geschlafen.“
Scharf fixierte Jakob seinen Bruder.
„Du warst nicht zufällig bei unserer Nachbarin?“
„Bei unserer Nachbarin?“, wiederholte Jonas irritiert. „Wie kommst du denn darauf?“
„Zufällig habe ich sie eben noch mit ihrem Hund getroffen. Die Flemming scheint einen neuen Lover zu haben.“
„Und was hat das mit mir zu tun?“
„Tu doch nicht so scheinheilig.“ Jakob nahm ein Glas aus dem Schrank und schenkte sich einen Cognac ein. „Erst vor wenigen Tagen hast du davon geschwärmt, was für eine tolle Frau sie angeblich ist: so intelligent, humorvoll und überaus attraktiv. Womöglich hast du meine Abwesenheit benutzt, um die Festung sturmreif zu schießen.“
„Hast du mich nicht ermahnt, die Finger von ihr zu lassen?“ Grinsend streckte Jonas die Hände vor. „Überzeug dich doch selbst: keine Brandblasen.“
Schwer ließ sich Jakob in einen Sessel fallen.
„Bedeutet das, du hattest keine Gelegenheit, dich an ihr zu verbrennen? Oder befindest du dich noch in einem Zustand geistiger Umnachtung, nachdem deine Eroberung bislang ohne sichtbare Blessuren geblieben ist?“
„Leider war ich nicht der Glückspilz, den sie erhört hat. Seit dem Abendspaziergang bin ich ihr nicht mehr begegnet.“ Jungenhaft zwinkerte er ihm zu. „Hätte ich ihre Nähe suchen sollen, um dir einen Grund zu liefern, mit deinem kleinen Bruder zu schimpfen?“
„Sorry, aber diese Frau ist wie ein rotes Tuch für mich.“
„Sie reizt dich“, nickte Jonas verstehend. „Hätte sie dir nicht von Anfang an Kontra gegeben, würdest du sie vermutlich mit anderen Augen sehen.“
„Möglich“, räumte Jakob ein. Versonnen blickte er in sein Glas. „Trotzdem ist sie ein unscheinbares Wesen im Vergleich zu der Frau, die ich heute Abend kennen gelernt habe...“
„Es hat dich erwischt!?“ Es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage. „Erzähle!“
„Da gibt es nicht viel zu berichten“, meinte Jakob deprimiert.
„Mir war vom ersten Augenblick klar, dass sie was ganz Besonderes ist: klug, unglaublich sexy und witzig. Wir haben uns auf Anhieb großartig verstanden, obwohl sie mindestens fünfzehn Jahre jünger ist als ich. Zwischen uns war überhaupt nichts Fremdes...“
„Und?“, fragte Jonas gespannt, als sein Bruder schwieg. „Wer ist sie?“
„Keine Ahnung“, gab Jakob zu. „Ihren Namen hat sie mir leider nicht verraten. Wahrscheinlich ist sie verheiratet.“
„Dann hast du schlechte Karten“, sagte Jonas mitfühlend. „Ein so großer Altersunterschied brächte ohnehin Probleme mit sich. Vergiss sie besser.“
„Mir bleibt eh keine Wahl.“ Jakob leerte sein Glas in einem Zug. „Ich gehe ins Bett“, beschloss er, obgleich er ahnte, dass er nicht würde schlafen können.