Читать книгу Angel - Engel der Nacht - Eisgräfin - Claudia Rimkus - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеAm kommenden Morgen war Marie schon zeitig mit Geisha unterwegs. Auf dem Heimweg begegneten sie Jakob und Pavarotti.
„Guten Morgen, Frau Mertens“, begrüßte Jakob sie, während sich die Hunde neugierig beschnüffelten. „So früh schon auf den Beinen?“
„Bei meiner Cousine wurde es in der letzten Nacht sehr spät, deshalb habe ich sie schlafen lassen.“
„Auch ich war gestern auf dieser Party. Ihre Cousine war mächtig in Fahrt. Ist sie immer so temperamentvoll?“
„Aber hallo. Wehe, wenn sie losgelassen.“
„Haben Sie Ihrer Cousine eigentlich von dem gestrigen Attentat auf mich berichtet?“
„Ja – wieso?“
„Weil sie mir gedroht hat, mich mit bunten Papierkugeln zu erschießen, falls ich es heute wieder wagen sollte, ihren Schönheitsschlaf zu boykottieren.“
„An Ihrer Stelle würde ich diese Warnung ernst nehmen“, riet Marie ihm vergnügt. „Hanna steht immer zu ihrem Wort.“
„Das habe ich befürchtet“, seufzte Jakob. „Darf ich Sie und Ihre Familie heute Nachmittag zum Kaffee einladen, Frau Mertens? Bei dieser Gelegenheit könnten Sie auch endlich meinen Bruder kennenlernen.“
„Ist der denn so toll, dass ich unbedingt seine Bekanntschaft machen müsste?“
„Die Damenwelt ist jedenfalls überzeugt davon. Wahrscheinlich kann er sich deshalb nicht für eine entscheiden. Dabei bräuchten die Jungens dringend wieder eine Mutter.“
Skeptisch blickte Marie zu ihm auf.
„Sie spielen doch nicht etwa mit dem Gedanken ...“
„Keine Sorge“, unterbrach Jakob sie kopfschüttelnd. „Sie entsprechen leider überhaupt nicht seinem bevorzugten Typ. Jonas steht mehr auf diese aufgebrezelte, perfekt gestylte Spezies. Jemand so erfrischend natürlich Weibliches passt nicht in sein Beuteschema.“
„Dann kann ich Ihre Einladung wohl beruhigt annehmen“, schloss Marie aus seinen Worten. „Darf ich den Kuchen beisteuern? Ich backe heute ohnehin noch.“
Hanna schlief wie ein Baby. Kein lautes Geräusch riss sie aus ihren Träumen. Erst gegen Mittag drangen Töne in ihr Bewusstsein. – Brahms, dachte sie benommen und schlug die Augen auf. Wohlig streckte sie sich unter der Decke. Durch die geöffnete Terrassentür wehte leise das Wiegenlied zu ihr herein. Um zu erkunden, wer um diese Stunde ein Schlaflied auf dem Klavier spielte, stand Hanna auf und ging auf den Dachgarten hinaus. Ein Blick zum Nebenhaus genügte wieder einmal. Ihr Lieblingsnachbar saß im Erdgeschoss vor dem weit geöffneten Fenster am Flügel.
Als er Hanna auf der Dachterrasse entdeckte, nickte er freundlich zu ihr hinauf, wobei er zu einer anderen Melodie wechselte: You are my sunshine...
„Jetzt ist er völlig abgedreht...“, murmelte Hanna und tippte sich an die Stirn. Daraufhin erklang von gegenüber der Schlager: Ein bisschen Spaß muss sein...
Spinner, dachte Hanna und kehrte in ihr Schlafzimmer zurück.
Im Jogginganzug kam sie später herunter. Ihre Cousine saß mit ihrer jüngsten Tochter beim Memoryspiel auf der Terrasse. Zu ihren Füßen lag Geisha dösend in der Sonne. Der Hund war jedoch sofort hellwach, als Hanna ins Freie trat. Erwartungs- voll hob das Tier den Kopf.
„Na, ihr drei Süßen“, sagte Hanna lächelnd. „Wer gewinnt?“
„Wer wohl?“, antwortete Marie. „Mit Lisas phänomenalem Gedächtnis kann ich nicht mithalten.“
„Du hast zu viele andere Dinge im Kopf“, vermutete Hanna. „Lass doch mal die Seele baumeln.“ Behutsam legte sie die Hand auf die Schulter des Kindes. „Hast du Lust, mich und Geisha zu begleiten, Lisa? Du könntest deinen Roller nehmen und mit uns eine Runde drehen. Bestimmt kommen wir dabei an einer Eisdiele vorbei. Inzwischen kann deine Mama ein Weilchen entspannen.“
Ohne zu zögern sprang das Mädchen auf.
„Ich hole mein Kickboard!“
„Beeil dich“, rief Hanna ihr nach. „Und du, stell dich nicht gleich wieder in deine Küche, Marie. Schließ die Augen, und lass dich einfach nur von der Sonne bescheinen.“
„Aye, aye, Sir“, erwiderte Marie dankbar, wobei sie sich an eine imaginäre Mütze tippte. „Aber nur, wenn du heute Nachmittag mit uns kommst.“
„Wohin soll es denn gehen?“
„Unsere neuen Nachbarn haben uns zum Kaffee eingeladen.“
Skeptisch hob Hanna die Brauen.
„Wozu soll das gut sein?“
„Damit sich alle Familienmitglieder gegenseitig kennen lernen. Auch den anderen Jensen-Bruder.“
„Muss das sein?“ fragte ihre Cousine wenig begeistert. „Die Bekanntschaft mit einem Jensen genügt mir vollkommen. Außerdem muss ich mich um meine Fanpost kümmern. Es genügt doch, wenn du mit den Mädchen zum Kaffeeklatsch gehst.“
„Kommt nicht in Frage“, bestimmte Marie. „Die Einladung galt ausdrücklich auch für dich. Ich habe bereits für uns alle zugesagt. Ein Stündchen kannst du gewiss erübrigen. Dann kommst du auch in den Genuss eines mit Vanillecreme gefüllten Streuselkuchens.“
„Das nennt man Bestechung“, seufzte Hanna. „Beim Joggen denke ich darüber nach, ob ich diesen Lärmbelästiger schon wieder ertragen kann.“
Am Nachmittag verließen die Cousinen mit den drei Mädchen und dem Familienhund das Haus. Hanna trug die Platte mit dem gefüllten Streuselkuchen; Marie hielt einen großen Teller mit Käsekuchen in den Händen. Die Erdbeertorte wurde von Anna transportiert; die Schüssel mit der Schlagsahne durfte Lisa tragen.
„Müssen wir da wirklich mit?“, fragte Sara zum wiederholten Mal lustlos. „Kaffeeklatsch ist tierisch langweilig. Außerdem sind Jungs doof.“
„Nun hör endlich auf zu maulen, Sara“, wies Marie ihre Tochter zurecht. „Man sollte sich immer um ein gutes Verhältnis zu seinen Nachbarn bemühen. Beim Basketball habt ihr euch doch auch verstanden.“
„Das war nur eine sportliche Herausforderung. – Mehr nicht.“
„Warte es doch erst mal ab“, schlug Hanna vor. „Sogar ich komme mit – obwohl ich mit einem Mitglied dieser Familie auf Kriegsfuß stehe. Wir bringen das jetzt hinter uns – okay?“
„Wenn es unbedingt sein muss“, grummelte Sara und folgte den anderen durch das Gartentor des Nachbargrundstücks.
Jakob erwartete sie bereits vor der Haustür. Er ließ sich seine Verwunderung darüber nicht anmerken, dass auch Hanna dabei war. Insgeheim hatte er damit gerechnet, dass sie sich durch ihre Cousine entschuldigen lassen würde.
„Herzlich willkommen“, begrüßte er die Gäste freundlich. „Darf ich Sie gleich um das Haus herum führen? Wir haben auf der Terrasse gedeckt.“
Dort waren zwei große runde Tische mit allem hergerichtet, was eine gemütliche Kaffeetafel ausmachte. Nur der Kuchen fehlte.
Der Nachwuchs beider Familien begrüßte sich zurückhaltend.
Offenbar hielt sich auch die Begeisterung der Jungen über den Mädchenbesuch in Grenzen. Jakob stellte seine Neffen vor und bot den Damen Platz an.
„Schön, dass Sie mitgekommen sind, Frau Flemming“, wandte er sich an Hanna. „Habe ich auch das der Anziehungskraft meiner Glücksstiefel zu verdanken?“
„Mit Sicherheit nicht“, verneinte sie kopfschüttelnd. „Thomas hat gestern erwähnt, dass Sie einen unglaublich sympathischen Bruder haben. Das wiederum erscheint mir unvorstellbar. Deshalb betrachte ich Ihre Einladung als Gelegenheit, zu überprüfen, ob Sie beide tatsächlich so verschieden sind.“
„Herzlichen Dank“, brummte Jakob. „Anscheinend habe ich mich heute vergeblich bemüht, Ihrem Schlafbedürfnis gerecht zu werden.“
„In dieser Hinsicht erscheinen Sie mir merkwürdigerweise lernfähig“, lenkte sie ein. „Obgleich Ihre musikalische Darbietung ein bisschen zu gut gemeint war. – Besonders, die Auswahl der Stücke.“
„Ich gelobe feierlich, mich zu bessern“, erwiderte er versöhnt und deutete auf seinen Bruder, der eben die Terrasse betrat. „Das ist der Sympathieträger der Familie. Hoffentlich entspricht er Ihren Erwartungen, Frau Flemming.“
„Er übertrifft sie sogar“, konnte sie sich nicht verkneifen, zu bemerken. Jonas Jensen wirkte tatsächlich auf Anhieb sehr anziehend. Er strahlte etwas Jungenhaftes aus.
Jakob übernahm es, seinen Bruder mit den Nachbarinnen bekanntzumachen.
Während er sich zu ihnen setzte, bewunderte Jonas das kunstvoll verzierte Gebäck.
„Haben Sie das alles selbst gebacken, Frau Mertens?“, wandte er sich an Marie. „Sie müssen den ganzen Vormittag damit zugebracht haben.“
„Wenn man ständig in Übung ist, geht einem das leicht von der Hand.“
„Mein Bruder hat erzählt, dass Sie nebenan einen Partyservice betreiben.“ Damit schien sein Interesse an Marie schon erloschen. Lächelnd schaute er Hanna an. „Beschäftigen Sie sich ebenfalls mit der Zubereitung kulinarischer Köstlichkeiten, Frau Flemming?“
„Überwiegend mit der Konsumierung“, erwiderte sie. „Bei einem Kochgenie in der Familie bleibt einem keine andere Wahl, als auf der anderen Seite zu kämpfen.“
„Wie ich gehört habe, arbeiten Sie nachts“, fuhr Jonas fort. „Darf ich fragen, in welchem Gewerbe Sie tätig sind?“
„Ich bin Redakteurin“, nannte sie die offizielle Bezeichnung ihrer Tätigkeit. „Und Sie?“
„Mein Schreibtisch steht bei der Norddeutschen Landesbank“, gab er ihr bereitwillig Auskunft. „Für welches Ressort schreiben Sie? Politik? Wirtschaft? Sport? Und für welche Zeitung?“
„Für keine mehr. – Früher war ich bei der HAZ, aber seit zwei Jahren bin ich beim Rundfunk“, kam sie seiner nächsten Frage zuvor. „Als Nachrichtenredakteurin bei Radio 2000.“ Auf diesem Posten hatte sie damals tatsächlich beim Sender angefangen. „Ein sehr interessantes Aufgabengebiet.“
„Demnach arbeiten Sie mit Thomas’ Bruder zusammen“, folgerte Jakob ziemlich überrascht aus ihren Worten. „Da ist es nur logisch, dass Sie die Identität des Engels der Nacht sehr wohl kennen.“
„Die Nachrichtenredaktion ist in einem anderen Gebäudeteil untergebracht“, erklärte sie geduldig. „Von den vielen Mitarbeitern des Senders weiß nicht mal eine Handvoll, wer Angel wirklich ist.“ Ihre grünen Augen fixierten ihn eindringlich. „Warum interessieren Sie sich eigentlich so sehr für sie? Haben Sie einen Hang zum Überirdischen? Oder sind Sie ein Amateur-Sherlock-Holmes, der immer alles genau wissen muss?“
„Das verstehen Sie nicht“, lautete seine absichtlich arrogante Antwort. „Immerhin sind Sie eine Frau.“
„Je mehr ich von manchen Männern wahrnehme, umso mehr liebe ich meinen Hund“, bemerkte Hanna, worauf Jonas amüsiert lachte.
„Touché! – Endlich mal jemand, der dir so richtig Kontra gibt, Jakob.“
„Das freut den kleinen Bruder“, sagte dieser lakonisch und schenkte den Kaffee ein.
Am anderen Tisch kam kein Gespräch auf. Das war auch schlecht möglich, da die Jungens damit beschäftigt waren, den Kuchen zu vertilgen.
„Schmeckt echt geil“, meinte der 12jährige Leon mit vollem Mund. „Viel besser, als der Kuchen, den Onkel Jakob immer besorgt.“
„Backt eure Mutter keinen Kuchen?“, fragte die kleine Lisa ahnungslos. „Wo ist sie eigentlich?“
„Im Himmel“, erwiderte der um ein Jahr ältere Timo. „Unsere Mama ist gestorben, als ich vier war.“
„Einfach so?“, wollte Lisa wissen, worauf Anna sie leicht am Arm anstieß.
„Sei nicht so neugierig. Das geht dich nichts an.“
„Lass nur“, sagte Max, der Älteste der Brüder. „Unsere Mutter war sehr krank: Leukämie. – Blutkrebs“, fügte er erklärend hinzu. „Sie hatte keine Chance.“
„Das muss hart für euch gewesen sein“, mutmaßte Anna mitfühlend. „Wenn ich mir vorstelle, Mamarie wäre plötzlich nicht mehr da...“
„Mamarie!?“, wiederholte Leon kopfschüttelnd. „Was ist denn das für ein ätzender Name?“
„Den habe ich erfunden“, verkündete Sara. „Anna sagte als kleines Mädchen Mama zu ihr – und alle anderen nannten sie Marie. Als ich sprechen lernte, wurde daraus Mamarie.“
„Mam klingt viel cooler“, befand Leon. „Mam und Paps.“ Aufmerksam schaute er Sara an. „Was ist mit eurem Vater? Auch gestorben? Oder hat er nicht mal am Wochenende Zeit für euch?“
„Papa hat immer Zeit für uns!“, empörte sich Lisa. „Aber er wohnt nicht hier! Unsere Eltern haben sich geschieden!“
„Besucht er euch manchmal?“
„Wir sehen uns jedes zweite Wochenende“, beantwortete Anna die Frage von Max. „Wir können Paps auch jederzeit anrufen oder zu ihm kommen, wenn wir ihn brauchen.“
„Hat eure Mutter nichts dagegen?“
„Warum sollte sie? Seit sie nicht mehr miteinander verheiratet sind, verstehen sich unsere Eltern besser als zuvor.“
Am anderen Tisch fragte Jakob gerade Marie über ihren Beruf aus.
„Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, ausgerechnet einen Catering-Service zu eröffnen, Frau Mertens?“
„Nach meiner Scheidung brauchte ich einen Job. Mein Ex hat mir neben dem Unterhalt für die Kinder zwar auch eine monatliche Summe für mich angeboten, aber ich wollte nicht auf seine Kosten leben. Da ich mein Studium abgebrochen hatte, als Anna unterwegs war, habe ich mich auf das besonnen, was ich mittlerweile am besten konnte: Kochen und Backen. Außerdem hatte ich mich vorher schon bei verschiedenen Festlichkeiten über so manches lieblos zusammengestellte Buffet geärgert. Ich war der festen Überzeugung, dass man so etwas besser machen könnte.“ Sie warf Hanna einen dankbaren Blick zu. „Hätte meine Cousine uns nicht aufgenommen und mir das Souterrain für meine Pläne zur Verfügung gestellt, hätte ich meinen Traum vom eigenen Partyservice dennoch begraben müssen. Doppelte Miete für eine Wohnung und Räumlichkeiten für meinen Betrieb hätte meine finanziellen Möglichkeiten bei weitem überstiegen. Da Hanna sich weigert, Geld von mir zu kassieren, muss ich nun nur meine Energiekosten tragen.“
„Dafür füttert mich der beste Partyservice der Stadt kostenlos mit durch“, bemerkte Hanna, wobei sie Marie warnend anschaute. „Damit sind wir quitt.“
„Auch der Ausbau des Souterrains muss doch ein Vermögen gekostet haben“, überlegte Jakob. „Soweit ich das beurteilen kann, ist Ihre Küche auf dem modernsten technischen Stand.“
„Den gesamten Umbau hat Hanna mit einigen Freunden durchgezogen“, erklärte Marie. „Ich musste nur das Material und die Küchenausstattung bezahlen. Dafür ist das kleine Erbe meines Vaters draufgegangen. Bei der Eröffnung war ich praktisch pleite, aber unsagbar stolz.“
„Schon bald galt Marie als Geheimtipp“, fügte Hanna hinzu. „Ihr kulinarisches Repertoire ist wirklich enorm.“
„Macht es Ihnen tatsächlich nichts aus, tagtäglich für andere Leute am Herd zu stehen?“, fragte Jakob mit deutlichem Zweifel in der Stimme. „Wird das auf die Dauer nicht eintönig?“
„Überhaupt nicht“, verneinte Marie. „Neben meinem Standartangebot kreiere ich oft andere Gerichte und probiere ständig neue Rezepte aus. Bei besonderen Anlässen betreue ich das Buffet auch den ganzen Abend. Es ist schön, zu hören, wenn die Gäste von meiner Arbeit begeistert sind.“
„Ein erstklassiges Buffet rundet jede Feier erst ab“, befand Hanna. „Wenn man von einer Party erzählt, spricht man auch vom Essen. War es gut, wird es gelobt. Andernfalls heißt es, die Party war recht nett, aber das Buffet war langweilig oder es ließ zu wünschen übrig. Ist es Ihnen noch nie passiert, dass Sie irgendwo eingeladen waren und sich später vor allem an die leckeren Speisen erinnerten, Herr Jensen?“
„Erst kürzlich“, überlegte Jakob. „Vor etwa zwei Monaten habe ich eine Freundin zu einer Feier anlässlich der Verabschiedung von Professor Rademacher begleitet. In seiner Villa war ein mediterranes Buffet aufgebaut. Es war nicht nur optisch ein Kunstwerk; es schmeckte auch vorzüglich. Ich habe lange nicht so ausgezeichnet gegessen.“
„Das war von mir“, bemerkte Marie lächelnd. „Die Rademachers zählten damals zu meinen ersten Kunden. Seitdem richte ich all ihre Feste aus.“
„Alle Achtung“, sagte er anerkennend. „Offenbar habe ich Sie unterschätzt.“ Mit fragend erhobenen Brauen blickte er seinen Neffen an, der mit seinem Teller in der Hand neben ihm stehenblieb.
„Kann ich noch ein Stück Streuselkuchen haben, Onkel Jakob? Da ist so leckerer Vanillepudding drin.“
„Hast du noch nicht genug, Timo?“ antwortete sein Onkel mit leisem Vorwurf. „Unsere Gäste werden glauben, dass ihr den ganzen Tag noch nichts zu essen bekommen habt.“
„Sonst sagst du immer, ich soll ordentlich essen, damit ich wachse.“
„Recht hat er“, meinte Marie amüsiert und nahm die Kuchenplatte vom Tisch. „Hier, mein Junge. Vielleicht möchten die anderen auch noch ein Stück.“
„Danke“, strahlte Timo und trollte sich zum Nebentisch.
„Ihr Sohn weiß offenbar einen Leckerbissen zu schätzen“, wandte sich Hanna an Jonas. „Auch ich kann nicht widerstehen, wenn Gebäck mit Vanillecreme gefüllt ist. Leider wirken sich diese Kalorienbomben nicht gerade vorteilhaft auf die schlanke Linie aus.“
„Bei Ihrer fabelhaften Figur können Sie sich solche kleinen Sünden bestimmt spielend leisten“, entgegnete Jonas charmant, so dass Hanna hell auflachte.
„Glauben Sie etwa, ich jogge aus reinem Vergnügen? Ohne mein tägliches Lauftraining sähe man mir schon von weitem an, dass ich mit einer Meisterköchin unter einem Dach lebe.“
„Ginge es danach, wäre ich schmaler als ein Handtuch“, scherzte Jonas. „Die Kochkünste meines Mitbewohners könnte man eher als Schrecken der Familie bezeichnen.“
„Ach, tatsächlich?“, wunderte sich Hanna und richtete ihren Blick auf Jakob. „Gibt es wirklich was, das Sie nicht so perfekt beherrschen, wie unüberhörbare morgendliche Gartenarbeit?“
„An den Herd stelle ich mich nur, damit meine Neffen mittags eine warme Mahlzeit bekommen“, brummte er. „Ich habe nie behauptet, dass ich ein 3-Sterne-Koch bin. Bis wir eine Haushaltshilfe gefunden haben, kannst du gern jeden Mittag nach Hause kommen, Jonas, und deine Kinder versorgen.“
„Nun sei nicht gleich beleidigt, Jakob“, bat sein Bruder. „Das war doch nur ein Scherz. Schließlich ist es kein Geheimnis, wie froh ich darüber bin, dass du mich so tatkräftig unterstützt. Ohne dich wären wir alle aufgeschmissen.“
„Du übertreibst“, entgegnete Jakob versöhnt. „Eine Familie muss zusammenhalten. Deshalb werde ich weiterhin kochen. Obwohl eigentlich Frauen in die Küche gehören.“
„Allmählich glaube ich, zeitweise sind Ihre Ansichten noch antiquierter als Ihr Auto“, konnte Hanna nicht umhin, zu bemerken. „Haben Sie noch nie von Gleichberechtigung gehört?“
„Die meisten Frauen sind doch froh, wenn sie einen starken Mann an ihrer Seite haben“, sagte Jakob im Brustton der Über-zeugung. „Weicheier werden selten als Ehemänner erwählt.“
Leise lachend griff Hanna nach ihrer Kaffeetasse.
„Wenn das eben kein Eigentor war... Hat ein so unwiderstehlicher Mann etwa keine Frau abgekriegt?“
„Bei meinen hohen Ansprüchen ziehe ich es vor, als Single durchs Leben zu gehen“, parierte er „Wie sieht es denn in dieser Hinsicht bei Ihnen aus, Frau Flemming? Hat noch keiner angebissen? Oder hat einfach niemand den Mut aufgebracht, Sie vor den Traualtar zu führen?“
Diese Worte trafen Hanna an einer empfindsamen Stelle. Ihr kühler Blick streifte den Nachbarn.
„Mein Mann hat mich vor vier Jahren verlassen ...“
„Konnte er Ihre spitze Zunge nicht länger ertragen? Wahrscheinlich haben auch all meine Geschlechtsgenossen daraufhin die Flucht ergriffen, weil keiner den frei gewordenen Platz an Ihrer Seite einnehmen wollte.“
„...konnte“, korrigierte sie ihn mit eisiger Stimme und erhob sich. Sie stieß einen kurzen Pfiff aus, worauf Geisha sofort angelaufen kam. Gemeinsam mit ihrem Hund verließ Hanna in stolzer Haltung das Grundstück.
„Das war eben wirklich genial daneben“, tadelte Jonas seinen Bruder. „Täusche ich mich, oder sollte dieser Nachmittag ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis einläuten?“
„Mir ist durchaus bewusst, dass ich zu weit gegangen bin“, brauste Jakob auf. „Diese Frau fordert mich ständig dazu raus, unüberlegte Dinge zu sagen.“
„Eigentlich ist Hanna hart im Nehmen“, wusste Marie. „Nur wenn es sich um Achim handelt, fällt es ihr immer noch schwer, gelassen zu reagieren. Er war ihre große Liebe; sie haben bis zu seinem plötzlichen Tod eine Bilderbuchehe geführt.“
„Woran starb er?“, fragte Jonas mitfühlend. „Hatte auch er eine unheilbare Krankheit?“
„Es war ein Unfall“, verneinte Marie. „Achim kam aus einem Blumengeschäft und wollte die Straße überqueren. Für Anfang März lag noch ungewöhnlich viel Schnee. Mitten auf dem Zebrastreifen wurde er von einem Auto erfasst, das mit überhöhter Geschwindigkeit herangebraust kam und nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte.“
„War er sofort tot?“
„Ja. Er starb mit den roten Rosen im Arm, während Hanna zu Hause ein romantisches Dinner vorbereitet hat. – Es war ihr Hochzeitstag.“
„Ausgerechnet...“, murmelte Jakob betroffen. „Vermutlich hat sie ungeduldig auf ihren Liebsten gewartet. Statt ihm stand irgendwann die Polizei mit dieser Hiobsbotschaft vor der Tür.“
„Genau so war es“, bestätigte Marie. „In der Folgezeit hat Hanna wie eine Marionette funktioniert. Sie hat lange gebraucht, bis sie akzeptieren konnte, dass sie ihr Leben ohne Achim einrichten musste.“
Nach einem Besuch am Grab ihres verstorbenen Mannes beantwortete Hanna bis zum Abend die zahlreiche Fanpost, die im Funkhaus für den Engel der Nacht eingegangen war. Auch diesmal waren wieder einige Briefe aus der Justizvollzugsanstalt dabei. Anscheinend wurden Angels Sendungen von den Insassen regelmäßig gehört.
Zwei Stunden vor Mitternacht verließ Hanna mit ihrem Hund das Haus. Das Tier bemerkte den Mann vor dem Nachbargrundstück zuerst und lief auf ihn zu.
„Geisha!“, rief Hanna streng. „Hierher! Das ist pfui!“
Irritiert kam der Hund zurück, so dass sie ihn an die Leine nahm und die entgegengesetzte Richtung einschlug.
„Warten Sie bitte!“, vernahm sie Jakobs Stimme, reagierte aber nicht darauf. „Hanna!“ Er schien plötzlich dicht hinter ihr zu sein. „Einen Augenblick bitte, Hanna.“
Wütend fuhr sie herum.
„Für Sie immer noch Frau Flemming, Herr Jensen!“
Beschwichtigend hob er die Hände.
„Okay, okay, Frau Flemming. – Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.“
„Das können Sie sich sparen.“
„Nein“, sagte er trotz ihrer abweisenden Haltung. „Meine flapsige Bemerkung vorhin ging eindeutig zu weit. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen dadurch wehgetan habe.“
„Lassen Sie mich einfach in Ruhe“, forderte sie ihn unversöhnlich auf und setzte ihren Weg ohne ein weiteres Wort fort.
In dieser Nacht saß Jakob nicht am Radio. Da er am nächsten Morgen seinen neuen Job antreten musste, ging er zeitig zu Bett.