Читать книгу Angel - Engel der Nacht - Eisgräfin - Claudia Rimkus - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеDie Kinder waren bereits auf dem Weg zur Schule. Die Cousinen saßen noch bei einem Becher heißer Schokolade am Frühstückstisch.
„Gestern hatte ich wieder mal Zeit, in deine Sendung reinzuhören“, sagte Marie, die als einzige außerhalb des Senders die Identität des Engels der Nacht kannte. „Du warst echt gut.“
„Wenn du schon einen freien Abend hast, solltest du um diese späte Stunde längst im Bett liegen.“
„Genau dort habe ich mich befunden“, erklärte Marie. „Ich habe in einigen Kochbüchern nach neuen Anregungen gesucht. Dabei habe ich deinen Gesprächen gelauscht. Eines davon gefiel mir besonders gut...“
„Lass mich raten“, unterbrach Hanna sie. „Du meinst vermutlich den Beitrag von Dracula alias Einstein.“
„Richtig“, bestätigte Marie. „Nicht schlecht, wie er dich aus der Reserve locken wollte.“
„Was ihm aber nicht gelungen ist.“
„Du bist für die meisten Männer zu schlagfertig, Hanna. Das verunsichert sie. So wird das nie was.“
„Du sprichst in Rätseln.“
„Seit wann bist du schwer von Begriff? Der Mann hatte eine sooo sympathische Stimme. Außerdem scheint er, da er sich Dracula genannt hat, so nachtaktiv wie du zu sein. In dieser Hinsicht würdet ihr gut zusammen passen. Du hättest ihn nach seiner Telefonnummer fragen sollen.“
„Wozu?“
„Immerhin lebst du seit fast vier Jahren allein.“
„Ist das etwa verboten?“ versetzte Hanna mit leiser Ungeduld.
„Einem Mann, wie Achim es war, begegne ich kein zweites Mal. Auf eine halbherzige Beziehung kann ich gut verzichten. Hin und wieder ein paar erotische Stunden –mehr ist bei mir nicht mehr drin.“ Forschend musterte sie ihre vier Jahre jüngere Cousine. „Hast du vergessen, dass wir bei der Gründung unserer WG den Männern abgeschworen haben? Damals warst du es, die mit dem angeblich so starken Geschlecht nichts mehr zu tun haben wollte. Wirst du nun etwa rückfällig?“
„Wie kommst du denn darauf?“ antwortete Marie etwas zu schnell. „Allerdings sehe ich das heute aus einer anderen Perspektive. Mittlerweile habe ich sogar mit meinem Ex zu einem freundschaftlichen Umgang gefunden. Mir ist jetzt klar, dass wir beide für das Scheitern unserer Ehe verantwortlich sind.“
„Ist daraus zu schließen, dass du wieder für eine Beziehung offen bist, Marie?“ fragte Hanna direkt. „Womöglich ist der geeignete Kandidat dafür sogar schon in Sicht?“
„Würdest du mich dann rausschmeißen?“
„Quatsch. Für wie herzlos hältst du mich eigentlich?“
„Sorry“, bat Marie. „ So war das nicht gemeint. Außerdem hätten meine Mädchen auch ein Wörtchen mitzureden. Sie lieben ihren Vater und würden jeden neuen Mann in meinem Leben an ihm messen. – Falls überhaupt einer bereit wäre, sich ernsthaft auf eine Frau mit drei Kindern einzulassen.“
„Solange du jeden Interessenten gnadenlos in die Flucht schlägst...“
„Da gibt es nicht viel zu schlagen. Im Gegensatz zu dir muss ich mir keine lästigen Verehrer vom Leib halten.“ Vielsagend hob sie die Brauen. „Oder wie würdest du beispielsweise Ulrich Maiwald bezeichnen?“
„Uli ist mein Programmdirektor“, lautete die prompte Antwort. „Und ein alter Schulfreund.“
„Der nebenbei bemerkt schwer in dich verliebt ist“, wusste Marie. „Er würde dich auf Händen tragen.“
„Ich gehe lieber zu Fuß.“
„Ab und zu sollte man auch das Schweben genießen.“
„Als Engel der Nacht schwebe ich von Montag bis Freitag wahrlich genug“, beendete Hanna die Diskussion und erhob sich. „Begib du dich meinetwegen auf die Suche nach Mister Right. Ich bin mittlerweile Single aus Überzeugung.“ Im Hinausgehen winkte sie über ihre Schulter. „Gute Nacht, Marie!“
Nach nur einer knappen Stunde Schlaf riss ein knatterndes Geräusch begleitet von lautem Hundegebell Hanna aus ihren Träumen.
„Nicht schon wieder“, murmelte sie benommen und schlug die leichte Decke zurück. Nach wenigen Schritten war die in ein hauchzartes Satinhemd gekleidete Frau auf der Dachterrasse und hielt nach dem Störenfried Ausschau. Unwillig verdrehte sie die Augen, als sie sah, dass ihr neuer Nachbar den Rasen mit einem vorsintflutlichen Mäher bearbeitete. Musste der Mann am frühen Morgen mit dieser Höllenmaschine durch den Garten pflügen? Zu allem Überfluss versuchte sein Mini-Pavarotti, das altertümliche Vehikel durch anhaltendes Kläffen zu vertreiben. Diese ohrenbetäubende Geräuschkulisse war unerträglich.
„Ruhe da unten!“, rief Hanna genervt, so dass der kleine Hund auf sie aufmerksam wurde. Abrupt stellte er sein Bellen ein. Das wiederum veranlasste seinen Herrn, ebenfalls zur Dach-terrasse hinaufzuschauen. Seine Augen weiteten sich erstaunt. Im hellen Schein der Morgensonne wirkte die leicht bekleidete
Gestalt mit dem langen wallenden Haar unwirklich. Wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Unwillkürlich schaltete Jakob den Rasenmäher aus. Als er jedoch wieder hochblickte, war das engelsgleiche Geschöpf verschwunden.
Merkwürdig, dachte er. Offenbar erschien diese Frau jeden Morgen einen Moment lang um die gleiche Stunde nur in einem dünnen Hemdchen auf dem Dachgarten. Jakob kam überhaupt nicht auf den Gedanken, selbst der Verursacher dafür zu sein. Dennoch verzog er sich mit seinem Motormäher auf die rückwärtige Seite des Grundstücks, so dass Hanna hinter geschlossener Tür und heruntergelassenen Jalousien wieder einschlief.
Die Familie war bereits mit dem Mittagessen fertig, als Hanna herunterkam. Die Kinder saßen in ihren Zimmern über ihren Hausaufgaben; nur Marie hantierte noch in der Küche.
„Bist du hungrig, Hanna? Ich könnte dir...“
„Nicht nötig“, unterbrach ihre Cousine sie und nahm sich einen Apfel aus der Obstschale. Wie an jedem Tag wollte sie nach dem Aufstehen joggen gehen. „Wenn ich zurück bin, können wir aber zusammen Kaffee trinken. Oder musst du noch ein Gelage vorbereiten?“
„Die Platten und Salate für heute Abend sind fertig. Ich muss sie nachher nur noch ausliefern.“
„Bist du anschließend zu Hause?“
„Eigentlich wollte ich mich noch mit einem Herrn treffen, der sich für meine Leckerbissen interessiert. Er ließ durchblicken, dass er nicht abgeneigt ist, meinen Service regelmäßig in Anspruch zu nehmen.“
„Du hast heute eine merkwürdige Art, dich auszudrücken. Bist du zurück, wenn ich zum Sender muss?“
„Sicher“, nickte Marie. „Du weißt doch, dass ich die Kinder nur im Notfall abends allein im Haus lasse.“
„Okay, dann bis später.“ Leicht klopfte Hanna gegen ihren Schenkel. „Komm, Geisha! Gassi gehen!“
Als sie mit dem Hund das Grundstück verließ, stieg Jakob gerade aus seinem Wagen, einem sehr alten, beigefarbenen Peugeot 304. Leise gluckste Hanna in sich hinein. Obwohl der Oldtimer glänzte, als sei er nagelneu, passte dieses Steinzeitmodell zu einem Mann, der seinen Rasen mit einem Nachkriegsmäher malträtierte.
Ohne ihrem Nachbarn weiter Beachtung zu schenken, trabte Hanna an ihm vorbei. Den nachdenklichen Blick in ihrem Rücken bemerkte sie nicht.
Da Jakob sie von nebenan hatte kommen sehen, überlegte er, ob auch sie dort wohnte. Trotz Jogginganzug, Baseballkappe und Sonnenbrille war er sicher, dass es sich nicht um die unfreundliche Türkin handelte. Zwar hatte er sie nur im Dunkeln gesehen, aber sie hatte sich absolut nicht so geschmeidig bewegt. Zählte man die morgendliche Erscheinung auf der Dachterrasse dazu, mussten im Nebenhaus mindestens drei Frauen wohnen. Es war an der Zeit, sich den Nachbarn vorzustellen. Diesen Vorsatz setzte Jakob bald in die Tat um. Beim Betreten des Grundstücks sah er eine Frau, die einen Lieferwagen belud. Offenbar Bewohnerin Nummer vier.
„Guten Tag!“, rief Jakob ihr im Näherkommen zu. „Sind Sie das?“ fragte er, als er die Aufschrift an der Seite des Wagens las. „Partyservice M. M.?“
„Marie Mertens“, bestätigte sie lächelnd. „Was kann ich für Sie tun? Planen Sie eine große Feier?“
„In absehbarer Zeit leider nicht“, entgegnete er mit leisem Bedauern, da er durch die geöffnete Heckklappe die mit Klarsichtfolie abgedeckten Delikatessen sah. „Angesichts dieser Köstlichkeiten gerate ich allerdings in Versuchung, meinen nächsten Geburtstag etwas vorzuverlegen.“
„Über welchen Zeitraum sprechen wir?“
„Etwa neun Monate.“
„Warum kommen Sie nicht im Mai wieder?“, schlug Marie ihm belustigt vor. „Ich werde noch hier sein.“
„Ich auch“, schmunzelte er. „Mein Name ist Jakob Jensen – Ihr neuer Nachbar.“
„Freut mich“, erwiderte Marie und streckte ihm die Hand entgegen. „Kommen Sie einen Moment mit rein, Herr Jensen? Die Kühlhaustür steht noch offen.“
Interessiert folgte Jakob ihr durch den Seiteneingang ins Haus.
Nach wenigen Schritten fand er sich in einer geräumigen Küche wieder: viel Edelstahl, weiße Fliesen an Wänden und Boden, ein großer Herd, chromblitzende Töpfe, Regale mit Gewürzen und frischen Kräutern, ein langer Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem mehrere appetitlich arrangierte Platten standen.
Während Marie die schwere Kühlhaustür schloss, musterte Jakob die Frau ungeniert. Sie war allenfalls 1,60 m groß und zierlich, aber wohlproportioniert. Das kurzgeschnittene blonde Haar und die Sommersprossen auf der Nase verliehen ihr etwas Lausbubenhaftes.
„Sehr beeindruckend“, sagte er mit weit ausholender Geste. „Läuft das Geschäft gut?“
„Ich kann nicht klagen“, antwortete Marie. „Was machen Sie denn beruflich?“
„Ich bin in der Bildungsbranche“, erklärte Jakob vage. „Nächste Woche trete ich eine neue Stelle an.“
„Sind Sie deshalb hierher gezogen?“
„Es war die beste Lösung für uns alle. Die Wohnung war für eine so große Familie einfach zu klein, so dass wir uns nach einem Haus umgesehen haben. Nun hat jedes Kind ein eigenes Zimmer, und ich ziehe mich in mein Dachstübchen zurück, wenn mich die Bande zu sehr nervt. Dort darf mich niemand von der Sippe stören.“
„Ihre Frau eingeschlossen?“
„Meine Frau?“, wiederholte er lachend. „Man muss doch nicht das Boot versenken, wenn man hin und wieder eine Runde schwimmen möchte! Ich lebe mit meinem Bruder und seinen Jungs zusammen. Seit er verwitwet ist, muss er sich um Job, Haushalt und Kinder kümmern. Damit ist er ein wenig überfordert. Deshalb haben wir damals eine WG gegründet.“
„Fast wie bei uns“, meinte Marie. „Wir bilden hier auch so eine Art Zweckgemeinschaft. – Obwohl wir uns gut verstehen.“
„Einige ihrer Hausbewohnerinnen habe ich bereits gesehen, Frau Mertens. Die Joggerin, die offenbar täglich etwas für ihre Fitness tut ebenso wie die Dame, die sich morgens auf der Dachterrasse zeigt. Außerdem noch...“
„Dabei handelt es sich um ein und dieselbe Person“, unter brach Marie ihn. „Das ist meine Cousine Hanna Flemming; ihr gehört dieses Haus.“
„Ach...“, sagte Jakob nur erstaunt. Er sollte sich wohl allmählich eine Brille anschaffen. „Ihrer resoluten türkischen Bewohnerin bin ich übrigens auch schon begegnet.“
„Suleika wohnt nicht hier“, erklärte Marie, ein Lachen unterdrückend, da Hanna ihr von dem nächtlichen Zusammentreffen mit Herrchen und Hund erzählt hatte. „Sie hilft im Haus und gelegentlich auch hier in der Küche, wenn ich einen Großauftrag bewältigen muss. Mit Hanna und mir leben nur meine drei Kinder und unser Hund unter diesem Dach.“
Nachdem Marie das bestellte Buffet ausgeliefert hatte, fuhr sie weiter bis zu einem Hotel am Stadtrand. Die Zimmernummer ihres verabredeten Treffpunkts war per SMS auf ihrem Handy eingegangen, so dass Marie gleich an der Rezeption vorbei zu den Lifts ging. In der achten Etage verließ sie den Aufzug, orientierte sich kurz und wandte sich nach rechts. Vor der Tür mit der Nummer 584 blieb sie stehen und klopfte.
„Es ist offen!“ erklang eine männliche Stimme, worauf Marie ohne Scheu eintrat. Nach zwei Schritten blieb sie jedoch überwältigt stehen: Der abgedunkelte Raum wurde nur durch zahlreiche brennende Kerzen erhellt. Auf der Nachtkonsole stand ein Kübel mit Champagner auf Eis; das Kopfkissen zierte eine langstielige rote Rose. An der Tür zum Bad lehnte ein nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleideter Adonis.
„Hallo, schöner Mann“, sprach Marie ihn lächelnd an. „Ist das alles für mich?“
„Nein, für das Zimmermädchen.“ Barfuß kam er näher. „Aber wer zuerst kommt...“
„... mahlt zuerst“, vollendete sie schelmisch und schlüpfte aus ihren Pumps. „Wir haben genau zwei Stunden...“
„Dann lass uns keine Zeit verlieren“, flüsterte er und zog sie in seine Arme. Während er Marie leidenschaftlich küsste, öffneten seine Finger den Reißverschluss in ihrem Rücken.
Mit einem Glas Wein saß Jakob an diesem Abend pünktlich um Mitternacht in seinem Dachstübchen vor dem Radio. Die Moderatorin wurde als sexiest voice in town angekündigt.
Jakob hörte, wie der Engel der Nacht seine Zuhörer begrüßte und das Gesprächsthema der Sendung bekanntgab:
„Heute Nacht möchte ich mit euch darüber sprechen, woran ihr glaubt. Sei es der religiöse Glaube oder ein anderer. An wen glaubt ihr – oder an was? In welcher Situation half euch euer Glaube? Oder hat er euch enttäuscht? Ruft mich an unter der Nummer 01805 66 66 66...“
Jakob verfolgte bei einem Glas Wein die ersten Gespräche, die den christlichen Glauben betrafen. Danach rief jemand an, der in etwas holprigem Deutsch von seinem islamischen Glauben erzählte. Der nächste Anrufer war ein offenbar jüngerer Mann.
„Hi, Angel, hier spricht Mark. Was die da eben von sich gegeben haben, war doch hilfloses Gesülze. Gäbe es einen Gott oder Allah, würde er keine Menschen verhungern oder sie in Kriegen aufeinander ballern lassen.“
„In der Bibel steht, Gott erschuf den Menschen nach seinem Ebenbild“, antwortete der Engel der Nacht. „Ist es nicht möglich, dass der Mensch sich in die falsche Richtung entwickelt hat und Gott irgendwann resigniert hat?“
„Ach, Angel, die Bibel ist doch nichts anderes als ein Märchenbuch. Oder hast du noch niemals von der Evolution gehört? In der sogenannten Heiligen Schrift ist das im Grunde wie bei Jules Verne. Damals gab es noch keinen Fernseher. Deshalb mussten die Menschen ihre Fantasie bemühen, um sich die Entstehung der Erde und des Lebens vorzustellen. Heute bekommt man das alles vorgekaut und in bunten Bildern erklärt.“
„Für dich existiert demnach kein Gott“, fasste Hanna zusammen. „Woran glaubst du, Mark? An gar nichts?“
„Ich glaube an die Macht des Geldes“, erwiderte er, ohne zu zögern. „Hat man genug Kohle, kann man sich jeden Wunsch erfüllen. Man ist sein eigener Herr, erteilt Befehle und lässt andere für sich arbeiten. Man gewinnt immer mehr Macht, kann überall mitreden, auf Wirtschaft und Politik Einfluss nehmen...“
„Selbst mit noch so viel Geld kann man sich nicht alles kaufen“, wandte Hanna ein. „Es gibt Dinge im Leben, die sind unbezahlbar.“
„Alles hat seinen Preis“, behauptete der Anrufer. „Ab einer gewissen Summe wird jeder schwach.“
„Das glaube ich nicht“, widersprach Hanna. „Du kannst dir Freunde kaufen, die allerdings verschwunden sind, sobald du in Schwierigkeiten steckst. Auch Loyalität kannst du dir er-kaufen. Sie währt jedoch nur solange, wie du oben bist. Sogar Liebe kannst du dir kaufen, damit in einsamen Nächten jemand bei dir ist. Sie gilt aber nicht wirklich dir, sondern nur deinem Geld. Wahre Gefühle, menschliche Wärme und Zuneigung, Vertrauen und Geborgenheit hingegen sind Geschenke.“
„Wer braucht schon so was?“ sagte der junge Mann leichthin. „Aber als Engel der Nacht musst du wohl so denken.“
„Ich wünsche dir, dass du bald jemandem begegnest, der all das in dir weckt. Dann wirst du verstehen, wie viel mehr wert diese Art Reichtum ist. Ruf mich wieder an, wenn es soweit ist. – Gute Nacht, Mark.“
Während nun wieder Musik erklang, griff Jakob zum Telefon. Diesmal musste er sich in Geduld üben. Die Leitung war ständig besetzt. Es dauerte fast eine Stunde, bis er endlich zum Sender durchkam.
„Ich bin der Engel der Nacht“, sprach Hanna ins Mikrofon, als der Redakteur ihr ein Zeichen gab, und rückte ihre Kopfhörer zurecht. „Wer bist du?“
„Hallo, Angel“, antwortete Jakob mit sanfter Stimme. „Erinnerst du dich an mich?“
„Da ich selten das Vergnügen mit einem Vampir habe, weiß ich natürlich, dass du der Dracula mit dem Einstein – Verstand bist“, entgegnete sie prompt. „Ich bin schon sehr gespannt, an was blutsaugende Fledermäuse glauben.“
„Ein so sensibles Wesen, wie ich es bin, glaubt nicht unbedingt an ein Gott oder Allah genanntes personifiziertes Wesen, das irgendwo über uns schwebt und uns beschützt.“
„Woran glaubst du dann?“
„An eine überirdische Dimension, an ein Schicksal, das uns lenkt.“
„Kannst du das näher erklären?“
„Vermutlich ist unser aller Weg bis zu einem gewissen Grad vorgezeichnet. Es liegt an uns, was wir daraus machen. Auch ich glaube – wie du – es gibt Wichtigeres, als das Streben nach Macht und Reichtum. In jedem von uns steckt eine enorme Kraft: die Kraft der Liebe und der Menschlichkeit. Sie sollte für uns richtungsweisend sein. Der heutzutage verbreitete Wahnsinn, seine Ziele mit aller Gewalt durchzusetzen, greift leider wie ein Virus um sich. Korruption, Fanatismus, Unvernunft und mangelnde Bereitschaft, friedliche Lösungen zu suchen, wird uns tagtäglich von den Politikern demonstriert.“
„Du meinst, Politiker seien die Wurzel allen Übels?“
„Sie tragen dazu bei“, versetzte Jakob. „Immerhin hat diese Spezies eine Vorbildfunktion. Wenn sich beispielsweise ein Saddam weigert, sein Waffenarsenal offenzulegen, droht ihm ein amerikanischer Präsident großspurig mit Krieg. Ein Präsident, der nie gewählt wurde, will nicht nur seinem Daddy imponieren, mit dessen Geschäftsfreunden er regiert, sondern auch Macht und Härte demonstrieren. Andererseits hat er panische Angst vor Flugzeugen, die in Wolkenkratzer stürzen oder vor anderen Terroranschlägen. Der mächtigste Mann der Welt will überall mitmischen, aber er besitzt nicht die Macht, seine Bürger ausreichend vor Terrorismus zu schützen. Das treibt ihn immer weiter an, führt zu neuen Konflikten und Kriegen.“
„Demnach glaubst du, Macht führt zwangsläufig zu Schuld?“, forderte Hanna ihn heraus. „Ist das nicht eine zu einfache Erklärung."
„Ich denke, du hast sehr wohl verstanden, dass dies nur ein Beispiel war, Angel“, sagte er in leicht tadelndem Ton. „Da-von könnte ich dir noch viele nennen, die verdeutlichen, dass Menschlichkeit in der Politik zunehmend auf der Strecke bleibt. Es ist völlig nebensächlich, wie viele Soldaten und Zivilisten in einem Krieg sterben. Es geht nur darum, die Oberhand zu behalten. Wenn die Politiker uns das im großen Stil vor-leben, warum soll der Otto-Normal-Verbraucher nicht ebenso handeln? Wer sich ihm in den Weg stellt und nicht spurt, kriegt eins auf die Mütze. Es ist höchste Zeit, dass wir uns wieder auf das Wesentliche besinnen.“
„Könnte dabei nicht ein religiöser Glaube helfen?“, überlegte Hanna. „Die Kirche hat sich schon immer...“
„... am Spiel der Macht beteiligt“, warf Jakob ein. „Besonders die katholische Kirche. Sie predigt Nächstenliebe und hält seit Jahrhunderten am Zölibat fest. Andererseits deckt sie ihre Priester, die heimlich eine Familie haben, zahlt Unterhalt für deren Kinder von unseren Kirchensteuern. Das ist verlogen. Verabscheuungswürdig ist aber die Tatsache, dass sie seit langem die zahlreichen Missbrauchsfälle katholischer Geistlicher vertuscht. Auch hier sind dringend Reformen nötig.“
„Dazu ist der jetzige Papst aber ebenso wenig bereit, wie der letzte es war. – Obwohl 1978 nach der Berufung Johannes Pauls II viele Hoffnungen in ihn gesetzt wurden.“
„Dieser reisefreudige Pole war einmal ein Mann, der sich in erster Linie publikumswirksam präsentiert hat“, fügte der Anrufer hinzu. „Wenn er irgendwo in der Welt aus dem Flugzeug gestiegen ist und den Boden geküsst hat – das hatte was. Seine Berufung hat jedoch weder am Zölibat noch an der antiquierten Einstellung der Katholischen Kirche zur Empfängnisverhütung etwas geändert. Im Laufe der Jahre wurde Karol Wojtyla ein alter, an Parkinson erkrankter Mann, der einen mitleiderregenden Anblick geboten hat. Man hätte ihn in den Ruhestand schicken und den Posten nicht wieder besetzen sollen. Einen Vertreter Gottes auf Erden zu ernennen ist nicht nur anmaßend, sondern auch nicht mehr zeitgemäß. Ein modernes Führungs-gremium wäre angebrachter.“
„Für einen Vampir kennst du dich anscheinend in der Welt gut aus“, versuchte Hanna, das Gespräch ausklingen zu lassen. Aber nicht, ohne noch ein wenig über ihn selbst erfahren zu wollen. „Eigentlich erstaunlich für jemanden, der nur nachts aktiv ist. Oder hast du noch einen Nebenjob?“
„Scheut man als Vampir konsequent das Tageslicht, erfüllt man die Voraussetzung für ein Jahrhunderte langes Leben, meine liebe Angel“, antwortete Jakob, ihre Absicht durch-schauend. „In so vielen Jahren sammelt sich eine Menge Wissen an.“ Dies war der Zeitpunkt, die Rollen zu tauschen. „Eine kleine Informationslücke besteht allerdings noch: Woran glaubt eigentlich der Engel der Nacht?“
„An Wunder“, erwiderte sie wahrheitsgemäß. „An das Wunder des Lebens und an das Wunder der Liebe beispielsweise. An die vielen kleinen Wunder des Alltags, bei denen sich Menschen als Menschen zu erkennen geben. Ich glaube, dass allein die Liebe, die in jedem von uns existiert, enorme Energien freisetzt. Diese geballte Kraft ist für mich das, was man in den verschiedenen Religionen als Gott bezeichnet.“
„Eine interessante Sichtweise, die der meinen sogar ähnelt. Wem gilt denn deine Liebe, Angel?“
„Meinen Zuhörern.“
„Also auch mir?“
„Zwar habe ich kaum Erfahrung mit fledermausartigen Blut-saugern, die nachts durch die Botanik flattern, aber ich will dich deshalb nicht ausschließen.“
„Du bist ein Engel, Angel.“
„Ich weiß“, sagte sie mit einem Lächeln in der Stimme. „Deshalb muss ich nun auch andere Hörer zu Worte kommen lassen. – Gute Nacht, Dracula.“
Eine erstaunliche Frau, dachte Jakob und griff nach seinem Weinglas. Sie schien sich gut auf diese Sendung vorbereitet zu haben, da sie sogar die Jahreszahl der Berufung des Papstes wusste. Aber auch sonst imponierte ihm die Moderatorin: ihre Souveränität, ihr Intellekt, ihre Schlagfertigkeit, ihr hintergründiger Humor.
Mit Beginn der 6 – Uhr – Nachrichten endete Hannas Sendezeit. Müde verließ sie das Studio und betrat die Redaktion.
„Bin ich geschafft“, murmelte sie und ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Warum tue ich mir das eigentlich jede Nacht an?“
„Weil du die Beste bist“, erwiderte ihr Programmdirektor und trat hinter sie. Ohne zu fragen massierte er ihren Nacken. „Deine Sendung war wie erwartet großartig.“
„Was tust du überhaupt noch hier, Uli?“ fragte Hanna, während sie die Massage mit geschlossenen Augen genoss. „Solltest du nicht längst in deinem Bett liegen?“
„Dann hätten meine Finger jetzt aber nicht mit der zartesten Versuchung Kontakt.“
„Bei mir gibt es nichts zu naschen“, stellte sie amüsiert klar. „Der Engel der Nacht ist für Normalsterbliche ungenießbar.“
„Dann muss ich mit der türkischen Putzfrau anbandeln.“
„Reine Zeitverschwendung“, sagte sie und entzog sich seinen Händen. „Hast du noch was Wichtiges? Sonst verschwinde ich jetzt.“
Sich seine Enttäuschung nicht anmerken lassend, setzte er sich auf die Tischkante.
„Dieser Anrufer, der sich Dracula nennt, kommt bei den Zuhörern gut rüber. Man müsste herausfinden, wer er ist und ihn zu einem festen Bestandteil der Sendung machen.“ Fragend hob er die Brauen. „Was meinst du dazu, Engelchen?“
„Das nähme seinen Anrufen die Spontanität und das Unbefangene“, überlegte Hanna. „Die Zuhörer würden den Schwindel irgendwann bemerken und mich für unglaubwürdig halten. Das ginge sicher auf Kosten deiner heißgeliebten Einschaltquoten.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, stimmte er ihr zu. „Falls er wieder anruft, solltest du ihn wie bisher etwas länger als die anderen auf Sendung halten. Hast du das bewusst getan?“
„Mehr aus dem Bauch heraus“, gab sie zu. „Dieser Dracula ist wie ich in eine Rolle geschlüpft. Dabei scheint er Gefallen daran gefunden zu haben, mich aus der Reserve locken zu wollen. Das Spielchen fängt an, mir Spaß zu machen. Vielleichtgelingt es mir, den Spieß umzudrehen und ihm zu entlocken, wer er wirklich ist.“
„Wag dich aber nicht zu weit vor“, warnte Ulrich sie. „Womöglich wurde er auf dich angesetzt. Ein Journalist vielleicht oder einer von der Konkurrenz, der herausbekommen soll, wer sich hinter dem Engel der Nacht verbirgt. Jedenfalls scheint er nicht nur über ein umfangreiches Wissen zu verfügen, sondern auch klug und raffiniert zu sein. Wer weiß, was er wirklich im Schilde führt.“
„Ich werde vorsichtig sein“, versprach Hanna und begann, ihr Äußeres wieder als türkische Putzfrau zu tarnen.