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2.4.5. Memory Studies – Transfer von kulturellen Texten

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Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses wurde von Jan und Aleida Assmann unter Rückgriff auf Maurice Halbwachsʼ Konzept des kollektiven Gedächtnisses entwickelt.1 Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis, das durch den Geschichtshorizont der Zeitgenossen abgedeckt ist, sind „mythische, als die Gemeinschaft fundierend interpretierte Ereignisse einer fernen Vergangenheit“2 Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses. Eine entscheidende Rolle kommt dabei dem Medium Literatur zu, sie stellt eine Weise der Gedächtniserzeugung unter anderen dar.3 Nach Aleida Assmann wird zwischen kulturellen und literarischen Texten unterschieden, deren Lesarten nicht aus den ihnen inhärenten Merkmalen entstehen, sondern durch den Rezeptionsrahmen, d.h. durch den „dezisionistischen Akt“4 des Rezipienten, bestimmt werden. Zusammengefasst zeichnen sich kulturelle Texte – um die es im Folgenden gehen soll – in Abgrenzung zu literarischen Texten durch einen besonderen kanonischen, für Aleida Assmann kulturellen, Status aus. Sie erhalten dadurch eine zusätzliche Sinndimension, die durch Vermittlung von Konzepten kultureller, nationaler oder religiöser Identität sowie kollektiv geteilter Werte und Normen zu einer – aus rezeptionsästhetischer Sicht – sich von den literarischen Texten unterscheidenden Textexegese auffordert. Eine Identifikation des Rezipienten mit dem Text, das Verlangen nach Aneignung von Wissen, Verehrung, ein wiederholtes Studium, Ergriffenheit – all das zeichnet kulturelle Texte aus.

Während literarische Texte mit ihren Leerstellen prinzipiell einer Sinnstiftung durch den Horizont des Rezipienten offen, polyvalent und unverbindlich sind, verlieren kulturelle Texte einerseits ihre Standortgebundenheit und Mehrdeutigkeit, gewinnen dadurch hingegen andererseits an kultureller Tiefendimension.5 Die Teilhabe am kulturellen Text indiziert Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe als Ersatz für genetisch gesteuerte Identität.6

Die Gattung der französischen chansons de gestechansons de geste, welche die Ereignisse des fränkischen heroic ageheroic age beschreibt, fungiert als Medium des kulturellen Gedächtnisses, ähnlich wie die Gattung der isländischen fornaldar- und íslendingasögur. Die fiktional aufgearbeitete Geschichtsauffassung bildet in einem logisch dargestellten Narrativ einen Vergangenheitsbezug, verweist auf den ‚Fernhorizont‘ der jeweiligen Kultur und schafft so die Vision einer geteilten Vergangenheit als Identifikationsangebot. Die französische Nationalgeschichte wird anhand der Heldenlieder um Karl den Großen aus dem Stoffkreis der matière de France in mythischer Überhöhung konstruiert: Im Gegensatz zu den Heldenepen mit der keltisch-bretonischen Thematik der matière de Bretagne und aus dem antiken Themenbereich matière de Rome beanspruchen sie Historizität und Authentizität trotz der unübersehbaren Fiktionalisierung der Geschichte des Frankenreiches.chansons de geste7 Dabei sind die Heldenlieder größtenteils in den SammelhandschriftenSammelhandschrift des 13. und 14. Jahrhunderts überliefert und stellen Bearbeitungen der zeitgenössischen Schreiber und Kompilatoren dar.

Im Folgenden werden die für diese Arbeit relevanten chansons de gestechansons de geste, welche in ihrem jeweiligen Literatursystem einen zentralen, kanonisierten Status hatten, mit den von Aleida Assmann vorgeschlagenen distinktiven Merkmalen als kulturelle Texte verortet. Als massive Reduktion erscheint bei diesem Vorhaben das postulierte Aufgeben der, den literarischen Texten inhärenten, Polyvalenz hier behandelter chansons de geste.8 Doch wie Aleida Assmann betont, handelt es sich hierbei nicht um unterschiedliche Textgruppen, sondern um unterschiedliche Zugangsweisen und Rezeptionsrahmen, welche die womöglich identischen Texte als literarisch oder kulturell determinieren.

Unter dem Stichpunkt ‚Identitätsbezug‘ richten sich kulturelle Texte nicht an individuelle Rezipienten, sondern an Repräsentanten eines Kollektivs, das durch die Teilhabe an kulturellen Texten eine übersubjektive Identität erhält. Die Chanson de RolandRoland, schon früh zu einer identitätsstiftenden Narration der Franken, später zum Nationalepos der Franzosen stilisiert,Roland9 schafft durch die narrativen Verfahren mythischen Erzählens mit hagiographischen Bezügen ein konkretes Identifikationsangebot auf der Grundlage einer allumfassenden Liebe zu dulce France, dem lieblichen Frankenreich. Der historische Kern um die Schlacht von RoncesvallesRoncesvalles im Jahre 778 wird narrativ mit der Akzentuierung auf dem religiösen Aspekt des Kampfes gegen die Sarazenen sowie einer Idealisierung der Helden der dulce France überhöht.

Auch das Rezeptionsverhalten kultureller Texte unterscheidet sich von dem der literarischen: Im Gegensatz zur unverbindlichen Wahrheit und zur ästhetischen Distanz literarischer Texte verkörpern chansons de gestechansons de geste eine verbindliche, unhintergehbare und zeitlose Wahrheit. Wie bereits erwähnt, erfordern sie Verehrung, Ergriffenheit und eine vorbehaltlose Identifikation; die Wiederherstellung der kosmischen, heilsgeschichtlich orientierten Ordnung wird erst durch den epischen Tod Rolands, Karls allumfassende Trauer um diesen und seine Gefährten und seine fürchterliche Rache an den Heiden erreicht. Führt man sich die von der Forschung für die chansons de geste etablierte Position bezüglich der Vortragssituation vor Augen, nämlich eine kollektive Rezeptionsweise mit dem jongleur (Spielmann) und dem Publikum, forderten die rezeptionsästhetischen Qualitäten dieser ältesten chanson de geste zweifellos Verehrung und Ergriffenheit bei den zeitgenössischen Rezipienten. Auch der Aspekt der Überzeitlichkeit mit dem damit verbundenen Anspruch auf „unerschöpfliche, nie veraltende Aktualität“10 sowie die „transhistorische Qualität der Unüberholbarkeit“11 spielen eine entscheidende Rolle bei der Kanonisierung von Texten, die auf diese Weise erst kulturell werden. Hier sind der heilsgeschichtliche Bezug der chansons de geste, die Verteidigung der christlichen Kirche gegen die Heiden sowie die in den Texten propagierte Überlegenheit Karls als gotterwählter Universalherrscher zu nennen.

Als Ausgangspunkt dieser Untersuchung werden nun unter Rückgriff auf die oben genannten distinktiven Merkmale die hier behandelten chansons de gestechansons de geste nicht als literarische, sondern als kulturelle Texte behandelt, wohl darauf verweisend, dass es sich nicht um die intrinsische Qualitätsgarantie von Texten per se handelt, sondern um den Rezeptionsrahmen, in dem sie sich entfalten. Mit diesem Postulat wird die Frage nach dem Transfer kultureller Texte eröffnet, somit auch die Frage nach dem differierenden Rezeptionsrahmen der zu analysierenden Texte in einem räumlich-geographisch und soziokulturell divergenten Kulturareal. Welche der distinktiven Merkmale verschwinden nach dem Transfer, welche Funktionen übernehmen diese Texte und welcher Status kommt ihnen zu? Sicherlich ist davon auszugehen, dass durch changierende Rezeptionsmodi sowohl ein übersubjektiver Identitätsbezug als auch eine verbindliche Wahrheits- und Geschichtsauffassung an Bedeutung verlieren.

Karl der Große im Norden

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