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Ein weiterer Rundflug
ОглавлениеVermutlich brauchst du weniger Hilfe, dir die Schwierigkeiten des Lebens vor Augen zu führen, und dennoch halte ich es für sinnvoll, wenn wir noch mal einen kurzen, aber aufschlussreichen Rundflug über unser Lebensland machen – über deins und meins. Zum besseren Verständnis und ganz persönlichen »Hineindenken« habe ich die Flugroute über mein Lebensland mit ein paar Fragen umsäumt, die auch dir dabei helfen können, ein wenig Klarheit in all die Gedanken über dein Lebensland zu bekommen, wenn du sie dir selbst stellst und mit ein bisschen Zeit und Ruhe ehrlich beantwortest – gerne auch wieder mit Stift und Papier.
Da bin zunächst einmal wieder ich selbst als Person: als Mensch mit einem Körper, einer ganz eigenen Geschichte, einem persönlichen Umfeld und ganz individuellen Gedanken, Gaben und Träumen. Und schon klopfen die Zweifel und Herausforderungen unüberhörbar an die Tür und es tauchen Fragen auf:
• Wie lebe ich mit den Folgen meiner Geschichte und Herkunft, den Stellen, die bis heute Wunden hinterlassen und falsche Vorzeichen gesetzt haben?
• Wie definiere ich meine Identität? Wer bin ich? Wer will ich sein? Wie will ich sein? Und wie sollen andere mich wahrnehmen?
• Welche Rollen habe ich inne und wie fülle ich sie? Macht mir das Ausgestalten Freude oder fordert es mich dauernd nur heraus?
• Wem gestatte ich, meinen Wert zu bestimmen? Habe ich wirklich verstanden, dass mein Tun nicht mein Sein definiert? Oder spricht mein Leben eine ganz andere Sprache?
• Wie gehe ich mit unerfüllten Wünschen, Niederlagen, Sehnsüchten um? Lasse ich mich von ihnen in einen Sog der Unzufriedenheit ziehen?
Diese Fragen versuchen, das Wesentliche und eher Große unseres Lebens zu definieren. Hinzu kommen noch viele kleine Kampfplätze und Baustellen des alltäglichen Entscheidens und Ringens.
In meinem Fall heißt das: Da ist meine Inkonsequenz, die meinen guten Vorsätzen so oft einen Strich durch die Rechnung macht. Und ich ärgere mich über mich selbst, verurteile mich selbst. Außerdem kämpft da meine eigentlich wohlüberlegte, aber leider doch so theoretische Terminplanung ständig mit meinen Prioritäten und meiner praktischen Zeiteinteilung. Ich komme dauernd ins Schleudern. Dann frage ich mich:
• Welche Themen lasse ich zu meinen Themen werden? Bio? Karriere oder/und Familie? Nachhaltigkeit? Ehrenamt? Fair Trade? Sicherheit? Wagemut? Die Liste ist unüberschaubar lang …
• Und habe ich das Recht, so wichtige Themen dennoch nicht zu meinen Themen zu machen? Werde ich das nicht irgendwann bereuen?
• Und last but not least: der ständige Anspruch, sportlich und fit, gesund und attraktiv, gepflegt und doch nicht oberflächlich, geistlich und bodenständig zu sein und in allem eine gute Ausgewogenheit zu finden. Uff …
Nach der nächsten Flugkurve begegnen wir der Familie und allen Themen, die dazugehören. Jeder, der selbst verheiratet ist und dazu vielleicht noch Kinder hat, weiß, wie umfassend dieser Bereich ist. Neben all dem Glück, Segen und Reichtum, den wir hier finden können, lauert aber eben auch der komplette Alltagswahnsinn:
• Wie gestalten wir unsere Partnerschaft?
• Wie finden wir Zeit für uns – neben den Verpflichtungen, der Erziehung, tausend Terminen und den eigenen Grenzen?
• Wo müssten wir uns eigentlich verändern, aufeinander zugehen, aber uns fehlt die Kraft oder der Wille?
Konflikte entstehen vor allem da, wo wir müde und ausgelaugt sind. »Es passiert leicht, dass man schwindende Kraft mit schwindender Liebe verwechselt«, schreibt Tomas Sjödin.6 Der volle Alltag ist da keine Hilfe, kurze Nächte durch kleine Kinder, die noch nicht durchschlafen, ebenso wenig. Außerdem drängt einen das Leben mit Kindern schnell in eine Ecke, in der man als Paar nur noch wie eine Arbeitsgemeinschaft funktioniert, Termine koordiniert, schnelle Lösungen für Erziehungsfragen sucht und sich mit müden Augen darüber informiert, was für die nächste Woche auf dem Programm steht. Wie bleibt man bei all dem Druck von außen ein leidenschaftliches Liebespaar?
Das Thema Erziehung bringt dann noch mal seine eigenen Minenfelder mit sich:
• Welchen Weg schlage ich ein? Eher streng oder doch lieber mit Weite zur Eigenverantwortung?
• Orientiere ich mich an Vorbildern? Wenn ja, welche sind das und warum?
• Und wie verteidige ich meine Entscheidungen gegenüber denen, die es so ganz anders machen?
• Schaffe ich es, Erziehung und Beziehung in gutem und ausgewogenem Maß zu leben?
• Finde ich gute Möglichkeiten, meine persönlichen Überzeugungen und meinen Glauben an meine Kinder weiterzugeben, ohne mit Druck oder Manipulation zu arbeiten?
• Hat die Liebe das letzte Wort bei uns?
Jede Partnerin, jeder Partner oder jedes Elternteil weiß, dass diese Fragen oder Gedanken nur an der Spitze des Konflikt-Eisberges kratzen …
Aber auch wenn du Single bist, stehst du vielen Fragen gegenüber, die deine ganz persönlichen Antworten einfordern:
• Bist du zufrieden und versöhnt mit deinen Lebensumständen oder wartest du nur darauf, dass eine Partnerin/ein Partner dich endlich glücklich und vollständig macht?
• Kannst du anderen ihre Partnerschaft und Familie gönnen oder spürst du dauernd (nachvollziehbaren) Neid?
• Gestaltest du dein Leben oder nimmst du es nur so hin?
• Kannst du Gott dankbar vertrauen, dass er gute Wege mit dir geht, oder nimmst du es ihm übel, dass du noch keine Partnerin/keinen Partner gefunden oder sie/ihn bereits verloren hast?
• Lebst du im Jetzt oder immer nur im erinnerungsvollen Gestern oder einem sehnsuchtsvollen Morgen?
Fliegen wir noch ein wenig weiter. Nun überqueren wir das Lebensfeld Arbeit. Wenn wir einen Beruf haben, der unseren Gaben und unseren Wünschen entspricht, ist das ein großer Segen, für viele jedoch leider nicht selbstverständlich. Aber egal ob im Traumberuf oder »nur« in einem Brotjob – Fragen stellen sich viele, Möglichkeiten für kleine und große Kämpfe tun sich immer wieder auf:
• Habe ich eine Arbeitsstelle, an der ich meine Gaben wirklich entfalten kann, oder wäre eigentlich dringend Veränderung nötig?
• Wie viel Arbeit ist gut, wo ist das »Genug« oder sogar das »Zuviel« erreicht?
• Kann ich mein »Nein« auch gegenüber meinem Chef oder den Kollegen selbstbewusst vertreten? Und kann ich mit den Konsequenzen daraus leben?
• Versuche ich, freiwillig Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen? Oder erfordern es meine finanziellen Umstände, dass ich gegen meinen Willen arbeiten muss, obwohl ich mich lieber ausschließlich der Familie widmen würde?
Und hier befinden wir uns weitgehend »nur« im Feld der eigenen Entscheidungen. Einen ganz neuen Charakter bekommt das Ringen und Sorgen, wenn wir Opfer von Mobbing werden, unser Chef uns unter Druck setzt oder wir trotz Hunderter Bewerbungen einfach keine geeignete Stelle finden.
Auch wenn es ums Thema Freundschaft geht, wird es nicht unbedingt nur leichter. Ich stelle für mich persönlich fest: Je älter ich werde, desto herausfordernder finde ich es, gute Beziehungen zu anderen Menschen zu pflegen, vor allem, wenn ich den oder die andere noch nicht ewig kenne – also die Beziehung erst einmal aufbauen muss.
Ich habe in meiner Geschichte einige enttäuschende Erlebnisse mit Menschen gehabt, die mich tief verletzt haben, und ich merke noch heute die Auswirkungen davon. So fällt es mir nicht leicht, mich neuen Menschen zu öffnen und Vertrauen zu fassen, da immer eine gewisse Angst mitschwingt, bereits Erlebtes könnte sich wiederholen. An meinen Kindern sehe ich, wie schnell sie davon sprechen, dass sie »einen besten Freund« oder eine »beste Freundin« haben, und dies zwischen heute und morgen durchaus jemand anders sein kann.
Dieses kindliche Freundschafts-Empfinden habe ich als Erwachsene nicht mehr und ich merke, dass ich manches regelrecht kaputtdenke:
• Wie gut ist eine Freundschaft?
• Komme ich dem anderen so nah, dass ich ihm oder ihr vielleicht auf die Nerven gehe – der andere aber nur zu viel Anstand hat, um es mir zu sagen?
• Was teile ich mit wem, was teilen andere mit mir?
• Ist eine Freundschaft stark genug, dass ich auch Kritik üben kann und sie sogar mal einen handfesten Streit aushält?
• Kann ich den anderen in einer Notsituation mitten in der Nacht anrufen? Oder sind wir noch nicht so weit?
Hinzu kommt für mich persönlich, dass ich mich mit Job, Ehe, Kindern, Ehrenämtern etc. auch nicht mehr so leicht mal eben verabrede, wie es früher noch möglich war. Die Terminkalender von zwei (oder mit befreundeten Ehepaaren sogar vier) Individuen jenseits der dreißig nebeneinanderzustellen und eine gleichzeitige Lücke zu finden, reicht bisweilen an ein Wunder heran! »Ich möchte lernen, Gast zu werden im Leben des anderen!«, heißt es in dem Buch »Herzheimat« von Daniela Mailänder.7 Wie treffend. Ja, das ist Freundschaft! Das will ich – denn es klingt gut und erstrebenswert. Aber wenn ich ehrlich mit mir selbst bin: Habe ich dazu wirklich Kapazität und Kraft? Sind die Themen meines Lebens nicht ausreichend, um meine ganze Festplatte zu belegen? Und wenn der andere mir sein Lebensland zeigt – bin ich dann auch bereit, an seinen Baustellen mit Hand anzulegen, wenn ich um Hilfe gebeten werde?
Ein noch minenreicheres Feld ist vielleicht das Gebiet Glaube und Gemeinde. Auch hier möchte ich noch einmal betonen, dass beides in seiner Ursprünglichkeit vor Weite und Freiheit nur so strotzt. Doch der von einem unperfekten Menschen gelebte Glaube und das Zusammentreffen von unperfekten Menschen in einer Gemeinde lassen das Potenzial für Schwierigkeiten nur so in die Höhe schnellen.
Für mich gilt: Genau wie alle anderen Themen meines Lebens hat mein Glaube bereits eine Geschichte. Ich habe Gutes und Wunder erlebt, habe Dinge verstanden und erfasst und durfte schon so oft erleben, wie mein Glaube gewachsen und stärker geworden ist. Doch zugleich holen mich auch immer wieder dieselben Themen und Probleme ein:
• Wie gehe ich mit Enttäuschungen um? Den Punkten, an denen ich Gott einfach nicht verstehe?
• Wie lerne ich Vertrauen entgegen aller Vernunft?
• Kann ich das Wachstum meines Glaubens begünstigen oder hemmen?
• Wie viel liegt im Glauben an mir, wie viel ist Gottes Part?
• Mache ich Dinge wie Stille Zeit oder den Gottesdienst besuchen, weil ich sie brauche? Oder habe ich sie erlernt und gar nicht bemerkt, dass sie mit der Zeit zu leeren Ritualen geworden sind? Kann ich sie wieder mit Leben füllen?
• Wie sieht es mit meinem Gottesbild aus? Ist es starr oder weit? Entspricht es der Realität oder ist es durchzogen von Lügen, die mir aber vielleicht gar nicht bewusst sind?
• Und wie gehe ich damit um, wenn ich in sogenannten Wüstenzeiten überhaupt nichts von Gottes Gegenwart, Liebe oder Fürsorge spüre?
Das alles ist natürlich eng verknüpft mit der Gemeinde. In der heutigen Zeit gibt es unzählige Gemeindeformen: von hip bis konservativ, von missional bis charismatisch, von liturgisch bis frei von jeglicher Form. Die Weite ist positiv gemeint, kann aber auch total überfordern:
• Halte ich es in meiner kleinen, vielleicht alten Gemeinde aus und versuche, mitzugestalten und zu verändern?
• Oder gehe ich und suche mir auch eine junge, frische, moderne Gemeinde, weil es leichter ist? Aber ist es dort wirklich leichter, besser?
• Und ist mein Befinden in der Gemeinde überhaupt ein zulässiger Gradmesser dafür, ob ich richtig bin? Heißt Glaube nicht auch schon mal durchhalten? Mich investieren und kämpfen?
• In dem bereits angesprochenen vollen Alltag stellt sich noch eine weitere Frage: Wie viel Gemeinde ist »genug«? Wo bringe ich mich ein, wo grenze ich mich ab? Muss ich überall mithelfen, wo es »brennt« – auch wenn die Arbeit unter Kindern oder Beamerdienst überhaupt nicht meinen Gaben entspricht?
Bis hierher ging es nur um Gemeindeformen und persönliches Engagement in der Gemeinde. Von den zahlreichen Konflikten, die die verschiedenen Menschen mit ihren verschiedenen Ansichten und Geschmäckern mit sich bringen, will ich erst gar nicht sprechen …