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4: Dienstag, 11. Februar 2003
Оглавление„Jetzt können Sie das Kostüm endgültig wegschmeißen“, stellte er fest.
„Na und?“, antwortete ich und lehnte den Kopf müde an die stählerne Wand. „Glauben Sie, ich brauche in diesem Leben noch mal ein Kostüm? Ist doch egal...“
„Dass Frauen immer gleich so übertreiben müssen – Sie finden schon wieder einen Job.“
„Klar doch. Irgendwas Simples, das meine bescheidene Intelligenz nicht überfordert – das wollten Sie doch sagen, oder?“
„Wem der Stiefel passt – he!“ Ich blinzelte desinteressiert; er wühlte wieder im Koffer herum. „Haben Sie etwa Ihr Handy gefunden?“
„Nein – aber was Essbares!“ Triumphierend hielt er einen etwas zerdrückten Schokoriegel hoch und packte ihn dann genussreich aus – man sah ihn förmlich sabbern. Ich hob das Kinn und beschloss, über solche niedrigen Begierden erhaben zu sein. Er schmatzte unüberhörbar.
„Wo haben Sie denn Tischmanieren gelernt?“, giftete ich.
„Wollen Sie ein Stück?“
Das überhörte ich vornehm, aber als nur noch ein kleines Stück übrig war, wurde ich schwach. „Doch!“ Ich bekam ein angebissenes Stück schokoladeüberzogenes Karamell, leider ohne Nuss darin, und lutschte es genüsslich. Mein Gegenüber sah merklich zufriedener drein. „Wollen Sie nicht noch rülpsen?“, fragte ich, als ich mir die letzten Reste der Köstlichkeit aus den Zähnen gelutscht hatte. „Warum sollte ich?“
„Es würde das Geschmatze von eben nett abrunden.“
„Tja – ich wusste eben, was Sie erwarteten. Aber sorry, einen Rülpser kann ich mir jetzt nicht abquälen. Vor zwanzig Jahren, ja...“
„Jaja, die Studentenzeit...“
Er warf mir einen giftigen Blick zu. „Ich konnte mal meinen ganzen Namen rülpsen!“ Ich lehnte den Kopf wieder an die Wand und sah nach oben in die trübe grünliche Funzel. „Ich bin tief beeindruckt. Kann ich ein Autogramm haben?“
„Ich habe meine Hochglanzfotos und den goldenen Stift leider nicht dabei.“
„Tatsächlich? Ich dachte, damit haben Sie ihren Koffer vollgestopft – falls wider Erwarten doch mal ein Fan vorbeikommt.“ Er lachte ärgerlich. „Für Ihr Mundwerk brauchen Sie wirklich einen Waffenschein.“
„Sie wecken eben meine niedrigsten Instinkte. Ihre Schuld, nicht meine. Bei vernünftigen Leuten bin ich eigentlich ganz friedlich.“
„Ich bin also unvernünftig?“
„Wem der Stiefel passt...“
„Billig, billig. Retourkutschen – fällt Ihnen nichts Besseres ein?“
Ich blinzelte träge. „Warum soll ich mich in geistige Unkosten stürzen?“
Er schnaufte verächtlich und wühlte wieder in seinem Koffer herum.
„Noch was zu essen? Oder doch Autogrammkarten?“, erkundigte ich mich nachsichtig. „Nein... da war doch – wo hab ich´s denn? Ha!“ Er hielt eine kleine Plastikschachtel hoch. „Funkgerät? Minisender? Werkzeugkoffer? Sprengsatz? Haben Sie das von Q bekommen?“
„Freut mich, wenn ich Sie an James Bond erinnere!“ Er lächelte geschmeichelt. „Bilden Sie sich keine Schwachheiten ein. Sie sind höchstens einer von den Kerlen, die in der Pretitle-Sequenz draufgehen.“
Das Lächeln erstarb, bis sein Blick wieder auf das Plastikding fiel. „Jedenfalls sind Sie nicht imstande, zu erraten, was ich hier habe.“
„Palmtop. Wollen Sie jetzt Freecell spielen?“
„Falsch.“
„Survival Kit mit Eiweißpillen?“
„Auch falsch.“
„Heftpflaster, weil Sie mich anders nicht mundtot machen können?“
„Bilden Sie sich bloß nichts ein. Ich lasse Sie doch dauernd gewinnen, schließlich habe ich ja mal gelernt, dass man kleine Mädchen nur mit halber Kraft verprügeln darf. Wieder falsch. Alle drei Versuche verplempert.“
„Blöder Angeber. Wie der Fuchs und die sauren Trauben. Was heißt überhaupt, kleine Mädchen? Ich bin nicht klein.“
„Aber noch nicht trocken hinter den Ohren. Sie sind doch höchstens – na, dreißig?“
„Fünfundzwanzig!“, fauchte ich. „Ich könnte Ihre Tochter sein, und trotzdem bin ich erwachsen!!“
„So frühreif war ich auch wieder nicht. Wie fünfundzwanzig sehen Sie auch nicht aus.“
„Jaja, ich weiß, alt und fett. Was ist denn jetzt da drin?“
„Also doch neugierig?“
„Quatsch! Nageln Sie sich das Ding doch ans Knie – mir doch egal.“
„Sehr glaubhaft. Irgendwie müssen wir uns doch die Zeit vertreiben, bis dieser Hausmeister mit seinem Rundgang fertig ist. Es ist schon nach neun.“
„Wem sagen Sie das! Meine Firma ist das ja nicht. Sie tun mir Leid, dass Sie hier arbeiten müssen.“
„Ach ja? Ich kann mir vorstellen, dass Leute, die gar keine Arbeit hätten, froh wären, wenn sie hier arbeiten dürften. Solange sie nicht nach halb acht in den Aufzug steigen...“
„Reiben Sie es mir nur rein! Wetten, morgen Nachmittag hab ich wieder einen Job?“
„So viele Agenturen mit Bedarf an –hm- eigenwilliger Präsentation gibt es in Leisenberg auch nicht.“
„Blödmann. Außerdem hab ich nicht von Agenturen gesprochen, oder? Ich nehme alles, und wenn´s Hamburgerbraten ist.“
„Sie spinnen ja!“
„Ach ja? Von irgendwas muss sogar so was wie ich leben, so lange hält der Hüftspeck auch nicht vor, und die Miete für meine Slumbude kann ich damit auch nicht bezahlen. Was ist jetzt da drin?“
„Sie lenken doch dauernd ab!“
„Gar nicht wahr! Sie haben damit angefangen, dass es schon nach neun ist. Ich wollte bloß höflich sein.“
„Sie – und höflich? Sie sind unverschämt, seitdem ich Sie in diesem Lift erwischt habe!“
„Unverschämt? Und was sind dann Sie? Rotzlöffel!“
„Nana! Solche Ausdrücke machen Sie aber ganz schön alt...“ Er grinste schon wieder. „Was ist da jetzt drin? Und lassen Sie mich bloß nicht wieder raten.“
„Warum eigentlich nicht? So vergeht die Zeit doch auch ganz nett. Na gut, ich will mal gnädig sein...“
„Den herablassenden Ton können Sie sich sparen“, fauchte ich, schlug wohl zum hundertsten Mal auf den Notrufknopf und wandte mich dann schmollend ab. „Sind wir jetzt eingeschnappt?“, erkundigte er sich mit seidenweicher Stimme. Ich schwieg. „Na gut, dann spiele ich eben alleine damit. Linke Hand gegen rechte Hand... auch lustig. Wenn Ihr blödes Handy ginge, könnten wir schließlich Hilfe rufen.“
„Wenn ich gewusst hätte, wie vorsintflutlich diese Bude ist, hätte ich es heute Morgen noch aufgeladen. Ob ich zu spät gekommen wäre, wäre bei dieser Präsentation auch schon egal gewesen.“
„Da sprechen Sie ein wahres Wort gelassen aus.“
„Großes.“
„Was?“
„Du sprichst ein großes Wort gelassen aus. So heißt das Zitat!"
„Wenn schon. Sie wissen doch nicht mal, woher das ist!“
„Goethe, Iphigenie auf Tauris. Tun Sie nicht so, als hätten Sie die Bildung gepachtet!“
„Was Sie wissen, weiß ich schon lange!“
„Wollen Sie mich zu einem kleinen Quiz provozieren?“
„Keine blöde Idee – auch wenn Sie von Ihnen ist. Okay, hier kommt die erste Frage: Wer hat wann gesagt Das ist nicht der Anfang vom Ende, aber vielleicht das Ende vom Anfang?“
Verdammt, schwierige Frage – und ich durfte mich jetzt nicht blamieren. Obwohl, mit dem Iphigenie-Zitat hatte ich doch schon ganz gut vorgelegt, oder?
„Wollen Sie mir nicht die vier üblichen Alternativen vorlegen?“
„Nein. Wir spielen streng.“
Schade. Hm. Verflixt. Es klang so entschlossen, so nach „Wir fangen an, etwas dagegen – wogegen? – zu unternehmen.“ Ich hatte nicht den leisesten Schimmer. „Wolfgang Clement?“
„Falsch. Winston Churchill, 1940. Eins zu null.“
„Eins zu eins! Ich hab das Zitat richtig gewusst.“
„Da haben wir doch noch gar nicht gespielt. Eins zu null.“
„Na gut – wenn Sie das brauchen, um nicht total zu verlieren... Ich gönn´s Ihnen. Welcher Tag ist Ein Datum der Schande – und wer hat das gesagt?“
„Das haben Sie gerade erfunden.“
„Blödsinn. Glauben Sie, so was hab ich nötig?“
„Garantiert. So weit wird´s mit Ihrer Allgemeinbildung auch nicht her sein.“
„Lenken Sie nicht ab. Wissen Sie´s oder wissen Sie´s nicht?“
„Klar weiß ich das! Moment – ich hab´s gleich... ja, genau. Franklin Roosevelt, über den 7. Dezember 1941. Na?“
„Richtig“, musste ich zugeben.
„Zwei zu null!“
„Was – was ist denn das für eine Zählweise? Wofür wollen Sie denn zwei Punkte haben?“
„Na, für die Frage vorhin, die Sie nicht gewusst haben!“
„Moment mal! Dann krieg ich jetzt für meine Frage aber auch einen Punkt!“
„Wieso? Ich hab´s ja gewusst, oder?“
„Quatsch. So spielen wir nicht. Einen Punkt gibt es überhaupt nur für eine richtige Antwort. Es steht eins zu null für Sie, basta.“
„Na, wenn Sie das glücklich macht... Okay, ich weiß was: Was sind Reverse Floaters?“
„Reverse Floaters... Hm. Wertpapiere?“
„Genauer!“
Wertpapiere waren also schon mal richtig. Floaters... das klang nach flexiblen Kursen – oder Zinssätzen... Reverse... irgendwie umgekehrt... „Anleihen mit variablem Zinssatz. Je höher irgendein fester Zins, desto niedriger der Satz der Anleihen.“ Triumphierend sah ich ihn an.
„Na gut. Sie wissen zwar garantiert nicht, was als Basiszins genommen wird -“
„Muss ich auch nicht, das haben Sie nicht gefragt!“
„Kriegen Sie sich wieder ein, ich lasse es ja gelten.“
Ich dachte scharf nach, dann wusste ich etwas Fieses. „Wie lautet die Formel für doppelkohlensaures Natron?“
„Puh – bin ich hier in der Schule?“
„Verdammt lang her, was?“, feixte ich. Das war übrigens auch eine gute Frage – gleich merken! „Weil Sie in der Schule so gut waren, was?“
„Was hatten Sie für einen Durchschnitt?“
„Zwei eins. Ist das jetzt eine neue Frage?“
„Nein. Nur Konversation am Rande. Ich hatte eins neun, ätsch!“
„Und ich hab einen Job.“
„Ratte.“
„Provozieren Sie mich eben nicht. Diese Scheißformel...“
„Ich warte... Noch eine Minute...“ Anzüglich sah ich auf meine Uhr, die ich mittlerweile im grünen Dämmerlicht recht gut ablesen konnte. Schon kurz vor zehn? Verdammt, diesen Hausmeister würde ich feuern, wenn ich hier was zu sagen hätte! „Die Minute ist um. Na?“
„Keine Ahnung. Wissen Sie´s überhaupt selbst?“
„Natriumbicarbonat - Na2 (CO3). Das hört man doch schon an der Bezeichnung, wenn man ein bisschen was von Chemie versteht!“
„Hab ich nie behauptet. Bei uns haben bloß die Weicheier Chemie weiter genommen, die coolen Typen hatten Physik.“
„Lieber anständige Noten als ein cooles Fach, in dem man nichts rafft. Bei uns waren die Leute vernünftiger.“
„Was heißt bei uns?“
„Mariengymnasium.“
„O Gott – eine Jungfrau! Ich war natürlich auf dem Leo…“
„Ein eingebildeter Poldi... bloß gut, dass mich hier keiner sehen kann, wie ich mich mit einem Poldi abgebe!“
„Nur kein Neid. Okay, eins zu eins. Wie heißt die Grand-Prix-Strecke in Japan?“
Ich sah ihn verächtlich an. „Suzuka. Zwei zu eins!“
„Schön für Sie. Nächste Frage!“
Ich dachte scharf nach. Mit typischen Frauenfragen konnte ich bestimmt punkten, aber die Kommentare konnte ich mir dann schon wieder vorstellen. Blöder Macho – wer interessierte sich denn schon für den Grand Prix? Grand Prix - Musik – Superstar... genau!
„Wie heißt der schräge Daniel aus Eggenfelden mit Nachnamen?“
„Welcher schräge Daniel?“
„Von Deutschland sucht den Superstar.“
„Wenn Sie sich so was reinziehen, wundert es mich nicht, dass Sie keine Präsentation über die Bühne bringen.“
„Das kennt man auch, wenn man es nie gesehen hat, aus dem Radio. Also?“
Er dachte scharf nach, den Blick an die Decke gerichtet. Ich hörte förmlich die kleinen Rädchen in seinem Hirn rattern. „Kübler.“
„Letztes Wort?“
„Ja, verflixt.“
„Knapp daneben ist auch vorbei. Küblböck. Drei zu eins!“
„Scheißspiel“, knurrte er. „Was, schon zehn durch? Wenn ich diesen Hausmeister in die Finger kriege!“
„Nicht ablenken. Sie sind dran.“
„Wenn´s sein muss...“
„He, wer hat denn mit dem Spiel angefangen? Ihnen macht so was wohl auch nur Spaß, solange Sie gewinnen, was? Der totale Atavismus.“
„Lassen Sie mich raten – Sie lesen in Ihrer Freizeit den Fremdwörterduden und sind immer noch bei A.“
„Haha. Haben Sie jetzt eine Frage oder fällt Ihnen nichts mehr ein?“
„Ich hab jede Menge Fragen. Wer wird deutscher Meister?“
„Im Fußball? Soll ich jetzt eine Prophezeiung abgeben? Bayern, wer sonst.“
„Genehmigt“, sagte er mit giftigem Blick.
„Vier zu eins. Wer spielt die weibliche Hauptrolle in Titanic?“
„Pures Weiberwissen. Aber ich muss Sie enttäuschen – Kate Winslet.“
„Vier zu zwei. Sie halten sich ja gar nicht so schlecht!“
„Lassen Sie diesen gönnerhaften Ton, dazu haben Sie gar keinen Grund.“
„Jaja, ich weiß schon – Sie haben einen Job, und ich hab keinen mehr. Sonst fällt Ihnen nichts ein?“
Er griff wieder nach dem Plastikpäckchen. „Wie wär´s damit?“
„Keine Ahnung. Sie verraten ja nicht, was das sein soll – ein Gameboy?“
„Diese Jugend von heute!“, seufzte er und warf mir einen verächtlichen Blick zu. „Wenn es keinen Chip drinhat, kann man nicht damit spielen oder was?“
„Woher soll ich das wissen?“ Er öffnete die Schachtel. Autoquartett!
„Okay“, sagte ich, „aber nur, wenn Sie richtig spielen.“
„Was heißt denn richtig?“
„Jeder kriegt die Hälfte, einer sagt einen Wert, der andere den entsprechenden auf seiner Karte, und wer mehr hat, bekommt die Karte des anderen. Wer am Schluss die meisten Karten hat, hat gewonnen.“
Er sah mich großäugig an. „Na logisch! Wie soll man das sonst spielen?“
„Es gibt Leute, die spielen damit Quartett. So, wie´s draufsteht.“
Er schnaubte abfällig. „Babys. Wir spielen richtig.“
Ich zählte unauffällig meine Karten – na bitte!
„Das sind nur fünfzehn. Sie bescheißen ja!“
Wütend wählte er eine Karte aus – sicher ein lahmarschiger Kleinwagen! – und reichte sie mir. „Korinthenkackerin!“
„Betrüger!“
„Zweihundertvierzig Spitze.“
Ich hatte den Kleinwagen noch obenauf. „Hundertsechzig. Was – nie fährt der hundertsechzig, da fliegen ja die Schrauben raus!“, maulte ich. Er kassierte die Karte wieder ein.
„Neunhundertzwölf Kilo Gesamtgewicht.“
„Elfhundert“, triumphierte ich.
„Was? Herzeigen! Das glaub ich nicht.“
Ich hielt ihm die Karte unter die Nase, und er seufzte enttäuscht. „Tatsächlich. Na gut, hier.“
„Sie dürfen nicht immer von sich auf andere schließen. Ich spiele ehrlich“, sagte ich freundlich. „Hundertfünfundneunzig PS.“
„Hundertachtzig. Scheiße.“
Das machte ja richtig Spaß! Nach einer Stunde stellten wir fest, dass immer noch - oder schon wieder – jeder sechzehn Karten hatte, und erklärten die Partie für unentschieden.
Mein Magen knurrte, und allmählich wäre mir eine Toilette als recht sympathischer Ort erschienen. „Schade, dass es hier keinen Eimer in der Ecke gibt“, sagte mein Leidensgefährte – wie hieß der eigentlich? Nein, ich würde nicht fragen, cooles Desinteresse war angesagt! – genau in diesem Moment. „Das Leben ist unfair“, antwortete ich. „Von einem Eimer hätten auch bloß Sie was.“
Er verdrehte die Augen zum Himmel. „Nicht schon wieder! Bei jeder Fete an der Leiß und im Prinzenpark haben wir das zu hören gekriegt – die Jungs nehmen einfach den nächsten Baum, und die Mädchen landen mit dem Hintern in den Brombeerstacheln.“
„Weil´s wahr ist! Übrigens stimmt es nicht, dass ein Mann, der muss, auch immer gleich einen Baum sieht.“
„Ach nein?“
„Nein, umgekehrt: Ein Mann sieht einen Baum – und dann muss er auch. Reviermarkierung, wahrscheinlich.“
„Männer sind doch keine Tiere!“ Jetzt war er ernsthaft sauer. Ich lächelte fein und verbiss mir weitere Anmerkungen zur tierischen bzw. steinzeitlichen Natur des Menschen. Giftige Blicke, längere Zeit. Haha. Schließlich stützte er das Kinn in die Hand und starrte auf den Boden, der tatsächlich recht schmutzig war. Kein Wunder, hier waren den ganzen Tag Leute mit Schneematsch, Streusalz und Rollsplitt an den Stiefeln ein- und ausgegangen.
Ich studierte ihn unauffällig. Nullachtfuffzehn. Braune Haare, normale Frisur, normales Gesicht, nicht hässlich, aber auch keine Starqualitäten, ein bisschen unrasiert. Den würde ich auf der Straße wahrscheinlich in ein paar Tagen schon nicht wieder erkennen. Ja, und? Ich sah ihn doch nie wieder, was hatte ich bei Hamm schon noch zu suchen! Es sei denn, natürlich, ich kriegte einen Job bei einer Gebäudepflegefirma und wurde hier zum Putzen eingeteilt.
Grausiger Gedanke – hier oder bei MediAdvert putzen zu müssen!
„Ich sehe was, was Sie nicht sehen, und das ist rot“, fing er da wieder an.
Rot? Hier war doch nichts rot? Alles schwarz, grau und weiß...
„Die Notruftaste“, schlug ich vor. „Nein.“
„Wenn Sie ihre Krawatte meinen, die ist rosa. Aber kein Statement, oder?“
„Was soll das – he! Glauben Sie, ich bin schwul?“
„Eben nicht. Dann hätten Sie sicher bessere Manieren. Also, die Krawatte ist nicht rot... sonst gibt´s hier nichts.“
„Doch.“
„Ihre versaute Jackentasche.“
„Nein.“ Zorniger Blick. „Ich geb´s auf.“
„Ihre Nasenspitze. Jetzt hat sich die Schminke endgültig aufgelöst.“
„Die hat sich spätestens heute Mittag schon verabschiedet. Na und? Hier sieht mich doch keiner.“ Sehr gut – er schaute verkniffen drein. Und jetzt brauchte ich noch einen Hammer, um es ihm so richtig heimzuzahlen!
Ich sah mich suchend um. Kriegte er nicht vielleicht einen Pickel mit gelbem Köpfchen? Nein, leider, eine makellose Haut. Die gönnte ich ihm auch nicht.
Hm...
Da! Seine schauerliche rosa Krawatte hatte sich verdreht, und das Etikett war grün und gold. „Okay... ich sehe was, was Sie nicht sehen, und das ist grün.“
„Grün? Hier ist absolut nichts grün!“
„Meinen Sie?“
Er sah sich suchend um und studierte geradezu beleidigend genau mein Äußeres. „Nein, kein Schlamm am Schuh... Richtig schlecht scheint Ihnen auch noch nicht zu sein – der Tür auf – Knopf?“
„Nein, den meine ich nicht.“
Er überlegte fleißig weiter, aber in diesem Moment klopfte es an die Lifttür – ganz oben, merkwürdigerweise. „Hallo?“
„Ja!“, brüllten wir im Chor. „Wir wollen hier raus, uns ist langweilig!“, fügte ich hinzu.
„Langweilig?“, fragte dieser Schnösel sofort nach. „ich amüsiere mich königlich. Nur kleine Geister langweilen sich.“
„Wenn ich hier endlich wegkann, bin ich gerne ein kleiner Geist“, fauchte ich.
„Hallo? Ich hab den Notdienst verständigt!“ Es klang etwas dumpf durch die Tür. „Der Lift hängt leider zwischen zwei Etagen fest. Es dauert aber nicht mehr lange!“
„Das hat ein Nachspiel“, rief mein Leidensgefährte, „wir drücken seit acht Uhr auf den Knopf!“
„Ehrlich? Dann muss das Licht im Hausmeisterbüro kaputt sein. Tut mir leid.“ Ich grinste. Gegen einen selbstbewussten Hausmeister war kein Kraut gewachsen, das kannte ich aus der Rheinbergerstraße – der Krawetzki machte auch, was er wollte, und die lautesten Arbeiten vorzugsweise am Sonntagmorgen, weil er Langschläfer hasste. Beschwerden perlten an ihm ab, als sei er imprägniert. Der hier schien ein Bruder im Geiste zu sein, jedenfalls klang er kein bisschen zerknirscht. Der Lift fuhr an, ruckte, knirschte und blieb wieder stehen. Das gefiel mir nun weniger, und ihm anscheinend auch nicht.
„Kennen Sie diesen Film, wo die Liftseile nacheinander reißen?“, fragte er.
„Sie sehen ein bisschen blass aus“, stellte ich fest. „Ja, den kenne ich. Da hat doch wieder ein korrupter Ingenieur statt der richtigen Stahlseile irgendwas Billiges genommen, oder? Oder war das Flammendes Inferno?“
„Eiskalt“, sagte er, und mir schien, als klänge etwas widerwillige Bewunderung in seiner Stimme mit.
„Soll ich hier hysterisch rumkreischen?“
„Muss nicht sein, so scharf bin ich auch nicht darauf, Ihnen eine zu scheuern.“
„Das würden Sie nicht wagen!“ Dieser Mistkerl!
„Das macht man doch so bei hysterischen Anfällen, oder? Ich müsste mich natürlich sehr überwinden, aber im Dienste der allgemeinen Ruhe und Ordnung könnte ich mich opfern...“
„Blutenden Herzens, was?“ Ich musste grinsen. Er grinste zurück. „Klar, was sonst?“
Das Grinsen wurde uns schnell vom Gesicht gewischt, denn der Lift ruckte wieder. „Hoppla“, meinte ich und hoffte, dass man meiner Stimme nicht anmerkte, wie wenig mir das gefiel. Wieder trat Stille ein, abgesehen von – verdächtigen? erfreulichen? – Geräuschen, die gedämpft durch die Lifttüren drangen. Mehrere Stimmen?
„Mir scheint, der Notdienst ist da“, stellte mein spezieller Freund fest und sah mich abwartend an. „Endlich raus hier“, seufzte ich exstatisch, dabei war ich eigentlich nur noch müde. Und hungrig. Außerdem hatte ich Kopfweh und musste langsam mehr als nötig aufs Klo. Fast halb zwölf...
Ich rappelte mich mühsam wieder auf die Beine, arrangierte den Rock so, dass man wenigstens die obere Laufmasche nicht mehr sah, und schlüpfte in den Regenmantel, der mir in dem Schneesturm, der draußen garantiert tobte, auch nicht viel nützen würde. In der anderen Ecke wurde der bescheuerte Pilotenkoffer zugeklappt, die Schlösser schnappten zackig ein. Der Lift ruckte wieder, aber dieses Mal fuhr er – etwa einen Meter, dann öffneten sich die Türen und wir blickten auf das Innenleben einer Zwischendecke.