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DIE WÜRDE DER SCHWACHEN
ОглавлениеWas ist mit dem Kranken selbst? Soll man mit ihm über die Diagnose sprechen? Sicher, wenn er selbst Klarheit wünscht, muss er sie erhalten. Vielen bleibt die Situation, in der ihre Befürchtungen zur Gewissheit wurden, als beklemmend in Erinnerung. Vor allem in frühen Phasen der Erkrankung löst die Diagnose Schock, Scham und Verzweiflung aus. Dann helfen nur Gespräche und liebevolle Zuwendung. Im Idealfall schafft es ein Erkrankter, seinen Angehörigen zu sagen: »Tut mir leid, mein Gehirn lässt mich jetzt immer öfter im Stich. Ich hoffe, ihr helft mir, mit der Situation umzugehen.« Damit stärkt er sicher den Zusammenhalt und bahnt den Weg für liebevolle Pflege.
Doch oft wollen Betroffene gar nicht informiert werden oder haben keine Einsicht in ihren Zustand und glauben gar, nicht beeinträchtigt zu sein. Andere schützen sich intuitiv davor, mit dem Nachlassen ihrer geistigen Fähigkeiten konfrontiert zu werden, und versuchen auf diese Weise, ihr Selbstwertgefühl zu erhalten. Wer hätte dann das Herz, einem so verletzlichen Menschen die Wahrheit aufzuzwingen? Außerdem gehen Fachleute davon aus, dass es vielen Betroffenen sogar schon in der Frühphase schwerfällt, ihre Erkrankung selbst einzuordnen.
Im Anfangsstadium von Demenzerkrankungen können regelmäßige Übungen von Alltagstätigkeiten zwar durchaus zu einer Steigerung der trainierten Leistung führen. Und sie verbessern auch tatsächlich das Wohlbefinden der betroffenen Menschen, weil sie ihnen das Gefühl geben, selbst etwas gegen ihre Erkrankung unternehmen zu können. Leider aber wirken sich diese Maßnahmen nicht direkt auf die Bewältigung der Erkrankung und des Alltags aus.
Alltagsgeschichten
DÄMMERUNG IM KOPF
An einem frühen kalten Morgen kurz nach seinem 70. Geburtstag saß der ehemalige Deutschlehrer vor seiner Haustür auf dem Boden, als der Zeitungsbote kam. Er trug seine gewohnten alten Schlappen und eine Schlafanzugjacke, aber keine Hose. Seine beiden erwachsenen Kinder, die mit ihren Familien im oberen Teil des Hauses wohnten, hatten nicht bemerkt, dass er lange vor der Morgendämmerung vor die Tür gegangen war. »Was tun Sie in der Kälte hier?«, fragte der Bote, der nicht gewohnt war, zu dieser Zeit jemanden vor dem Haus zu treffen, und dem die Blöße des Mannes peinlich war. »Die Tür geht nicht auf« war die Antwort. Der Bote drückte gegen die angelehnte Tür. Sie klemmte ein bisschen, öffnete sich dann aber. Das war die erste Begegnung der beiden.
RENDEZVOUS OHNE GLAMOUR
Sie trafen sich in den nächsten Wochen häufiger. Mal stand die Eingangstür offen und der Siebzigjährige wanderte im Garten umher, manchmal begegneten sie sich an der Straßenecke. Der Zeitungsbote hatte sich angewöhnt, den Mann ins Haus zurückzubringen: »So, jetzt gehen Sie wieder ins Bett!«, sagte er dann und drückte ihm die Zeitung in die Hand. Irgendwann kam er nach dem Ende seiner Liefertour zurück und klingelte im ersten Stock. So erfuhr die Familie von den Irrwegen des Vaters.
DAS RICHTIGE TIMING FÜR KOHLRABI
Auf die Fragen, was er draußen wolle und warum er so früh morgens schon unterwegs sei, antwortete der Mann ausweichend. Schließlich holte sich seine Schwiegertochter beim Hausarzt einen Termin mit dem Hinweis, ihr Schwiegervater werde seltsam. »Sie waren lange nicht hier, Ihr Blutdruck ist etwas zu hoch«, konstatierte der Arzt bei der Untersuchung. »Wir sollten ein großes Labor machen.« Dann fragte er seinen langjährigen Patienten nach seinem schönen Garten und ob er schon Kohlrabi gepflanzt hätte. Der Mann schüttelte stumm den Kopf. »Nein, dieses Jahr nicht?«, hakte der Arzt nach. »Ist es nicht an der Zeit? Welchen Monat haben wir eigentlich? Juni? Oktober?» »Ja, Oktober«, nickte der verunsicherte Patient. Der Kalender im Sprechzimmer zeigte den Monat April.
Schließlich besprach der Arzt seine Diagnose mit den Angehörigen. »Ihr Vater«, sagte er, »ist örtlich und zeitlich nicht orientiert. Es könnte sich um eine Alzheimer-Demenz handeln. Ich überweise Sie am besten an die Spezialisten einer Gedächtnisambulanz.« Dort erfuhr die Familie nach ausführlichen Untersuchungen von einem sehr zugewandten Arzt die Diagnose: gemischte Demenzform.
Gegenwehr! Wenn Angehörige nichts von der Demenz wissen wollen
Nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch Angehörige, die einen zunehmend Vergesslichen pflegen, wehren sich manchmal vehement gegen einen offenen Umgang mit der Krankheit und verbieten anderen Familienmitgliedern, darüber zu sprechen. Freunde, Nachbarn und Kollegen sollen nichts davon erfahren.
Dahinter steht die Sorge, wegen dieser Erkrankung ausgeschlossen oder gedemütigt zu werden. Das Verständnis für das Themenfeld Demenz ist in der Öffentlichkeit zwar bereits wesentlich größer als noch vor einigen Jahren. Aber noch immer verletzen uninformierte Zeitgenossen die Gefühle der Pflegenden und ihrer Schützlinge unabsichtlich, weil sie nicht wissen, wie sie mit ihnen umgehen sollen. Es bleibt einiges zu tun, bis ein zerfallendes Gedächtnis in unserer Gesellschaft so selbstverständlich angenommen wird wie jede andere chronische Erkrankung.
Nach der Diagnose wissen Angehörige endlich, warum sich der geliebte Mensch in ihrer Mitte so verändert hat. In gesunden Zeiten beharren in diskussionsfreudigen Familien vielleicht alle auf ihrem Recht, sind schnell ungeduldig und genervt. Jetzt wird unumstößlich klar, dass das keinen Sinn mehr hat: Denn einer in der Runde kann hier nicht mehr mithalten, versteht nicht, was die anderen sagen, oder kann gerade keine passende Antwort finden.
DIE MEISTEN ANGEHÖRIGEN SIND ERLEICHTERT, WENN ENDLICH EINE KLARE DIAGNOSE GESTELLT WURDE.
Gemeinsam und liebevoll
Offenheit und gute Informationen helfen, den Erkrankten besser zu verstehen. Nur so können wir Toleranz für sein Verhalten entwickeln, ihn gewähren lassen, Rücksicht nehmen und über manchen Flop gemeinsam gutmütig lachen. Haben die Menschen im Umfeld akzeptiert, dass sich einer in ihrer Mitte an viele Dinge nicht mehr erinnern kann, ist auch niemand mehr beleidigt, weil er den Namen des Enkels oder der Schwiegertochter nicht mehr weiß. Offenheit macht alles leichter. Dann lauert das Glück manchmal auch dort, wo wir es nicht suchen, etwa im Umgang mit einem weisen und lieben, aber sehr vergesslichen Menschen.