Читать книгу Demenz - gelassen betreuen und pflegen - Elisabeth Lange - Страница 6
WERBEN UM SCHUTZ UND VERSTÄNDNIS
ОглавлениеZum Glück ist Deutschland ein Land des langen Lebens. Menschen um die vierzig haben im Schnitt noch vier Jahrzehnte vor sich. Dass wir heute alle älter werden können, ist ein Erfolg unserer gebildeten und wohlhabenden Gesellschaft. Wäre es da nicht an der Zeit anzuerkennen, was wir eigentlich schon wissen? Dass nämlich das Gehirn im Alter oft nicht mehr so perfekt funktioniert wie in jungen Jahren. Und dass ebenso gilt, dass sich nicht jeder ältere Mensch, der vergesslich wird, auf dem Weg in eine Demenz befindet. Wie aber sieht er aus, unser gegenwärtiger Umgang mit der Vergesslichkeit?
Schauen Sie sich doch einmal die Szene an, die in dem Kasten auf der folgenden Seite beschrieben ist. Können Sie sich in dieses Geschehen und in die Stimmung auf der Zugreise hineinversetzen? In die lastende Schwere des Schweigens? Das Verschämte und Demütigende? Was alle fünf Reisenden in dem ICE-Abteil bedrückt, ist ein Tabu. Verhält sich jemand ungewöhnlich und versteht nicht, was sich gerade um ihn herum abspielt, sehen viele von uns lieber weg. Wir halten es sogar für höflich, so zu tun, als hätten wir überhaupt nichts bemerkt.
In unserem Beispiel leidet die Tochter stumm, weil sie zu wissen glaubt, wie die anderen Anwesenden über die Erkrankte denken. Ihre altersverwirrte Mutter ist derweil gestresst von der ungewohnten Situation. Sie leidet unter dem Nachlassen ihrer geistigen Fähigkeiten und reagiert doppelt empfindlich in der fremden und irgendwie starren, stummen Umgebung. Menschen mit einer Demenz haben nämlich meistens einen ausgeprägten Sinn für Stimmungen. Die logische Folge: Die ältere Frau will weg aus dieser für sie unverständlichen und bedrückenden Situation, sie will aussteigen.
WAS OFFENHEIT BEWIRKT – TEIL 1
Begeben wir uns auf eine Bahnreise. Fünf Menschen steigen am Hamburger Hauptbahnhof ins gleiche Abteil des ICE nach Frankfurt. Die beiden letzten, zwei junge Männer mit großen Rucksäcken, grüßen beim Eintreten freundlich in die Runde. Von einem älteren Herrn ernten sie dafür ein Lächeln und eine einladende Handbewegung.
Zwei Frauen, elegant in Blau und Grau, der Ähnlichkeit nach zu urteilen Mutter und Tochter, sind zu beschäftigt zum Grüßen. Sie verstauen ihr Gepäck. Die Ältere setzt sich zwar für Sekunden hin, steht aber sofort wieder auf, ergreift ihre Tasche und sagt: »Wir müssen aussteigen.« Ihre Tochter bleibt sitzen, hält den Kopf gesenkt, berührt die Ältere am Arm und antwortet leise: »Nein, Mutti, wir bleiben noch.« Die Mutter setzt sich zögernd wieder hin, steht aber kurz darauf erneut auf.
Im Lauf der nächsten Stunden wiederholt sich diese Szene fast wortgleich wieder und wieder. Ansonsten herrscht im Abteil Schweigen. Gegen Ende der Fahrt wirken Mutter und Tochter erschöpft, die mitreisenden Männer atmen erlöst auf, als sie das Abteil verlassen.
Offen für die Gefühlswelt eines Menschen mit Demenz
Die Erwartungen, die die Tochter bei der Zugreise an die Mitfahrenden hat, müssen überhaupt nicht mit deren Blick auf die alte Frau übereinstimmen. Nicht jeder hat persönliche Erfahrungen mit vergesslichen Menschen. Vor allem die Jüngeren denken oft, sie würden nur in Heimen gepflegt, und reagieren mit Verwunderung, wenn sie erfahren, dass derzeit in Deutschland zwei von drei Menschen mit einer Demenzerkrankung in den eigenen vier Wänden leben. Die Last tragen also weder Staat noch Gesundheitssystem, sondern es sind Angehörige, Freunde und Nachbarn, die sich über Jahre hinweg um Menschen mit nachlassenden geistigen Fähigkeiten kümmern. Fast zwei Drittel der pflegenden Angehörigen wünschen sich mehr emotionale Unterstützung. Offenheit kann helfen, diesen Wunsch zu erfüllen. Bereits in dem Moment, in dem wir anderen vom Wesen der Erkrankung erzählen, lindern wir unsere Sorgen, schwächen das gesellschaftliche Tabu und können auf Anteilnahme hoffen. Man muss dafür nicht einmal groß ins Thema einsteigen – es genügt, anderen offen über die Pflege eines Angehörigen zu erzählen. Wie erlebt man sie? Was ist daran schwierig? Was vielleicht auch berührend und bereichernd?
Es ist ja so: Die Erinnerung geht, die Gefühle bleiben. Wie sich durch Offenheit Nichtbetroffene in die Situation eines Pflegenden hineinversetzen können – so können wir auch versuchen, uns in die Lage des Erkrankten zu versetzen. Stellen wir uns einen Moment lang vor, wie es wäre, wenn wir uns auf das eigene Erinnerungsvermögen einfach nicht mehr verlassen könnten, weil der Kopf seinen Dienst verweigert.
Wie würden wir uns fühlen, wenn um uns herum alles jeden Tag ein bisschen unbegreiflicher würde, weil die Menschen oft viel zu schnell in einer schwer verständlichen Sprache reden? Was wäre, wenn Informationen, Erfahrungen und Eindrücke innerhalb von Minuten wieder verfliegen und wir sie weder festhalten noch zurückrufen könnten? Was wäre, wenn wir auf die Fragen der anderen keine Antwort mehr wüssten, wenn uns einfach nichts einfiele, was wir sagen könnten?
NUR WENN SIGNALE RASEND SCHNELL DURCH DIE FEINEN AUSLÄUFER DER NERVENZELLEN EILEN, FUNKTIONIERT DAS GEHIRN PERFEKT. EIN VERGESSLICHER KOPF DAGEGEN ARBEITET IN ZEITLUPE.
Wir würden uns zwar nicht mehr unbedingt an Fakten und Zusammenhänge erinnern, aber die Gefühle, die wir mit einer Situation verbinden, blieben uns erhalten. Dass mein Mann mir ein Parfum geschenkt hat, weiß ich vielleicht nicht mehr. Aber wenn mir dieser ganz bestimmte Duft in die Nase steigt, versetzt er mich immer in die warme Gewissheit, geliebt zu sein.
Umgekehrt könnten uns plötzlich Panik, Furcht und Bitterkeit ergreifen, wenn alte böse Erinnerungen ungewollt zurückkommen. So sehr wir auch versuchten, uns Klarheit zu verschaffen, würde es uns nicht gelingen, weil der Kopf es nicht mehr schafft, Vergangenes von der Gegenwart zu trennen. Wir würden die Welt – ganz wörtlich gemeint – nicht mehr verstehen und vielleicht vor Angst zittern, bis uns jemand liebevoll in den Arm nähme und uns beruhigte.
WAS OFFENHEIT BEWIRKT – TEIL 2
Wie wäre die Bahnreise verlaufen, wenn die Tochter den Mitreisenden das Verhalten ihrer Mutter mit einem Lächeln erklärt hätte? Natürlich ohne ihre Mutter zu beschämen. Vielleicht so: »Wir sind ja alle manchmal etwas geistesabwesend. Ich habe beim Aussteigen auch schon mal die falsche Haltestelle erwischt.« Die Tochter hätte dabei vielleicht die Hand ihrer Mutter gehalten. Wahrscheinlich müsste sie die Mitreisenden nicht einmal um Nachsicht bitten, denn fast jeder brächte dann Verständnis für die Verletzlichkeit der älteren Dame auf. Der Bann des unbehaglichen Schweigens wäre gebrochen.
Im Verlauf der Reise käme dann vielleicht sogar ein nettes Gespräch in Gang, das allen die Befangenheit nähme. Womöglich würden die Reisenden bald Geschichten über das Aussteigen am falschen Ort austauschen. Anekdoten zum Lächeln. Die entspannte angenehme Stimmung im Bahnabteil würde sich auf alle übertragen und die verwirrte Frau beruhigen. Sie würde vielleicht in die Gespräche einbezogen, würde sich beachtet und respektiert – und damit einfach wohl – fühlen. Am Ende wäre sie vielleicht eingenickt und hätte einen Teil der Reise verschlafen. Wer weiß?
In einer fremden Welt
Durch die pausenlosen Angriffe auf unsere geplagten Sinne würden wir uns aus reinem Selbstschutz immer mehr zurückziehen. Denn unser Gehirn wehrte sich dagegen, die ungezählten Sinneseindrücke und Empfindungen zu verarbeiten, von denen jede einzelne eine Gefahr bedeuten könnte. Dann läge unsere einzige Zuflucht im Traumkino alter schöner Erinnerungen.
Doch der Alltag bliebe. Manches, das wir früher locker nebenher erledigt haben, geriete zur unlösbaren Aufgabe. Einkaufszettel schreiben, Kaffee kochen, Schuhe zubinden, telefonieren, Brote schmieren: Hilfe, wie ging das noch gleich?
Fragte uns jemand, ob wir lieber Cola, Kakao, Kaffee oder Tee trinken möchten, wüssten wir keine Antwort, weil wir uns an den Geschmack der Getränke in diesem Moment nicht erinnerten. Panik könnte uns ergreifen, wenn der Fragende auf einer prompten Antwort besteht. Manchmal fiele uns vielleicht eine alte Ausrede oder ein passender Spruch ein, aber wir wüssten nicht, ob wir damit durchkommen und von den penetranten Erkundigungen erlöst würden.
Wenn die Fragen am Ende zu bedrängend wären, würden wir vielleicht sogar so zornig, dass wir am liebsten um uns schlagen würden, weil unser Unvermögen für die anderen so beschämend sichtbar würde. Doch das alles geschähe nur, wenn da keine liebevollen Helfer wären, die uns die Welt immer wieder neu zurechtrückten. Wenn da niemand wäre, der uns Halt geben, uns beruhigen und unser Selbstwertgefühl stärken würde.
Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto schwerer fiele es uns, im Alltag zurechtzukommen. Gedanken würden immer schneller verfliegen, Farben würden verblassen, Töne gedämpft. Nur wenn in lichten Momenten die Umrisse der Welt wieder auftauchten, sähen wir zeitweise klar. Dann erschiene uns unser eigenes Leben oft fremd.