Читать книгу Nebeleck - Elisabeth Nesselrode - Страница 10

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Im Lichtkegel der Straßenlaternen schwirrten Insekten im Kreis, dicke Motten ließen sich flatternd auf den Leuchten nieder. Die Straßen waren zu dieser späten Uhrzeit fast leer, nur ab und zu rauschte noch ein Auto über die Kreuzung. Ulrike saß noch immer hinter dem Schreibtisch am Fenster. Sie blätterte im Tatort- und Spurensicherungsbericht, studierte den rechtsmedizinischen Befund sowie ihre eigenen Aufzeichnungen. SCHWANGHAUS, stand in großen schwarzen Lettern auf einer Seite. Immer wieder zeichnete sie den Ortsnamen nach, bis das Papier fast rissig war. Erst am späten Nachmittag hatten die Kollegen mit den Befragungen der Nachbarschaft in dem Örtchen begonnen. Zu Ulrikes Verärgerung lag der Bericht dazu noch nicht vor.

Auch wenn sie wusste, dass es noch zu früh war, sinnvolle Schlussfolgerungen anzustellen, versuchte sie krampfhaft, zwischen all den Zetteln irgendetwas zu erspähen. Der Gedanke an die leere Wohnung, an all die Umzugskartons ließ sie frösteln, und so hatte sie beschlossen, noch zu bleiben. Yusuf Kaya hatte ihr widerwillig das Sofa in seinem Büro für den Notfall angeboten. Sie wollte nicht schlafen, doch ihre Augen begannen zu schmerzen, und ihr Kopf wurde von Minute zu Minute schwerer. Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie nächtelang durchgearbeitet. Sobald es Nacht wurde und alle im Bett waren, sobald sie allein war, wurde sie damals noch von einer seltsamen Energie durchflutet, die jeden Anflug von Müdigkeit zunichtemachte und ihr einen so klaren Blick auf Zusammenhänge gestattete, wie es am Tag nie möglich gewesen wäre.

Lutz hatte das nie gemocht. Ständig war er nachts aufgestanden, hatte sich neben ihren Schreibtisch gestellt wie ein Schlafwandler und sie gebeten, nun endlich ins Bett zu kommen, er könne sonst nicht einschlafen. Irgendwann war sie dann einfach im Präsidium geblieben, aber das hatte es nur schlimmer gemacht. Die Nachtschwärmerei hatte sie sich Lutz zuliebe also abgewöhnt. Zur Scheidung war es trotzdem gekommen. Jeder Versuch, danach in den Zustand der nächtlichen Konzentration zurückzukehren, war erfolglos geblieben, und so schien es auch heute.

Ulrike stützte den Kopf auf den Händen ab. Aus dem Augenwinkel nahm sie das blinkende Handy neben dem Computerbildschirm wahr, das sie an all die Anrufe und Textnachrichten erinnerte, die sie seit Tagen, seit der Trennung von Thorsten, erreichten und bislang noch unbeantwortet geblieben waren. Sie drehte es um und blickte auf ihre Armbanduhr. Es war bald Mitternacht.

Ein letztes Mal beschloss Ulrike, alle Ermittlungsergebnisse des heutigen Tages zu ordnen. Sie rekapitulierte: Leonard Berger war vor einigen Tagen in seinem Haus brutal niedergestochen worden. Die Einschnitte in Brust und Bauch hatten jeweils eine Länge von etwa drei bis vier Zentimetern und waren bis zu acht Zentimeter tief. Man ging davon aus, dass es sich bei der Mordwaffe um ein großes Küchenmesser oder einen ähnlichen Gegenstand handelte, sicher konnte man das allerdings nicht sagen. Die Tür war nicht aufgebrochen worden, entweder hatte sie offen gestanden oder Berger hatte den Mörder hereingelassen, weil er die Person kannte. DNA-Spuren und Fingerabdrücke waren ans kriminaltechnische Labor weitergeleitet worden, Ergebnisse wurden bis zum Ende der Woche erwartet.

Auf den ersten Blick wirkte Nebeleck völlig verwahrlost, die Wohnung provisorisch, die Einrichtung zusammengewürfelt, das Mobiliar heruntergekommen. Mitten im Wald hatte sich Leonard Berger ein letztes Refugium der Trostlosigkeit erschaffen, in dem er hauste wie ein Obdachloser, als gehörte ihm das nicht, als ginge es ihn nichts an. Ein bisschen Holz schien er zu machen, manchmal kochte er wohl, den ungewaschenen Töpfen und Pfannen in der Küche nach zu urteilen. Alkoholischen Getränken gegenüber war er nicht abgeneigt, wie die zahllosen Flaschen und Bierkästen in der Abstellkammer neben der Küche zeigten. Bemerkenswert war seine Angewohnheit, Papiere und Dokumente zu horten, die stapelweise in seinem Arbeitszimmer gefunden worden waren. Sie befanden sich in Kartons neben dem Schreibtisch, quollen aus Ordnern oder lagen lose verstreut herum. Er schien sich nie die Mühe gemacht zu haben, sie ein- oder auszusortieren.

In all dem Chaos wirkten das große bunte Kissen von Theo vor dem Ofen und die grün angestrichene Hundehütte im Zwinger neben der Scheune wie die einzigen Orte der Gemütlichkeit. Berger hatte seinen Hund geliebt, so viel war sicher.

Er war vor einem Jahr aus Regensburg hierhergekommen. Finanziell schien er nicht schlecht gestellt gewesen zu sein, doch der Hofkauf hatte seine gesamten Reserven verschlungen. Nebeleck und den dazugehörenden Grund sowie ein kleines Stück Wald hatte er sofort bezahlt, ohne Kredit und ohne Raten für den stolzen Preis von über vierhunderttausend Euro. Ein Rückzugsort für seinen Lebensabend hätte es sein können, vielleicht hatte er extra dafür gespart.

Fotos von Berger, die sich im Internet finden ließen, vermittelten den Eindruck eines attraktiven, freundlichen Mannes, der seine Arbeit liebte. Die Freistellung im letzten Jahr schien plötzlich gekommen zu sein, vielleicht für ihn unerwartet, und inwieweit das mit einer Schülerin zusammenhing, konnte man noch nicht sagen. Es hatte keine polizeiliche Untersuchung stattgefunden. Genaueres würde man vermutlich in den nächsten Tagen von der Schule selbst erfahren können.

Diese ersten Erkenntnisse fügten sich zu dem Bild eines Mannes zusammen, der ganz plötzlich und unvermittelt sein geordnetes Leben aufgegeben hatte und schließlich auch sich selbst. Ulrike schloss die Augen und sah wieder seine Leiche vor sich. Ein schöner Mann war er trotzdem geblieben. Auch all das Blut konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Leonard sich selbst mehr gepflegt zu haben schien als das Haus, in dem er lebte.

Sie seufzte und blickte wieder auf den Zettel mit den großen schwarzen Lettern. SCHWANGHAUS. Auch im Dörfchen in der Abendsonne, in dem es immer nach frisch gemähtem Gras und herzhaftem Grillgut zu riechen schien, lebten schwarze Schafe. Stefanie Schweigers Nachbar aus dem Drosselweg war der Polizei kein Unbekannter. Auf einem Stadtfest hatte er letztes Jahr schwer alkoholisiert mit einigen Bekannten einen Mann zusammengeschlagen. Eine Strafanzeige wegen gefährlicher Körperverletzung wurde später fallen gelassen. Matthias König, zweiunddreißig Jahre alt und Schlossermeister mit eigenem Betrieb, war bei der Schlägerei wohl als Rädelsführer in Erscheinung getreten und hatte irgendwann mit einer Bierflasche auf den wehrlosen Gegner eingeprügelt. Unklar blieb, worum es dabei gegangen war.

Ulrike rieb sich die Augen. Warum sie sich für König interessiere, hatte Yusuf Kaya sie gefragt. Nur ein Gefühl, hatte sie geantwortet. Es gab bislang keine Verknüpfungspunkte zwischen Leonard Berger und Matthias König, auch nicht zu irgendjemand anderem aus dem Ort. Dennoch kannten ihn die Leute, dennoch zerrissen sie sich das Maul über ihn. Es musste eine Verbindung geben!

Ulrike blickte auf die Straße, die Straßenlaternen, in deren Licht die Motten umherschwirrten, und auf die Ampel an der Kreuzung, die zu dieser Uhrzeit nicht mehr von Rot auf Grün umschaltete, sondern nur noch orange blinkte. Sie hatte das Gefühl, irgendetwas zu übersehen, irgendetwas ergab keinen Sinn.

Sie schloss die Lider und massierte ihre Augäpfel. Dann kapitulierte sie und ordnete die Blätter, als ihr plötzlich die Zeugenaussage von Tamara Huber in die Hände fiel.

»Der Hund«, sagte sie laut. Sie schaltete die Schreibtischlampe aus und griff nach ihrem Autoschlüssel.

Keine Minute später saß sie hinter dem Steuer ihres Wagens und machte sich über die menschenleeren Straßen auf den Weg nach Schwanghaus. Theo, Bergers Hund, war mittlerweile im Tierheim. Berger hatte seinen Hund geliebt, der Hund ihn genauso. Am Ende war Theo es gewesen, der die Polizei zu seiner Leiche geführt hatte. Aber warum erst so spät? Konnte man dem rechtsmedizinischen Befund Glauben schenken, so lagen Tage zwischen der Ermordung Bergers und der Kontaktaufnahme des Hundes zu Tamara Huber, dabei waren die Waldwege gut besucht. Das große Tier hätte doch schon früher auffallen müssen, hätte schon früher auf sich aufmerksam machen können!

Nach etwa zehn Minuten Fahrt kam Ulrike zu dem Waldweg, der von der Landstraße direkt nach Nebeleck führte. Sie bog ab, der steinige Boden knirschte unter den Reifen. Die Bäume warfen im Scheinwerferlicht gespenstische Schatten. Ulrike schaltete das Radio an. Aus den scheppernden Lautsprechern brüllte ihr ein Volksmusiker entgegen. Sie schaltete es wieder aus.

Nebeleck lag in völliger Dunkelheit. Nicht mal der Mond spendete etwas Licht. Ulrike öffnete ihr Handschuhfach und holte eine große schwarze Taschenlampe hervor. Als sie aus dem Auto stieg, vernahm sie eine unangenehme drückende Stille, dann hatte sie im nächsten Augenblick das Gefühl, aus jeder Richtung käme ein Geräusch, beinah so, als wäre sie nicht allein. »Reiß dich zusammen, Ulli«, sagte sie zu sich selbst und ging festen Schrittes mit eingeschalteter Lampe auf den Hof zu.

Der Hundezwinger befand sich unterhalb der Scheune, im fahlen Schein der Taschenlampe wirkte er geradezu gespenstisch, wie ein kleines Gefängnis oder ein Kerker. Die Schatten der Gitterstäbe bewegten sich im Licht, je näher Ulrike dem Zwinger kam. Vor der Hütte sah sie die beiden Hundenäpfe aus Edelstahl, einer mit Wasser, der andere zur Hälfte mit einem Gemisch aus Nass- und Trockenfutter gefüllt. Ihre Ahnung bestätigte sich, denn hierfür schien es nur eine plausible Erklärung zu geben: Jemand hatte den Hund gefüttert, und jemand hatte ihn heute früh aus dem Zwinger gelassen.

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