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Der Regen prasselte mit solch einer Gewalt auf Ulrikes Windschutzscheibe, dass sie zwischen den Wassermassen und den hektisch hin- und herschnellenden Scheibenwischern die Straße vor sich nur schemenhaft erkennen konnte. Sie hatte sich auf der A 3 hinter einem Lkw eingeordnet. Fast in dem Augenblick, als sie beim Max-Schultze-Steig über die Donau fuhr, hörte es schlagartig auf zu regnen. Bald schon sah sie die Türme des Regensburger Doms vor sich, die von der wolkendurchbrechenden Sonne angestrahlt wurden.

Sechs Monate waren vergangen, seit sie die Stelle in Regensburg angetreten hatte. Es hätte ein Neuanfang für sie und Thorsten werden sollen, der als Kinderarzt in Straubing arbeitete. Zunächst war sie bei ihm eingezogen, dann hatten sie beide monatelang nach einer neuen Bleibe gesucht. Ihr großes Zugeständnis, eine vierjährige Wochenend-Ehe zu beenden, war allerdings zu spät gekommen. Die einhundert Quadratmeter große Wohnung im Regensburger Westenviertel hatte sie in der letzten Woche allein bezogen. Thorsten hatte die Beziehung kurz vorher für beendet erklärt, als hätte er nur darauf gewartet, dass sie eine Wohnung fand, damit sie ausziehen könnte. Jetzt stapelten sich ihre Kisten in den leeren Zimmern, ein paar Möbel standen verstreut herum. Die Wohnung fühlte sich fremd an, wieder allein zu sein war ihr hingegen schmerzhaft bekannt. Heiraten … Warum sie darauf drei Mal hereingefallen war, konnte sie sich nicht erklären. Vielleicht deswegen, weil sie in einer Ehe rechtlich gebunden war, ein zusätzlicher Anreiz, sich etwas mehr Mühe zu geben.

Ulrike öffnete die schwere Tür der lichtdurchfluteten Wohnung. Nach einer schnellen Dusche steckte sie ein paar Klamotten in eine Reisetasche, überprüfte den spärlichen Inhalt des Kühlschranks auf verderbliche Produkte und warf einen Blick in den Spiegel, den sie neben der Eingangstür aufgehängt hatte. Sie sah müde aus, die roten Haare wirkten ausgewaschen, der graue Mantel hing schlaff an ihrem Körper.

Ulrike schnaubte, sie musste Haltung bewahren, also straffte sie die Schultern, hängte den Mantel an den Garderobenhaken und zog sich stattdessen eine hellbraune Lederjacke über, knetete etwas Gel in ihre Haare und trug braunen Lippenstift auf.

»Lass dich nicht so hängen«, hatte ihre Großmutter sie immer gerügt. »Die Dinge werden auch nicht besser, wenn du rumläufst wie ein nasser Sack.« Eine garstige Frau war sie gewesen, bisweilen geradezu bösartig. Aber damit hatte sie recht behalten.

Ohne sich noch ein einziges Mal umzublicken, als hätte sie es eilig herauszukommen, verließ Ulrike die Wohnung und ließ die Tür krachend hinter sich ins Schloss fallen. Auf der Straße angekommen, warf sie ihre Reisetasche in den Kofferraum und machte sich auf den Weg zum St.-Augustinus-Gymnasium in der Regensburger Altstadt, wo sie einen Termin mit dem Schulleiter hatte.

Ein Hinweis auf eine Tanja hatte sich weder in den persönlichen Unterlagen Leonard Bergers noch im Wohnhaus finden lassen. Ohnehin hatte Ulrike das Gefühl, dass die Ermittlungen nur schleppend vorangingen. Vor wenigen Stunden hatte Yusuf ihr den Bericht über die Befragungen in Schwanghaus auf den Schreibtisch gelegt und in knappen Worten geschildert, dass kaum etwas dabei herausgekommen war. Keiner dort wollte etwas bemerkt haben von Bergers Ermordung, keiner wollte etwas über ihn gewusst haben.

Die Genugtuung, mit der Yusuf ihr das mitgeteilt hatte, hatte Ulrike so sehr missfallen, dass sie nur allzu gern nach Regensburg gefahren war, um ein paar Kleidungsstücke zu holen, den Schulleiter zu befragen und Tanjas Fährte aufzunehmen. Sie hatte das Gefühl, aus dem Tritt zu sein, und abgesehen von Yusufs Impertinenz ärgerte sie das am meisten. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um Yusuf stärker Paroli bieten zu können, sie musste sich eine Strategie überlegen, wachsamer werden, scharfsinniger – als müsste sie sich beweisen, dass sie trotz allem zumindest eine gute Kriminalpolizistin war.

Das St.-Augustinus-Gymnasium, in dem Leonard Berger mehrere Jahrzehnte als Biologie- und Erdkundelehrer gearbeitet hatte, lag mitten in der Altstadt von Regensburg. Der u-förmige Kastenbau mutete fast herrschaftlich an. Je näher man ihm allerdings kam, desto heruntergelebter wirkte er.

Ulrike stellte das Auto mitten auf dem Innenhof ab und lief geradewegs auf den Eingang zu. Kaum hatte sie das Gebäude betreten, in dem es wie in jeder Schule nach Turnschuhen und Pausenbroten roch, vernahm sie schon das dumpfe Hallen von Schritten auf dem schweren Steinboden.

»Frau Kork?«, hörte sie eine freundliche Männerstimme und sah einen etwas untersetzten Mann auf sich zukommen. »Schneider, wir hatten telefoniert. Ich bin der Schulleiter.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Hier entlang.«

Es war Punkt siebzehn Uhr, die Schule schien beinahe ausgestorben. Nur Schneiders Sekretärin saß noch hinter ihrem Schreibtisch im Vorzimmer des Büros. Sie lächelte, als sie Ulrike erblickte. »Käffchen?«, fragte sie mit einer quäkenden Stimme, sodass Ulrike unwillkürlich zusammenzuckte. Es hatte nur dieses Wort gebraucht, und Ulrike erkannte in der blonden hageren Frau eine Genossin aus Nordrhein-Westfalen.

»Schwarz«, sagte sie und reizte das dialektale Potenzial derart aus, dass die Augen der Frau kurz aufblitzten. Der Geheimcode war durchgedrungen, man hatte sich verstanden. In der bayerischen Provinz waren solche Begegnungen rar und deshalb erstaunlich. Ein seltsames Heimatempfinden machte sich in diesen Augenblicken jedes Mal breit in ihr, ein kleiner Stich, ein Hauch von Rührseligkeit, eine Erinnerung daran, wo sie herkam. Dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit erlebte sie nur in diesen Momenten, wenn sie der Heimat in der Fremde begegnete, und weniger, wenn sie tatsächlich dort war, in der Heimat, in der sie sich fremd fühlte.

»Nehmen Sie Platz«, sagte der Schulleiter und ließ sich ihr gegenüber in einen riesigen schwarzen Schreibtischstuhl fallen, in dem er beinah wie ein kleiner Junge wirkte, der Chef spielte. Die hagere Sekretärin stellte den Kaffee auf einem Tablett auf dem Tisch ab und schloss dann die Tür.

Ulrike räusperte sich. »Sie haben schon gehört, was passiert ist, vermute ich?«

Sie beobachtete, wie Schneider den Kaffee ausschenkte, die Tasse vor ihr abstellte und dabei besorgt die Stirn in Falten zog. »Ja, ich habe davon gehört. Das gesamte Kollegium und unsere Schüler sind informiert. Es wurde in der Früh schon eine Morgenandacht abgehalten für Herrn Berger. Ein sehr geschätzter Kollege.«

»Was können Sie mir über ihn sagen? Was für ein Mann war er?«

Schneider ließ sich in seinen enorm großen Schreibtischstuhl zurücksinken und verschränkte die Arme vor der Brust. »Er war ein guter Lehrer, er war gern Lehrer. Hat sich immer was einfallen lassen, hatte jeden Schüler im Blick, seine Stärken und Schwächen. Die Kinder … Die waren ihm immer am wichtigsten.« Er seufzte und faltete die Hände vor sich wie zum Gebet. »Es war für uns alle eine sehr große Überraschung, als er plötzlich nicht mehr wollte.«

Ulrike trank einen Schluck Kaffee. Gut und stark hatte die Hagere ihn gekocht. »Sie wissen nicht, warum?«

»Nein«, sagte Schneider und schüttelte geistesabwesend den Kopf. »Das kann ich mir ganz und gar nicht erklären.« Er wirkte aufrichtig. »Man muss sagen, dass er zwischenzeitlich sehr niedergeschlagen war, nach dem Tod von Ingrid. Aber ich hatte das Gefühl, gerade in der Zeit vor seiner Kündigung, dass er sich wieder gut im Griff hatte, dass er richtiggehend aufgeblüht war.«

»Herr Schneider, wir haben Anlass, davon auszugehen, dass es durchaus einen Grund für diesen Stimmungswechsel gab. Wir haben davon gehört, dass Herr Berger ein Verhältnis mit einer Schülerin hatte, die im Jahr seiner Kündigung Abitur hier am Gymnasium gemacht hat.«

Schneider neigte den Kopf zur Seite, er schien zu überlegen. »Ach, diese Geschichte … Ich will nichts Falsches sagen … Einen Moment bitte.« Dann stand er auf und ging durch die Tür zum Sekretariat. »Petra? Weißt du, ob Paul noch im Haus ist? Kannst du mal im Lehrerzimmer durchklingeln lassen?«

Einen Augenblick später hörte man Petras quäkende Singstimme dumpf durch die leicht geöffnete Tür. Paul war offenbar noch im Haus und stand schon wenige Minuten später im Sekretariat. Er war groß gewachsen, hatte einen sauberen Seitenscheitel, graues Haar und eine randlose Brille auf der Nase.

»Paul, das ist Frau Kork. Sie ist Kriminalkommissarin und ermittelt im Fall von Leonard.«

Paul reichte Ulrike die Hand und folgte ihnen dann in das kleine Büro.

»Paul Heinzen war ein Kollege von Herrn Berger«, erklärte Schneider. »Die beiden haben lange und eng zusammengearbeitet.«

»Worum geht es denn?«, fragte Heinzen und setzte sich auf den Stuhl neben ihrem. Ulrike musterte den geradlinig wirkenden Mann neben ihr und riet, dass er Deutsch oder Latein unterrichtete.

»Diese Geschichte, Paul, diese dumme Geschichte, die rumging«, begann Schneider vorsichtig. »Dass der Leonard ein Verhältnis hatte mit …«

»Mit Tanja Grass«, vollendete Paul Heinzen den Satz barsch.

Ulrike stutzte. »Was können Sie mir darüber sagen?«

Paul blickte sie unvermittelt an, seine Direktheit hatte etwas Unangenehmes. »Tanja hat letztes Jahr bei uns Abitur gemacht. Sie hatte Biologie Leistungskurs bei Leonard. Sie hat ihm ab und an geholfen, kleinere Forschungsprojekte für die fünfte Klasse zu organisieren. Die beiden haben sich ineinander verguckt, da war sie noch siebzehn. Er ist aber erst ein Verhältnis mit ihr eingegangen, als sie volljährig war. Als sie kurz danach Abitur gemacht hat, wollten sie zusammen neu anfangen. Er hat deswegen gekündigt.«

»Wussten noch andere davon?«

»Ich glaube nicht. Leonard und ich waren nicht eng befreundet, aber er wollte jemandem davon erzählen. Das Ganze war vertraulich. Irgendwie hat dann aber doch jemand was mitbekommen, es wurde getratscht. Die große Runde hat das aber komischerweise nicht gemacht.«

»Was wurde aus dieser Geschichte?«

Paul sah aus dem Fenster. »Ich weiß es nicht. Ich habe nichts mehr von ihr gehört und von ihm auch nicht. Bis gestern.« Er fixierte gedankenverloren einen Punkt auf der Scheibe. »Gibt es noch weitere Fragen?«

Ulrike schüttelte den Kopf.

»Danke, Paul«, sagte Schneider.

Heinzen stand auf, murmelte eine schnelle Verabschiedung und verließ dann wie ein Zinnsoldat strammen Schrittes das Büro.

»Ich brauche den Kontakt von Tanja Grass, von ihren Eltern.«

Schneider nickte und ging aus dem Raum. »Petra!«

Ulrikes zweiter Mann Harald, genannt Harry, war fünfzehn Jahre älter als sie gewesen. Ein Kollege aus dem LKA, mit dem sie zuvor eng zusammengearbeitet hatte. Die Faszination für ältere Männer konnte sie gut nachvollziehen, doch bei Tanja und Leonard lag der Altersunterschied bei fast vierzig Jahren. Wie hatte diese Beziehung funktioniert, in der einer alles erlebt und gefühlt hatte und die andere noch so wenig? Welche Verbindung hatte zwischen ihnen bestanden?

Nachdem sie von Petra die Kontaktdaten der Familie Grass bekommen hatte, reichte sie Schneider zum Abschied die Hand.

»Melden Sie sich, falls Sie noch Fragen haben. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg«, sagte dieser und lächelte freundlich.

Gerade wollte sie das Sekretariat verlassen, da vernahm sie die quäkende Stimme von Petra hinter sich. »NRW?«, fragte sie.

»Recklinghausen«, antwortete Ulrike.

»Düren«, sagte die Hagere, und sie nickten sich verschworen zum Abschied zu.

Als Ulrike im Auto saß, wählte sie die Nummer, die auf dem Zettel stand.

»Ja?«, tönte eine schroffe Stimme.

»Herr Grass?«

»Wer will das wissen?«

»Kork, Kriminalpolizei Regensburg. Ich hätte gern mit Ihrer Tochter Tanja gesprochen.«

»Worum geht es?« Seine Worte stolperten, die Stimme hatte einen krächzenden Unterton. Ulrike vermutete, dass er schwer alkoholisiert war.

»Herr Grass, ich muss mit Ihrer Tochter in einer vertraulichen Angelegenheit sprechen.«

»Dann rufen Sie woanders an. Bei diesem Perversling zum Beispiel.«

»Herr Grass, wissen Sie, wo Ihre Tochter ist?«

»Ich hab meine Tochter seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sie gefunden haben. Und wenn Sie sie haben, dann machen Sie Ihren gottverdammten Job und sperren Sie diesen Pädophilen weg.«

Es klickte in der Leitung.

***

Hallo du,

ich muss ein bisschen vorsichtig sein, deswegen kann ich nicht mehr so oft schreiben. Aber ich bin immer noch hier, hörst du? Ganz in deiner Nähe. Ich hab so oft an dich gedacht, du machst mich ganz verrückt, weißt du das eigentlich? Bald wird alles anders. Ich hab schon einen Plan. Du musst nur warten, bald verrat ich ihn dir. Und dann können wir zusammen sein, weil dann bin ich endlich frei.

Ich denk an dich. Jede Sekunde.

X.

Nebeleck

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