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Die Polizeiinspektion lag am Rande der Neumarkter Innenstadt. Ulrike wurde ein Arbeitsplatz direkt am Fenster des Großraumbüros zugewiesen, von dem sie auf einen riesigen Parkplatz blicken konnte, auf eine Kreuzung und den glänzenden Asphalt. In der Frühjahrswärme hatte sich das Büro ordentlich aufgeheizt. Ulrike hängte ihren grauen Mantel über den Schreibtischstuhl und schaltete den Computer ein. In der Ferne sah sie die knorrigen Zweige der Kiefern eines kleinen Waldstückes, das den in der Nähe liegenden Flugplatz säumte. Sie dachte zurück an den Hof und an das Gespräch mit der Spaziergängerin, die Leonard Berger entdeckt hatte.

Die junge Frau, Tamara Huber, kam aus dem Neubaugebiet, das zwischen dem Ortskern von Schwanghaus und dem verlassenen Bauernhof im Nadelwald lag. Sie war Anfang dreißig, lebte dort mit ihrem Mann und zwei gemeinsamen Kindern. Fast täglich ging sie mit ihrem blonden Hündchen hier spazieren. Dieses hatte sich während des Gesprächs auf der Wiese in der Sonne ausgestreckt, nicht ahnend, was die Verzögerung beim morgendlichen Auslauf verursacht hatte.

»Ist das ein Dackel?«, fragte Ulrike, nachdem sie sich neben die geöffnete Tür des Polizeibusses gestellt hatte.

»Nicht ganz, ein Basset Fauve de Bretagne, eine französische Jagdhund-Rasse«, antwortete die Frau mit bebender Stimme. Sie war verweint, ihre Augen waren weit geöffnet, ihre Hände ineinander verkrampft.

»Ich heiße Ulrike Kork und bin von der Kriminalpolizei in Regensburg. Wie geht’s Ihnen? Ich kann mir vorstellen, was das für ein Schock für Sie gewesen sein muss.«

Tamara Huber griff sich an die Stirn. »Ich kann nicht begreifen, wer so was macht.«

Sie berichtete, dass sie mit ihrem Hund unterwegs gewesen war, als ihr plötzlich Bergers riesiger Deutsch Drahthaar aus dem Wald entgegengeschossen kam und mit dem Stummelschwänzchen gewedelt hatte.

»Ich hab Theo sofort erkannt, dem Herrn Berger vom Nebeleck bin ich oft begegnet. Freundlich ist er gewesen, etwas verschwiegen vielleicht, aber bestimmt kein schlechter Mensch. Wir haben manchmal ein bisschen geratscht. Nichts Besonderes, übers Wetter oder so.«

Sie habe sich gewundert, warum der Hund ohne Herrchen unterwegs war, also sei sie hinter ihm her zum Hof gegangen, nur um zu schauen, ob alles in Ordnung sei. »Theo hat sich dauernd zu mir umgedreht, wie um sicherzugehen, ob ich noch da bin, er wollte mir was zeigen. Ich hab mich noch gewundert, aber ab da wusste ich eigentlich schon, dass was nicht stimmt.«

Sie war bis zum Hof gelaufen, durch die geöffnete Eingangstür und weiter nach oben, erzählte sie unter Tränen. »Theo hat ihn dauernd mit der Schnauze angetippt und gewinselt und mich so angeschaut. Ich hab mich zu Tode erschrocken und dann die Polizei angerufen.«

Tamara Huber schluchzte, und Ulrike reichte ihr ein Taschentuch. Ein brauner VW Sharan kam neben ihnen zum Stehen. »Das ist mein Mann«, sagte sie. »Brauchen Sie noch was?«

Ulrike schüttelte den Kopf. »Wir werden Sie kontaktieren, wenn noch Fragen offen sind.«

Tamara Huber nickte, verabschiedete sich und stieg mit ihrem blonden Hund in den Wagen. Ulrike sah zu, wie das Auto über die Auffahrt im Wald verschwand. Noch lange schwebte der aufgewirbelte Dreck in der flirrenden Morgensonne.

Es war Mittag geworden. Ulrike checkte ihre Mails, druckte die Dokumente aus, die sie bei den Kollegen in Regensburg angefordert hatte, und machte sich auf den Weg in das kleine Besprechungszimmer, das bereits voll besetzt war. Neben Yusuf Kaya und Franka Brandl erkannte sie noch den jüngeren Polizisten, der die Aussage von Tamara Huber aufgenommen hatte. Die anderen waren ihr unbekannt.

Wie immer zu Beginn einer neuen Ermittlung war sie auch dieses Mal von einem unnachgiebigen Tatendrang ergriffen. Doch irgendetwas anderes trieb sie zusätzlich an, als würde etwas in ihrem Unterbewusstsein sie permanent ermahnen, dieses Mal alles richtig zu machen, den Überblick nicht zu verlieren, die Oberhand zu behalten.

Nachdem sie sich vorgestellt hatte, begann sie: »Ich weiß, das ist eine außergewöhnliche Situation, aber eine solch brutale Tat verlangt, dass wir jetzt alle unser Möglichstes tun. Das bedeutet Überstunden und überdurchschnittliches Engagement –«

»Die Kollegen hier wissen sehr genau, wie überdurchschnittliches Engagement aussieht«, unterbrach Kaya sie. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sein Schnurrbart bewegte sich hin und her, was ein Indiz für Verärgerung zu sein schien.

»Es ist wichtig«, fuhr Ulrike fort, ohne sich die Anspannung anmerken zu lassen, »dass wir jetzt schnell sind, keine Zeit verlieren. Mit Unterstützung aus Regensburg ist vorerst nicht zu rechnen, daher müssen wir unsere Ressourcen jetzt möglichst sinnvoll einsetzen.« Sie taxierte den Raum, begegnete den stummen Blicken der vor ihr sitzenden Beamten. »Wir brauchen alle nur denkbaren Informationen zu Leonard Berger, seiner Familie und seinem Umfeld. Ich möchte, dass sich jemand in Schwanghaus umhört und nach Berger erkundigt, nach allem, was den Leuten in den letzten Tagen seltsam vorgekommen ist, Ungereimtheiten, neue Gesichter. Egal wie insignifikant. Wir brauchen –«

»Wir sind hier durchaus geschult, was Polizeiarbeit angeht, Frau Kork.«

Ulrike warf Kaya einen langen Blick zu. »Haben Sie einen Augenblick?«

Ein Murmeln ging durch den Raum. Kaya stand langsam auf und schritt mit einer Selbstgefälligkeit auf die Tür zu, dass es Ulrike vor Wut fast die Kehle zuschnürte.

»Ich weiß nicht, was dieses Kompetenzgerangel soll, aber ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass es in höchstem Maße unprofessionell ist«, zischte sie, nachdem Kaya die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Er erwiderte ihren Blick seelenruhig. »Wir haben hier auf der Dienststelle schon Leichen gesehen und in Mordfällen ermittelt, das ist kein Neuland für uns. Unsere Zusammenarbeit mit der Kripo Regensburg ist immer gut verlaufen, Herr Wimmer hat nie –«

»Herr Wimmer ist nicht hier.«

»Mir ist bloß wichtig, dass Sie verstehen, dass Sie es nicht mit irgendwelchen Dorfpolizisten zu tun haben, die alle sechs Jahre mal eine Ehefrau aus einem Silo fischen und den Rest der Zeit Knöllchen an Falschparker verteilen oder im Wirtshaus Leberkas verdrücken.«

Ulrike warf einen Blick durch die Scheibe auf die Kollegen im Besprechungszimmer. »Ich hoffe nur, dass Sie sich nicht deswegen so aufgeführt haben, weil mal eine Frau das Sagen hat.«

»Ach, kommen Sie, was hat das damit zu tun? Die da drin hatten genauso Probleme mit einem Türken, der das Sagen hat.« Kaya zuckte mit den Schultern. »War’s das?«

Ihre Reaktion war zögerlich, also öffnete er die Tür und ging auf seinen Platz zurück. Ulrike blieb noch für einen Augenblick im Flur stehen, atmete tief durch, dann schloss sie die Tür wieder hinter sich und fuhr mit der ersten Bestandsaufnahme fort.

Es war bereits alles zusammengetragen worden, was die Datenbanken und das Internet über das Mordopfer hergaben. Berger war 1963 in Wackersdorf geboren, hatte in Regensburg studiert, dann als Biologielehrer an einem staatlichen Gymnasium gearbeitet. Er hatte 1990 geheiratet, seine Frau Ingrid Berger war vor fünf Jahren nach einer langen Brustkrebserkrankung gestorben. Der gemeinsame Sohn Anton war siebenundzwanzig und lebte in München. Vor einem Jahr war Berger in Frührente gegangen und hatte sich mit dem Hofkauf in die komplette Einsamkeit zurückgezogen. Mehr gab es bislang nicht. Zu guter Letzt ließ Ulrike noch ein aktuelles Foto des Verstorbenen an die Wand werfen. Ein Passfoto, vor drei Jahren geschossen.

Die Person, die ihr nun entgegenblickte, hatte gar nichts mit der gemein, deren Leiche am Morgen gefunden worden war. Statt eines aschfahlen, blutverschmierten Gesichts schaute sie einen Mann an, mit dem das Alter nicht besser hätte umgehen können. Graubraunes mittellanges Haar, ein Dreitagebart, freundliche braune Augen, ein angenehmes Lächeln umspielte die Mundwinkel. Leonard Berger war äußerst attraktiv gewesen. Unwillkürlich fühlte sie sich an Lutz erinnert, ihren ersten Ehemann, der eine ähnliche Unbefangenheit und Wärme ausgestrahlt hatte. Rasch schob sie den störenden Gedanken beiseite und löste den Blick von den dunklen Augen des Passbildes.

»Haben wir schon was aus der Rechtsmedizin?«, fragte sie und trommelte unruhig mit den Fingern auf den Tisch.

»Noch nicht viel«, antwortete Kaya. »Der Todeszeitpunkt liegt schätzungsweise zwei bis drei Tage zurück, sicher kann man das noch nicht sagen. Berger ist verblutet, ein Messerstich in die Aorta unterhalb der linken Herzkammer hat ziemlich schnell zum Tod geführt.«

»Gab es schon Kontakt zu den Angehörigen? Frau Brandl?«

Franka Brandl schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Ich hab dem Sohn auf die Mailbox gesprochen, aber bisher kam noch kein Rückruf.« Sie zögerte. »Da ist aber noch was anderes … Meine Cousine hat heut früh angerufen, sie hat nach Schwanghaus geheiratet und mitbekommen, was los ist. Sie hat mir erzählt, dass da so Gerüchte umgingen. Vielleicht war es aber auch nur dummes Geschwätz.«

»Was für Gerüchte?«

»Dass es einen Grund gab, warum der Herr Berger so plötzlich den Hof gekauft hat, warum er aus Regensburg abgehauen ist. Man sagt, dass da was an der Schule passiert ist. Mit einer Schülerin.«

Ulrike blickte wieder auf das Foto von Leonard Berger. Nun meinte sie noch mehr hinter den freundlichen Gesichtszügen erkennen zu können, als läge ein durchsichtiger Filter darauf. Sie seufzte. Du alter Hund, dachte sie. »Geben Sie mir die Adresse Ihrer Cousine. Ich rede mit ihr. Frau Brandl, Sie kommen mit.«

***

Hallo du,

wieder hab ich mich so gefreut, wie ich dich gesehen hab. Du bist einkaufen gewesen. Wie gut du wieder ausgeschaut hast. Mir ist das Herz fast stehen geblieben, deswegen war ich auch so schweigsam dann. Manchmal weiß man ja auch gar nicht, was man sagen soll, und man muss ja auch nicht immer was sagen. Ich schau dich einfach nur gern an. Ich denk oft, dass die Leute dann am schönsten sind, wenn sie meinen, dass sie allein sind, wenn sie gar nicht merken, dass jemand grad hinschaut.

Geht’s dir nicht auch so? Ich denk an dich.

X.

Nebeleck

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