Читать книгу Nebeleck - Elisabeth Nesselrode - Страница 16
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ОглавлениеPeter Königs Praxis befand sich in einem renovierten Fachwerkgebäude direkt gegenüber der Kirche und nur wenige Meter vom Wirtshaus entfernt. Die Streben und Balken waren gelb, die Fensterläden grün gestrichen. Vor den Fenstern blühten Geranien in Blumenkästen. Ulrike ließ sich auf einer Parkbank auf der anderen Straßenseite nieder. Sie wartete auf Yusuf.
Vor zehn Minuten hatte sie ihn angerufen und ihn gebeten, nach Schwanghaus zu kommen, um der Befragung von Peter König beizuwohnen. Alles deutete darauf hin, dass es sich bei dem Arzt um eine zentrale Figur im Ort handelte, der über einen nicht unerheblichen Einfluss verfügte. Ulrike kannte solche Männer, sie wusste, wie sie für gewöhnlich auftraten, wie sehr sie auf ihre Erscheinung bedacht waren, auf ihre Selbstdarstellung, und sie wusste, wie schwer eine vermeintliche Unwahrheit hinter dieser Maskerade zu entlarven war. Trotz aller Unstimmigkeiten, trotz der Tatsache, dass die beiden versuchten, sich nicht mehr in die Quere zu kommen: Yusuf war ein fähiger Polizist, ein aufmerksamer Beamter. Vier Augen sahen mehr als zwei, vier Ohren hörten mehr.
Ulrike steckte sich gerade ein Kaugummi in den Mund, als sie Yusufs Wagen um die Kurve biegen sah. Sie überquerte die Straße und klopfte an die Scheibe, als er vor der Praxis geparkt hatte. Er wirkte müde, seine Augen waren unterlaufen, die Mundwinkel lugten hängend unter dem Bart hervor, sein Gesicht hatte eine gräuliche Farbe. Yusuf schien, genau wie sie selbst, jemand zu sein, dem man Schlafmangel und Stress ansehen konnte.
»Lange Nacht?«, fragte sie.
»Lange Nächte«, raunte er, ohne den Blick zu heben. »Wir trennen uns gerade, da bleibt der Schlaf schon mal aus.«
Ulrike hatte mit diesem privaten Bekenntnis nicht gerechnet. »Kenn ich«, erwiderte sie knapp, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.
Er schlug die Autotür hinter sich zu. »Wollen wir?«, fragte er ungehalten.
Sie nickte wortlos und öffnete dann die grün lackierte Tür des Fachwerkhauses.
Sie traten in den geschmackvoll eingerichteten Eingangsbereich der Praxis. Eine blonde Arzthelferin stand hinter einer hölzernen Empfangstheke und tippte auf einer Tastatur, während sie einen Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter balancierte. Ihre langen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, sie trug ein weißes Polohemd und eine eng anliegende weiße Jeans.
»Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie, als sie das Gespräch beendet und den Hörer aufgelegt hatte.
»Kripo Regensburg, Kork mein Name«, sagte Ulrike. »Das ist mein Kollege Yusuf Kaya. Wir hätten gern mit dem Herrn König gesprochen.«
Die Blondine blickte etwas konsterniert zwischen beiden hin und her, dann lächelte sie freundlich und studierte den Terminplaner, der aufgeschlagen vor ihr lag. »Heut ist eher schlecht, der Dr. König hat den ganzen Morgen Patienten.« Sie wies auf die gegenüberliegende Milchglastür, hinter der Ulrike die unscharfen Konturen einiger Personen ausmachen konnte. Jemand hustete.
»Es ist wichtig«, unterbrach Yusuf die Arzthelferin streng. Sie allerdings blieb unbeeindruckt, hob seelenruhig den Telefonhörer, drückte einen Knopf auf dem Apparat und lächelte die beiden dabei unentwegt an.
»Peter, da ist die Yvonne«, flötete sie. Immer noch blickte sie zwischen Yusuf und Ulrike hin und her. »Du, hier sind zwei Mitarbeiter von der Polizei –«
»Kriminalpolizei«, unterbrach Ulrike sie.
»Kriminalpolizei«, korrigierte sich die Arzthelferin, legte kurz die Hand auf die Muschel. »Sorry«, flüsterte sie. »Die würden gern mit dir sprechen …«, sagte sie wieder lauter und lauschte dann schweigend. »Ich weiß es nicht, das haben sie nicht gesagt«, gab sie auf das tiefe Gemurmel am anderen Ende der Leitung zurück. »Alles klar«, erwiderte sie schließlich und legte den Hörer auf. »Er nimmt sich kurz Zeit. Er ist gleich da vorn«, fügte sie hinzu und wies auf eine Tür am Ende des Gangs.
Königs Büro bestand aus einem weitgehend verglasten Anbau des Hauses, den man von der Straße aus nicht sehen konnte und der sich mitten im hinter dem Gebäude liegenden Garten befand. Eine Schiebetür ins Grüne war geöffnet, man hörte Vogelgezwitscher und das Plätschern eines kleinen Brunnens im Garten. Im Zentrum des Raumes stand ein riesiger Schreibtisch, die nicht verglaste Wand rechts und links neben der Eingangstür war vollständig von Regalen bedeckt, in denen Bücher neben medizinischen Exponaten, Vasen und Hängepflanzen standen. Hinter dem Schreibtisch thronte Peter König in einem weißen Kittel, mit zurückgegelten Haaren und einem ordentlich ausrasierten Dreitagebart. Er war schlank, wirkte trainiert.
»Einen Augenblick bitte«, sagte er lang gezogen, unterzeichnete mit schwungvollen Lettern ein vor ihm liegendes Blatt Papier, legte es dann beiseite und hob den Kopf. Eine Reihe strahlend weißer Zähne kam zum Vorschein. Er stand auf und reichte ihnen die Hand. »Dr. Peter König, freut mich sehr.«
Ulrike und Yusuf erwiderten den festen Händedruck und nahmen auf den Stühlen Platz, die vor dem massiven Schreibtisch standen.
»Nicht schlecht«, sagte Ulrike und ließ anerkennend den Blick durch den Raum gleiten.
»Ach«, sagte der Arzt und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir sind auf dem Land, wenn man ein bisschen was beiseitelegt, lebt man hier wie ein König.« Er lachte auf, lehnte sich dann in seinem Schreibtischstuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie haben gut geschlafen beim Boschuoster, hoffe ich?«, fragte er Ulrike.
»Ich kann mich nicht beklagen«, antwortete sie.
»Also, was kann ich für Sie tun?« Er beugte sich wieder vor, nahm einen Kugelschreiber, ließ ihn zwischen seinen Fingern hin und her gleiten, legte ihn dann zurück auf den Tisch und faltete die Hände.
»Sind Sie von hier?«, fragte Ulrike. Sie wollte Zeit gewinnen. Noch immer fiel es ihr schwer zu greifen, mit wem sie es hier wirklich zu tun hatte. Es war Harry gewesen, der ihr beigebracht hatte, dass das erste Gespräch mit einem unbekannten Gegenüber immer entscheidend war. Man war wachsamer, konnte Kalküle des anderen leichter entlarven.
König hatte einen festen Blick, er sprach bedacht, überlegt und wohlartikuliert. »Ich bin von hier, ja. Hier geboren und aufgewachsen. Ich habe in Regensburg studiert, danach war ich für einige Zeit in München und Hamburg. Aber als die Praxis hier zum Verkauf stand, bin ich zurückgekommen. Zu Hause ist es immer noch am schönsten«, sagte er lächelnd.
»Da ist wohl was dran«, antwortete Ulrike. »Sie haben Familie?«
König zögerte. »Ich bin verheiratet, wir haben keine Kinder.«
»Verwandtschaft hier in der Gegend? Ich hab gesehen, ihr Nachname ist öfter im Ort vertreten.«
»Das stimmt«, erklärte er, »Schwanghaus ist das Dorf der Könige.« Schon wieder lachte er.
»Das Potenzial für Wortwitze haben Sie jetzt jedenfalls ausgeschlachtet, mein Lieber«, bemerkte Yusuf leicht genervt.
Ulrike warf ihm einen kurzen Blick zu und versuchte sich gleichermaßen ein Schmunzeln wie ein Kopfschütteln zu verkneifen. Dann richtete sie den Fokus wieder auf König, der das Polizistengespann in erwartungsvoller Haltung taxierte. »Sie haben sicher gehört, was am Dienstag passiert ist.«
Peter König seufzte. »Ja, natürlich. Ich denke, davon hat jeder gehört. Ein solches Maß an Brutalität hat die Gemeinde, der ganze Landkreis wohl seit Jahren nicht gesehen.« Er stand auf und schenkte sich etwas Wasser ein. »Entschuldigen Sie bitte, meine Manieren! Wollen Sie auch etwas trinken?«
Ulrike lehnte dankend ab.
»Kannten Sie den Herrn Berger?«, fragte Yusuf, ohne auf die Frage einzugehen.
»›Kennen‹ ist übertrieben. Ich habe ihm den Hof verkauft. Ich hatte das Objekt vor einigen Jahren erworben, hatte einige Ideen dafür, aber daraus ist leider nichts geworden. Ein schöner Hof, sehr schönes Fleckchen. Leider nichts für mich.«
»Also hatten Sie Kontakt zu Berger?«
»Das würde ich nicht sagen, nein. Wir hatten damals kurz miteinander zu tun, doch Herr Berger hat sich dort sehr zurückgezogen. Er hatte wenig Interesse an der Dorfgemeinschaft.« Er zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck.
»Es wurde ziemlich viel über ihn geredet, haben Sie das auch so mitbekommen?«
»Ja, das habe ich. Aber ich halte nicht viel von solchen Schwätzereien. Na ja …« Er legte eine Pause ein und lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. »Man soll nicht schlecht über Tote reden. Aber man muss leider zugeben, dass Herr Berger – Gott hab ihn selig – ein nicht gerade angenehmer Zeitgenosse war. Eher unfreundlich, Eigenbrötler, hat nicht gegrüßt … Solche Dinge eben. Man kann nichts machen, so etwas verzeihen die Schwanghauser nur schwer.«
»Klingt so, als hätte er keine Freunde hier gehabt.«
»Keine Freunde, nein. Aber auch keine Feinde. Indifferenz. Das beschreibt es ganz gut.«
Ulrike war der Unterhaltung schweigend gefolgt. Noch immer blieb ihr Gegenüber seltsam konturlos.
»Tanja Grass, kennen Sie die?«, fragte sie.
König blinzelte. Dann hob er fragend die Augenbrauen. »Wer ist das?«
Ulrike antwortete nicht. Sie schlug auf die Stuhllehnen und erhob sich. »Gut, vielen Dank, das war’s fürs Erste.« Sie lächelte.
»Ich freu mich, wenn ich helfen kann«, sagte Peter König, stand ebenfalls auf und reichte ihnen erneut die Hand. Sie hatte sich schon der Tür zugewandt, da drehte Ulrike sich noch einmal um. »Eine Sache noch. Der Herr Berger, der hat sie angerufen. Mehrmals in den letzten Wochen, in der Nacht. Was hat er da gewollt?«
Sie beobachtete, wie Peter Königs Gesichtsausdruck sich kurz änderte. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, das weiß ich wirklich nicht. Wir haben eine Nachtschaltung, ich habe davon nichts mitbekommen.«
Es war nur ein Augenblick, in dem Ulrike fast das Gefühl hatte, als sei eine Maske verrutscht, als hätte sie den Mann vor sich zum ersten Mal begreifen können. »Melden Sie sich, falls Ihnen noch etwas einfällt, ja?«
Peter König nickte. »Ich hoffe, Sie finden, wen Sie suchen.«
»Das werden wir. Ganz bestimmt.« Sie hob ihre Hand zum Gruß, dann verließen Yusuf und sie das Büro.
»Dampfplauderer«, sagte Yusuf, nachdem er die Wagentür hinter sich zugeschlagen hatte.
»Musste das sein, ihn so anzugehen?«, fragte Ulrike genervt.
»Wo ist das Problem? Wenn er doch einer ist?«
»Ein was?«
»Ein Dampfplauderer, Siebengscheiter, soll er halt zum Punkt kommen, Herrschaftszeiten.«
Sie seufzte und verdrehte die Augen. »Mal ganz im Ernst jetzt, Yusuf, es kann niemand –«
»Und was ist das für eine Nummer mit dem Gasthaus? Dass du dich hier schön ins Nest setzt und einen auf Kurzurlaub machst?«, unterbrach Yusuf sie unwirsch.
Ulrike schnaubte. »Wie und mit welchen Mitteln ich diese Ermittlung führe, ist ganz allein –«
Das Telefon klingelte in der Freisprechanlage. »Ja«, meldeten sich beide schroff.
Franka Brandl war am anderen Ende der Leitung. »Jennifer Hellwig ist hier.«
»Wer?«, fragte Ulrike.
»Tanjas Freundin. Jennifer Hellwig. Sie ist freiwillig hier erschienen, heute früh.«
»Und?«
»Kommt am besten her und hört’s euch selbst an.«
***
Sie stand am Geländer der Brücke und blickte nach unten. Ihr Atem ging schwer, die Luft schmerzte ihr in der Lunge. Sie war so müde davon wegzulaufen, sich ständig zu verstecken, gejagt und gleichzeitig übersehen zu werden. Die Tränen, die sie geweint hatte, hatten salzige Krusten auf ihren Wangen hinterlassen. Es war nichts mehr übrig, sie waren versiegt.
Sie wusste nicht, wie viele Tage vergangen waren, seit sie beobachtet hatte, wie die Polizei sich auf dem Hof gesammelt hatte, seit die Rothaarige sie zwischen den Bäumen entdeckt hatte und sie wieder gerannt war. Wie der Teufel gerannt. Es hätten genauso Minuten wie Monate sein können. Sie hatte alles wie durch einen Nebel wahrgenommen. Doch plötzlich war alles ganz klar, all die Fragen, die sie sich gestellt hatte in den letzten Stunden und Tagen, all das schien plötzlich völlig irrelevant hier oben auf der Brücke.
Der Nebel hatte sich aufgelöst. Alles war gestochen scharf, die Stahlpfeiler um sie herum, die Baumwipfel, das satte Grün unter ihr. Sie hatte das Gefühl, die letzte Seite eines Buches aufzuschlagen, die letzten Worte einer Geschichte vor Augen zu haben. Der Wind hier oben blies gewaltig, verwehte ihr braunes Haar. Sie kletterte auf das Geländer, umklammerte den Stahlbalken neben sich und schloss die Augen.
»Du bist nicht wie die anderen, Elfe. Du lässt mich nie allein, richtig, Elfe?«
Sie nickte. Ich komm zu dir zurück, dachte sie. Dann lächelte sie, löste die klammen Finger vom kalten Stahl, streckte die Arme aus und ließ sich vom Wind in die Freiheit tragen.