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Es war später Nachmittag, als Franka Brandl und Ulrike über die kurvigen Landstraßen nach Schwanghaus fuhren. Die Sonne stand schon am Horizont, über den Feldern lag ein fast durchsichtiger, dunstiger Nebel. Ulrike beobachtete durch das Autofenster einen Turmfalken, der im Rüttelflug in der Luft verharrte und sich dann auf den Boden hinunterstürzen ließ. Ob die Jagd erfolgreich gewesen war, konnte sie nicht mehr erkennen.

»Woher kommen Sie eigentlich?«, fragte Franka Brandl sie. »Man hört, dass Sie nicht von hier sind. Also, nicht aus Bayern.«

»Recklinghausen, Ruhrgebiet«, antwortete Ulrike.

»Und wie hat es Sie nach Regensburg verschlagen, wenn ich fragen darf?«

»Mein Mann ist aus der Nähe, also, aus Straubing.« Sie zögerte. »Ex-Mann«, korrigierte sie sich.

»Ach, Sie sind geschieden?«, fragte Franka. »Entschuldigung, das geht mich ja gar nichts an«, fügte sie dann verlegen hinzu.

»Das macht nichts. So gut wie, ich bin getrennt. Das dritte Mal, falls Sie es genau wissen wollen. Kaum zu glauben, was?« Ulrike schloss die Augen und räusperte sich. Ein langes Schweigen trat ein.

»Und wie gefällt es Ihnen hier so in der Oberpfalz?«, durchbrach Franka Brandl schließlich die angespannte Stille. »Die Leute sind hier vielleicht schon etwas –«

»Die Leute sind alle gleich. Jeder meint immer, er hätte die Originalität für sich gepachtet, aber letztlich ist es überall dasselbe. Egal wo man hinkommt.« Ulrike biss sich auf die Zunge und versuchte sich zu sammeln. Diese zynischen Kommentare, die sie klingen ließen wie einen alten, abgebrühten Westernhelden, musste sie sich dringend abgewöhnen. »Woher stammen Sie?«, fragte sie Franka Brandl stattdessen und beobachtete die hübsche Blondine aus dem Augenwinkel.

»Von hier. Also, ein paar Dörfer weiter. Ich hab’s nicht weit weg geschafft.« Sie lachte. »Aber wollte ich auch nie.«

»Es ist gut, wenn man weiß, wo man herkommt und wo man hingehört«, sagte Ulrike, und dann schwiegen beide wieder, bis sie die nächste Ortsausfahrt passiert hatten und Schwanghaus, in die hügelige Landschaft eingebettet, am Horizont in Sicht kam.

»Kennen Sie denn Schwanghaus?«

Franka Brandl zuckte mit den Schultern. »Ein Kaff wie jedes andere hier, viele Junge sind da, junge Familien. Die haben eine Grundschule und einen Kindergarten. Meine Cousine erzählt, sie hätten eine gute Dorfgemeinschaft.«

Schwanghaus lag mitten in einem Felderteppich, auf dem es gerade wieder zu wachsen und zu blühen begann. Ein alter Fendt Farmer fuhr vor ihnen durch den Ortskern. Gerade wurde Gülle ausgebracht, überall roch man das. Ulrike, die das Landleben nicht gewohnt war und eher mit dem Geruch von Ruß und Kohle aufgewachsen war, wurde etwas unwohl davon.

Vor einem Gebäude, das allem Anschein nach der Kindergarten sein musste, von dem Franka erzählt hatte, befand sich ein kleiner, gepflegter Spielplatz. Zwischen den bunten Häuserfassaden und den freundlichen Vorgärten konnte man noch das eine oder andere Fachwerk erkennen.

Einige Anwohner nutzten den Nachmittag für einen Spaziergang, streckten die Köpfe in die lang ersehnte Frühlingssonne. Andere verweilten in den Einfahrten der Bauernhöfe entlang der Hauptstraße, unterhielten sich mit den Bewohnern. Eine ältere Dame leerte einen Putzeimer im Gully neben dem Gehweg, ein junger Mann in blauer Arbeitshose schraubte an einem Motorrad herum. Kinder spielten in den Gärten Fußball oder schaukelten, irgendwo wurde der erste Grill angeschürt.

Im Ortszentrum strahlte die gelb verputzte Kirche mit dem dunklen geschieferten, hoch aufragenden Turm in der Sonne, unweit davon befand sich ein Gasthaus, auf dessen Außenterrasse grüne, wuchtige Sonnenschirme Schatten spendeten. Ein Mann saß an einem der kleinen Tische, vor sich ein Weißbier, den rundlichen Bauch in eine enge Radlerkluft gepresst.

Ulrike schoss wieder das Bild der übel massakrierten Leiche von Leonard Berger in den Sinn. Es schien kaum möglich, es mit diesem freundlichen Ort in Verbindung zu setzen. Aus Erfahrung wusste sie jedoch, es konnte gleichermaßen hilfreich wie hinderlich sein, sich auf ein Gefühl zu verlassen. Die Aufklärung von Kriminalfällen war wie menschliches Verhalten schwer zu berechnen oder vorherzusehen, oft waren Dinge genau so, wie sie schienen, und ebenso oft waren sie es nicht.

Ulrike legte den Kopf schief und erinnerte sich an die letzte Woche, den alleinigen Einzug in die neue Wohnung, Thorstens Unfähigkeit, ihr in die Augen zu sehen, als sie ihre letzten Sachen abgeholt hatte. Vier Jahre hatte es diesmal nur gebraucht, vier Jahre, dann war wieder alles vorbei gewesen. Sie presste die Hände zusammen. Zumindest in diesem Fall musste sie einen klaren Kopf behalten.

Franka Brandls Cousine Stefanie Schweiger lebte in einem minzfarbenen Haus in einer Straße oberhalb des Friedhofes. Im Vorgarten wuchsen Krokusse und Narzissen. Sie stand schon in der Tür und winkte den beiden zu. Ulrike stieg aus dem Wagen und schaute sich um. Der Drosselweg war in warmes Abendlicht getaucht. Zwischen den gepflegten Reihenhäusern, den Blumen und den gekehrten Gehwegen nahm sie am Ende der Straße einen Mann wahr, der im Eingang eines Holzhauses lehnte. Neben ihm stand ein Betonmischer, ein Bauzaun säumte Haus und Garten. Der Mann war um die dreißig, hatte dunkelbraune, kurz geschorene Haare, trug einen Blaumann und rauchte eine Zigarette. Bis zur Haustür spürte Ulrike seinen Blick in ihrem Rücken, und als sie sich noch einmal umdrehte, stand er immer noch genauso da. Er schien zu überlegen, dann hob er die Hand kurz zum Gruß, nickte freundlich und kehrte ins Haus zurück.

»Ich hab Kaffee gemacht«, sagte Stefanie Schweiger und bat ihre Gäste an den großen runden Holztisch, auf dem ein blumiges Osterarrangement drapiert war. Sie war sichtlich nervös, wuselte umher, stellte Kekse auf den Tisch und fragte Ulrike zweimal, ob sie Zucker oder Milch wolle. In dem kleinen Haus schwebte kein Staubkorn durch die Lüfte, die Kissen auf dem Sofa waren aufgeschüttelt, die Decke sauber gefaltet, der Glastisch davor poliert.

Stefanie Schweiger war genau wie ihre Cousine blond und hatte grüne Augen, trug ihr Haar im kurzen, sportlichen Bob, war etwas pummelig und hatte eine schwarze Brille auf der Nase. Sie war Mutter von zwei Kindern, seit sechs Jahren verheiratet und kaum dreißig Jahre alt.

»Die Kleinen sind heut Nachmittag bei der Oma«, sagte sie und fuhr sich durchs kurze Haar. »Braucht ihr noch was?«

Erst als die Frage verneint wurde, setzte sie sich und nippte an ihrem Kaffee.

»Wie lang leben Sie schon hier?«, begann Ulrike und beobachtete, wie Stefanie Schweiger an dem kleinen Deckchen herumnestelte, auf dem die Osterdeko stand: ein Strauß Narzissen und einige aufwendig verzierte Ostereier, die in einem dunklen Holzgeflecht lagen.

»Seit fünf Jahren. Tom, mein Mann, der kommt von hier. Wir waren erst bei seinen Eltern in der Einliegerwohnung, dann haben wir das Grundstück günstig gekauft, gebaut und sind dann hierher. Genau.« Sie lachte nervös.

»Das ist keine Vernehmung, Steffi«, sagte Franka und legte ihrer Cousine beruhigend die Hand auf den Arm. »Frau Kork hat nur ein paar Fragen zu dem, was du mir heut Morgen erzählt hast.«

»Ja, ich weiß. Ich will ja nur nichts Falsches sagen, niemanden belasten oder so. Ich weiß ja nichts, ich hab das ja auch nur gehört.«

»Kannten Sie den Herrn Berger?«

»Na ja, ›kennen‹ nicht. Man wusste schon, wer es ist. Er war ja auch irgendwie auffällig. Da hat man schon öfter mal einen Blick riskiert, wenn man ihn gesehen hat, beim Einkaufen oder im Ort.«

»Und es wurde über ihn geredet?«

Stefanie nickte. »Ja, es wurde viel über ihn geredet. Warum er hier ist, was er macht und so weiter. Also, ich hab das nur gehört von den Müttern im Kindergarten und in der Nachbarschaft. Irgendwann hieß es, dass er wohl eine Minderjährige vernascht hätte. Also, eine Schülerin. Aber ich weiß auch gar nicht mehr genau, wer mir das gesagt hat. Und ob das überhaupt stimmt.« Sie atmete tief durch und trank erneut von ihrem Kaffee.

Ulrike horchte auf. Irgendetwas machte sie stutzig. »Wie war die Stimmung hier im Ort dem Herrn Berger gegenüber?«

Stefanie Schweiger überlegte einen Moment, bevor sie antwortete. »Das kann man nicht genau sagen. Aber als das rauskam … Das kann ja jeder verstehen, wenn man dann eher nicht mehr so positiv über jemanden denkt.« Sie setzte erneut die Tasse an, stellte sie dann mit klammen Fingern wieder ab und blickte zwischen Ulrike und ihrer Cousine hin und her. »Mehr kann ich über den Herrn Berger auch nicht sagen.« Ihre Stimme drohte zu brechen.

»Fühlen Sie sich wohl hier? In Schwanghaus?«

Stefanie Schweiger nickte heftig. »Ja, sehr, es ist ein wirklich schöner Fleck. Die Kinder lieben es auch. Wir sind sehr glücklich hier.«

Ulrike lächelte sie an. »Alles klar, Frau Schweiger. Danke für Ihre Zeit. Wir melden uns, falls wir noch Fragen haben. Es könnte sein, dass Sie nach Neumarkt kommen müssen, um eine Aussage zu machen. Wäre das möglich?«

Stefanie Schweiger sah beunruhigt zu Franka Brandl, die ihr ermutigend zunickte. »Ja klar, ich denk schon.«

»Vielen Dank! Sie haben uns sehr geholfen«, sagte Ulrike freundlich und schüttelte ihr die Hand.

»Wir sehen uns«, fügte Franka Brandl hinzu, drückte ihre Cousine, dann traten sie zurück in die Abendsonne.

Ulrike visierte das Holzhaus mit der Baustelle an. Der Mann im Blaumann stand wieder an der Tür und rauchte.

Als sie gerade in den Wagen gestiegen war, klingelte ihr Handy. Yusuf Kayas tiefe Stimme raunte durch den Hörer. »Wir haben bei Bergers ehemaliger Schule angerufen, aber da war heut keiner mehr. Wir müssen es morgen noch mal versuchen. Die Kollegen in München waren bei dem Sohn Anton Berger zu Hause und haben mit ihm gesprochen. Er kommt morgen vorbei. Hat sich bei der Frau Schweiger noch was ergeben?«

Franka Brandl ließ den Motor an, und der Wagen rollte um die Straßenecke.

»Ich ruf gleich zurück«, sagte Ulrike unvermittelt und legte auf. »Bleiben Sie stehen, Frau Brandl!« Im Rückspiegel konnte man gerade noch das Haus von Stefanie Schweiger sehen sowie ein Stück der Straße rechts davon. »Schalten Sie den Motor aus.«

Für einen Augenblick geschah nichts, dann schlenderte tatsächlich der Mann im Blaumann langsam den Gehweg entlang, direkt auf Stefanie Schweigers Haus zu. Davor angekommen, drehte er sich kurz um und entdeckte den Streifenwagen in der Kurve. Er holte sein Handy aus der Tasche, blickte darauf, ging dann beiläufig weiter die Straße hinunter und verschwand schließlich aus Ulrikes Blickfeld. »Bitte drehen Sie und fahren Sie ein Stück zurück.« Sie drückte die Wahlwiederholung auf ihrem Handy. Yusuf Kaya nahm das Gespräch ungehalten entgegen. In knappen Worten berichtete sie ihm von dem Besuch bei Stefanie Schweiger. »Eine Sache noch«, sagte sie am Ende des Gesprächs. »Drosselweg 28. Ich will wissen, wer da wohnt.«

Sie schaute wieder aus dem Fenster, die Straßen waren leer, der Himmel blutrot gefärbt. Ulrike dachte an das Gespräch mit Stefanie Schweiger und war sich nun sicher: Die junge Frau hatte vor irgendetwas Angst gehabt.

***

Hallo du,

ich wollt dich nicht erschrecken vorhin. Tut mir leid. Sei mir nicht böse. Nur ein schneller Brief heute, um dir zu sagen, dass ich das war an deinem Fenster.

X.

Nebeleck

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