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Es war neun Uhr, und das kleine Café vor den Toren der Stadt hatte gerade geöffnet. Ulrike ließ sich an dem einzigen Außentisch nieder, der zu dieser Tageszeit der Morgensonne ausgesetzt war. Ihre Glieder schmerzten, ihr Magen grummelte, und sie sehnte sich nach einem frischen, starken Kaffee. Augenscheinlich war sie mit ihren siebenundvierzig Jahren mittlerweile wohl einfach zu alt, um bis tief in die Nacht zu arbeiten und dann auf einer schwarzen Ledercouch zu übernachten.

Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte in den strahlend blauen Himmel über ihr, der wie schon am Vortag von keiner Wolke getrübt war. Dann beobachtete sie den vorbeifließenden Berufsverkehr auf der vor ihr liegenden Hauptstraße, die Fußgänger, die eiligen Schrittes an ihr vorbei durch das Stadttor in Richtung Innenstadt unterwegs waren, und lauschte auf die gedämpften Gespräche, die Motorengeräusche, das Klackern der Schuhsohlen auf dem Asphalt. Sie streckte die Beine aus und hielt das Gesicht wieder in die Sonne, nachdem sie bei der Kellnerin mit blondem Lockenkopf einen schwarzen Kaffee und ein französisches Frühstück bestellt hatte.

»Guten Morgen«, vernahm Ulrike plötzlich eine bekannte Stimme neben sich. Yusuf Kaya hatte sich vor ihr aufgebaut. »Darf ich?«

Sie nickte kurz und beobachtete, wie er sich auf den gegenüberstehenden Stuhl fallen ließ. »Jackie«, rief er der Bedienung zu, die darauf den Kopf zur Tür rausstreckte. »Morgen! Einen Milchkaffee bitte!« Sie hob den Daumen und verschwand dann eilig wieder im Inneren. »Sie sehen aus, als hätten Sie eine lange Nacht gehabt«, bemerkte Kaya und klang dabei etwas versöhnlicher als gestern. Seit ihrer Konfrontation war er ihr aus dem Weg gegangen und hatte nur einsilbig auf ihre Fragen und Anweisungen reagiert.

»Lass uns Du sagen, ich bin Ulrike«, entgegnete sie und streckte ihm ebenso versöhnlich die Hand entgegen in der Hoffnung, die Spannungen so etwas aufzulösen. »Was die lange Nacht betrifft, hast du recht. Ich war gestern noch mal beim Hof.«

Er runzelte die Stirn. »Allein? Warum?«

Ulrike erzählte von ihrem Einfall und der nächtlichen Entdeckung im Hundezwinger. »Ich bin keine Expertin, aber das Futter sah frisch aus, nicht wie etwas, das Berger schon vor Tagen hingestellt hätte. Noch dazu hätte Theo früher auf sich aufmerksam machen können, wäre er die ganze Zeit frei herumgelaufen.«

»Und er hat sich nicht selbst aus dem Zwinger befreit?«

Ulrike schüttelte den Kopf. »Keine Spuren am Schloss oder den Gitterstäben. Nichts. Jemand hatte einen Schlüssel, jemand hat ihn gefüttert, jemand hat ihn rausgelassen.«

»War es der Täter?«, fragte Yusuf.

»Ich kann mir das alles überhaupt nicht erklären. Warum hätte er gewollt, dass man die Leiche findet?«

Sie verstummte, als die blond gelockte Jackie mit einem Tablett neben dem Tisch erschien. Nachdem die Kellnerin den Kaffee und das französische Frühstück serviert hatte, nahm Ulrike ihren Gedanken wieder auf. »Und warum erst dann? Er kommt zum Hof, sticht Berger ab und kehrt ein paar Tage später wieder zurück …«

»… füttert den Hund und lässt ihn raus?«, ergänzte Yusuf.

»Völlig unvorstellbar«, sagte Ulrike und riss ein Stück von ihrem Buttercroissant ab.

»Möglicherweise gab es aber eine zweite Person auf dem Hof.«

»Schwer zu sagen. Vielleicht wäre es das Beste, die Spurensicherung durchkämmt noch einmal das Gebiet beim Zwinger.« Sie nahm einen Schluck Kaffee. »Wie steht es um die Befragungen in Schwanghaus? Wie weit seid ihr da? Ich warte immer noch auf einen Bericht.«

Yusuf stieß verärgert die Luft aus. »Die Kollegen sind gerade wieder vor Ort. So klein ist das Dorf nicht, mit dem Neubaugebiet sind das immerhin an die tausend Bewohner. Und außerdem denke ich, wir sollten uns eher auf Bergers direktes Umfeld konzentrieren. Wie zielführend kann es denn sein, jeden Nachbarn abzuklappern, zumal wir ohnehin schon wissen, dass Berger ein Außenseiter war?«

»Eben. Er war ein Außenseiter. Die Frage ist doch, warum. Es gibt kein direktes Umfeld.«

»Es gibt den Sohn, es gibt diese Geschichte mit der Schülerin«, gab Yusuf gereizt zurück.

»Das ist mir klar, aber was spricht dagegen, sich die nähere Umgebung anzuschauen? Wir müssen in alle Richtungen ermitteln«, warf sie ein.

»Mit welchem Personal? Uns werden jedes Jahr Gelder gestrichen, gleichzeitig bleibt auch das Tagesgeschäft nicht stehen, nur weil irgendein Wahnsinniger mit einem Küchenmesser durch die Gegend streift. Ich kann meine Leute nicht dazu abstellen, jeden Nachbarn in Schwanghaus zu befragen, es sei denn, die Inspektion in Regensburg schickt zusätzliches Personal.«

»Falls jemand im Ort etwas weiß, was gesehen hat, müssen wir das jetzt in Erfahrung bringen. Jetzt sofort. Du weißt, wie so etwas ist«, erwiderte sie.

»Mein Vorschlag ist, wir konzentrieren uns auf sein privates Umfeld, und dann sehen wir weiter.«

Er bedachte sie mit einem herausfordernden Blick, und Ulrike spürte, wie sie sich unwillkürlich verkrampfte. Sie beugte sich vor. »Das ist nicht der richtige Augenblick, um Kante zu zeigen, Yusuf. Ich leite die Ermittlungen, und ich möchte, dass das Dorf auf links gekrempelt wird. Der Bericht liegt heute Nachmittag auf meinem Schreibtisch.«

Sie lehnte sich zurück und trank von ihrem Kaffee. Er war kalt geworden.

»Euch geht’s gut? Braucht ihr noch was?«, flötete Jackie aus der Tür des Cafés in die drückende Stille hinein. Bevor einer der beiden antworten konnte, klingelte Yusufs Handy.

»Er ist da?«, hörte Ulrike ihn sagen, nachdem er das Gespräch angenommen hatte. Anton, dachte sie, wickelte den Rest ihres Croissants in eine Serviette und trank den letzten Schluck Kaffee. Yusuf legte auf und winkte Jackie zu.

»Ich schreib’s an!«, rief sie ihm hinterher.

Anton Berger kam nach seinem Vater. Dieselben Augen, dasselbe Lächeln, das in dem Moment der Begrüßung schwach und flüchtig über sein Gesicht huschte. Er sah übernächtigt aus, das schwarze Polohemd war zerknittert und sein Haar leicht zerzaust. Seine Freundin war ebenfalls dabei, eine brünette Schönheit mit langen dünnen Beinen, vollen Lippen und einer frechen Stupsnase.

»Vanessa Lehmann, angenehm«, sagte sie und schüttelte Ulrikes Hand.

»Fischhändchen«, hatte ihre Großmutter immer gesagt, wenn Ulrike beim Handschlag nicht zudrückte. Ein Fischhändchen hatte auch Vanessa Lehmann gegeben. Sie wirkte unsicher und genau wie ihr Freund übernächtigt. Yusuf und Ulrike führten sie in Yusufs Büro, Ulrike schloss die Tür hinter ihnen und wies sie an, sich auf die Stühle vor Yusufs Schreibtisch zu setzen. Er stellte sich in den Türrahmen, Ulrike nahm auf seinem Stuhl Platz.

»Ich weiß nicht, wie viel die Kollegen in München Ihnen schon erzählt haben, Herr Berger, aber Ihr Vater wurde gestern früh –«

»Er wurde ermordet«, unterbrach Anton Berger sie, seine Stimme hatte eine seltsame Klangfarbe angenommen, als er diese drei Worte ausgesprochen hatte. Für einen Augenblick wurde es ruhig, Vanessa legte einen Arm um seine Schulter. Er blickte auf seine Hände, die flach auf den Oberschenkeln lagen. »Er wurde ermordet, ich weiß.«

»Ich kann mir vorstellen, wie sich das für Sie anfühlen muss. Ich verspreche Ihnen, dass wir unser Möglichstes tun werden, um denjenigen zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen, der das getan hat.« Ulrike hasste diese Momente, jedes Mal hatte sie das Gefühl, diese Worte, die sie sprechen musste, seien hohl und leer, aufgesetzt, völlig bedeutungslos.

Anton Berger sah schweigend aus dem Fenster. Es war still, nur die Stimmen der Kollegen im Großraumbüro drangen gedämpft herein.

»Mein Vater ist …«, begann Berger irgendwann mit zitternder Stimme, »mein Vater war nicht einfach. Und ich werde nicht lügen und behaupten, dass unser Verhältnis besonders gut war. Im Gegenteil. Aber er war kein schlechter Mensch. Die Umstände waren schwer.«

»Welche Umstände?«, fragte Ulrike.

»Meine Mutter ist vor fünf Jahren gestorben, und das hat er … Er hat’s nicht verkraftet. Bis heute nicht. Er hat’s versucht, aber er ist immer wieder eingeknickt.«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Vor etwa zehn Monaten, im Juni letztes Jahr. Ich sage ja … Unser Verhältnis war nicht leicht. Er hat sich ja bemüht, es zu verbessern. Dann war er mal wieder für ein paar Monate präsent, hat angerufen, ist vorbeigekommen. Und dann war er wieder weg, ist abgetaucht, hat gesoffen, sich selbst bemitleidet. Er war nicht konstant. Er war kein Vater, auf den man sich wirklich verlassen konnte.«

»Und als Sie sich im Juni gesehen haben, wie war er da?«

Wieder bebte Antons Stimme. »Er war … Er war gut drauf damals. Er hat uns besucht, in München. Wir sind essen gegangen. Hat vom Hof erzählt, wie sich alles da entwickelt. Wir haben ihm versprochen vorbeizukommen … Daraus ist nichts geworden.«

Vanessa drückte seine Hand. »Wir wollten ja«, sagte sie, »aber er ist nicht mehr ans Telefon. Anton hat ihn nicht erreicht.«

»Können Sie mir sagen, wie es zu dieser Entscheidung kam, dass er den Hof gekauft hat?«

Anton zuckte mit den Schultern. »Sie kannten ihn nicht. Er war schnell zu begeistern, und spontan war er auch. Er hat ständig was anderes gehabt, was ihn interessiert … eine neue Ablenkung. Vom Hof hat er mir erst erzählt, als er längst da gelebt hat. Das war typisch für ihn, er hat es halt einfach gemacht. Job gekündigt, Hof gekauft, abgehauen. Als ich davon gehört hab, da hab ich mich nicht mal gewundert. Ich dachte sogar, dass es vielleicht gut ist, wenn er mal zur Ruhe kommt.«

Ulrike zögerte, bevor sie die nächste Frage stellte. »Herr Berger, es gibt da ein Gerücht über einen Grund, warum Ihr Vater so plötzlich gekündigt hat.«

Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre im Raum, Ulrike konnte regelrecht spüren, wie Anton Berger seine Aufmerksamkeit schärfte. »Was für ein Gerücht?« Die Worte brachte er gepresst heraus, zischte sie beinah.

»Es gibt das Gerücht, dass Ihr Vater mit einer Schülerin angebandelt hat.«

»Schwachsinn!«, brachte Berger aufgebracht hervor. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, mein Vater war seltsam, er war verschroben, aber das … Das stimmt nicht.«

»Mit Verlaub«, schaltete sich Yusuf ein, »Sie haben Ihren Vater so lang nicht gesehen, Ihr Verhältnis war auch nicht das beste, wie können Sie da so sicher sein?«

Ulrike presste die Lippen aufeinander und beobachtete, wie sich Antons Augen zu Schlitzen verengten. »Ich weiß, dass mein Vater kein Kinderficker war!« Die letzten Worte brüllte er.

»Beruhig dich, Schatz«, sagte Vanessa leise und streichelte ihm über die Schulter.

Ulrike schaltete sich wieder ein. »Herr Berger, mein Kollege versucht nur, der Sache auf den Grund zu kommen. Wir unterstellen Ihrem Vater gar nichts, aber wir müssen jeder Spur nachgehen.«

Anton Berger schien sich langsam zu beruhigen, er schaute wieder aus dem Fenster. »Schon in Ordnung«, sagte er. »Haben Sie schon was anderes? Irgendwas?«

»Es ist noch zu früh, etwas zu sagen, aber wir gehen allen Spuren nach. Wir werden denjenigen finden, der Ihrem Vater das angetan hat.«

Berger war am Ende seiner Kräfte. »Kann ich hin? Auf den Hof?«

Ulrike nickte. »Ich begleite Sie.«

Ulrike beobachtete den kleinen Opel Corsa in ihrem Rückspiegel. Vanessa saß am Steuer, Anton neben ihr, den Kopf gegen die Scheibe gedrückt, die Augen geschlossen. Dann richtete sie den Blick wieder auf die Straße. Langsam zogen erste kleinere Wolken über den strahlend blauen Himmel. Laut Wettervorhersage sollte es heute noch regnen, dafür sprach bislang aber noch nichts. Sie wünschte sich fast den Regen herbei, dass es bald ein Ende nahm mit dieser absurden Idylle.

Ulrike atmete tief durch und rekapitulierte, was Anton Berger ihnen erzählt hatte. Sein Vater wirkte in seiner Beschreibung wie ein Fähnchen im Winde, sprunghaft, leicht depressiv. Vor diesem Hintergrund schien der Hofkauf wie eine Impulstat, eine plötzliche Eingebung in der Hoffnung, das eigene Leben zu verbessern, egal wie, egal wodurch. Und gleichzeitig wirkte der Kauf wie eine Flucht. Eine Flucht vor sich selbst und vielleicht auch vor etwas, das ihn am Ende doch eingeholt hatte.

Durch den Wald fuhr Ulrike geradewegs auf den Hof zu, der Opel Corsa kam neben ihr zum Stehen. Anton Berger stieg aus und schritt langsam und bedächtig auf das Gebäude zu. Sein Blick blieb am Zwinger hängen. »Theo«, wisperte er und schaute Ulrike dann an, »wo ist er?«

»Im Tierheim, Sie können ihn dort abholen, wenn Sie möchten.«

Anton nickte, dann ging er weiter. Er bewegte sich langsam wie ein Raubtier über das Grundstück, ohne den Hof aus den Augen zu lassen. Auf der riesigen Wiese vor der Scheune ließ er sich ins Gras fallen.

»Sie heißt Tanja«, sagte Vanessa Lehmann plötzlich. Sie hatte sich neben sie gestellt, lehnte sich an den Wagen und zündete sich eine Zigarette an. Sie inhalierte und warf dann ihre langen braunen Haare zurück.

»Wie bitte?« Ulrike schaute sie an. Mit geschlossenen Augen pustete Vanessa den Rauch langsam aus.

»Sie heißt Tanja«, wiederholte sie, »die Schülerin. Ihr Name ist Tanja Grass.«

Ulrike war sprachlos.

»Ich weiß nicht, warum er es Ihnen nicht gesagt hat. Irgendwie ist er damit nicht klargekommen, dass sein Vater jahrelang den Tod der Mutter nicht verkraftet hat, und dann ist plötzlich alles wieder gut, weil er eine Teenagerin vögelt.«

»Anton wusste davon?«

Vanessa nickte. »Ja, er wusste davon. Leonard hat es uns damals gesagt, als er uns besucht hat. Hat gesagt, dass sich jetzt endlich alles ändert. Dass er jetzt Tanja hat.«

Sie inhalierte erneut. Wie sie da stand und Anton beobachtete, der sich ins hohe Gras gelegt hatte, wirkte sie wie eine Löwenmutter. »Leonard war ein Scheißkerl. Es ging immer nur um ihn. Dass Anton auch seine Mutter verloren hat, dass er einen Vater gebraucht hätte, der sich um ihn kümmert, das hat er nicht verstanden. Er hat Anton sich selbst überlassen und ist währenddessen im Selbstmitleid versunken.«

Vanessa überlegte, bevor sie weitersprach. »Ich hätte mich nie zwischen Anton und Leonard gestellt, aber ich konnte nichts mit ihm anfangen. Hat seinen Sohn komplett alleingelassen, nichts für ihn getan. Wir sind seit drei Monaten verlobt«, sagte sie und hob ihre linke Hand, an deren Ringfinger ein kleiner Diamantring blitzte. »Wir haben ihm aufs Band gesprochen, er hat nicht mal zurückgerufen.«

»Und Tanja?«

»Tanja war Abiturientin, gerade fertig mit allem. Er hatte schon länger einen Blick auf sie, hat er erzählt. Ich weiß nicht, wie lang das schon ging mit denen. Aber alles sollte anders werden, mit ihr auf dem Hof. Er hat gesagt, er fühlt sich wie berufen. Ich glaube, das war der Moment, in dem Anton es gecheckt hat.«

»Was gecheckt?«

»Dass Leonard ein Scheißkerl ist. Und das ist nicht leicht für ihn. Besonders jetzt, wo er tot ist. Ein lebender Scheißkerl als Vater ist immerhin besser als ein toter. Ich glaub, er hat das mit Tanja nicht gesagt, weil er ihn so nicht in Erinnerung behalten wollte.«

Sie trat die Zigarette auf dem Boden aus, dann ging sie auf die Wiese und setzte sich neben Anton ins Gras. »Komm, wir holen Theo«, hörte Ulrike sie sagen. Sie hatte den Arm um seine Schultern gelegt. Er schaute sie an und lächelte dann vorsichtig.

Als die beiden sich verabschiedet hatten und ins Auto gestiegen waren, fielen nun doch die ersten Tropfen vom Himmel.

Nebeleck

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