Читать книгу Nebeleck - Elisabeth Nesselrode - Страница 13
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ОглавлениеDie Sonne strahlte genau wie gestern und hatte an diesem Mittag bereits jeden Winkel des Besprechungszimmers aufgeheizt. Sie waren zu fünft, neben Yusuf und ihr bestand die neu gebildete Sonderkommission nur aus drei weiteren Beamten, die rund um die Uhr mit der Aufklärung des Falles beschäftigt waren. Der Gedanke verursachte Ulrike Übelkeit. Alle Hebel waren in Bewegung gesetzt worden, um Tanja Grass ausfindig zu machen. Man hatte ihre Freundinnen aus Schulzeiten und ihre Lehrer befragt, und man hatte ihre Mutter in einer kleinen Mietwohnung in der Nürnberger Südstadt ausfindig gemacht.
»Zugedröhnt bis in die Haarspitzen«, war die Rückmeldung der Beamten gewesen, die Frau Grass aufgesucht hatten. Konnte man dem Bericht Glauben schenken, hatte es einiger subtiler Hilfestellungen bedurft, sie an die Existenz ihrer Tochter zu erinnern. Doch auch danach war nicht viel aus ihr herauszubekommen gewesen. Seit ihr das Sorgerecht nach der Scheidung des Ehepaars Grass vor zehn Jahren entzogen worden war, hatte sich der Kontakt zwischen Mutter und Tochter auf ein absolutes Minimum beschränkt.
Auch sonst hatte Tanja wenig Aufsehen erregt. So schilderte es Franka Brandl während der Besprechung. Sie hatte den ganzen Vormittag am Telefon verbracht. »Keiner ihrer Mitschüler hatte wirklich was mit ihr zu tun. Sie war manchmal dabei, irgendwie hat sie wohl niemanden gestört, nettes Mädchen anscheinend, aber sehr still, extrem schüchtern. Keines von den Mädels, mit denen ich gesprochen habe, wusste, dass es einen Mann in ihrem Leben gab. Generell konnte niemand etwas Konkretes über sie sagen, außer, dass sie gut in der Schule war und dass ihr Elternhaus wohl nicht unproblematisch gewesen ist.« Franka zuckte mit den Schultern. »Sonst absolut gar nichts.«
»Keine beste Freundin? Keine enge Vertraute?«
»Eine engere Freundin ist, laut den Mitschülerinnen, Jennifer Hellwig. Wohnhaft in Nürnberg. Ich habe sie bisher noch nicht erreicht. Da bleibe ich dran.«
Ulrike betrachtete die Kopie des Passfotos, das sie von Tanjas Mutter erhalten hatte. Tanja war keine typische Schönheit. Und dennoch lag etwas in ihrem Blick, das einen fesselte und zweimal hinschauen ließ. Das braune, glatte Haar hing über ihrer Schulter, die Augen waren mandelförmig und groß, sie hatte auffallend hohe Wangenknochen und schmale Lippen, auf denen ein seltsames Lächeln lag.
Wo bist du?, dachte Ulrike und ließ alle möglichen Szenarien in ihrem Kopf wie einen Schnellfilm ablaufen: nichts ahnend, untergetaucht, entführt, tot. Selbst wenn sie in Nebeleck gewesen war, es gab keine Spur, sie hatte nichts zurückgelassen. Tanja war ein Phantom. Ulrike stellte sich das geisterhafte Wesen auf dem verlassenen Hof vor und hatte für einen Augenblick den absurden Gedanken, dass sie immer noch dort war, in einer Ecke stehend, auf einem Stuhl sitzend und sich über all den Trubel wundernd. Vielleicht hatte man sie einfach übersehen.
»Ich möchte, dass heute noch eine Fahndung herausgegeben wird. Wir müssen sie so schnell wie möglich finden.«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Yusuf und machte eilig eine Notiz auf seinem Block.
»Und in Schwanghaus ist auch nichts herausgekommen?« Ulrike blätterte durch den Bericht, den Yusuf ihr gestern übergeben hatte. »Wer hat die Befragungen durchgeführt?«
Die beiden anderen Beamten, die neben Franka und Yusuf im Raum saßen, hoben simultan die Hände, der eine räusperte sich. Sein Name war Stefan Brunner. Ulrike hatte sich das markante Gesicht schon eingeprägt, seine Augen hatten unterschiedliche Farben, das eine tiefbraun, das andere eisblau.
»Wir haben immer nur dasselbe gehört«, berichtete Brunner. »Berger war ein Perverser, ein Trinker, Kauz aus der Stadt. Anscheinend konnte keiner was mit ihm anfangen oder wollte was mit ihm zu tun haben.«
»Man muss dazu sagen, dass viel davon der übliche Klatsch war«, sagte der zweite Polizist, ein etwas untersetzter Blonder mit rotem Gesicht. »Irgendeine Sau wird ja immer durchs Dorf getrieben.«
»Ich frage mich, woher dieser Unmut kommt«, überlegte Ulrike laut. »Wenn keiner was mit ihm zu tun haben wollte, woher stammen dann all diese Geschichten?«
»Das haben wir auch gefragt. Und auch das wusste niemand so genau«, sagte der Untersetzte, dessen Namen Ulrike vergessen hatte.
»Es kann natürlich auch sein, dass sie sich dazu einfach nicht äußern wollten«, fügte Stefan Brunner hinzu.
Ulrike schaute zu Franka. »Deine Cousine, die hat auf diese Frage ganz ähnlich reagiert. Sie hat auch gesagt, dass sie nichts über den Ursprung dieser Gerüchte wüsste.«
Franka schien nachzudenken und nickte dann vorsichtig. »Das stimmt«, gab sie leise zurück.
Es wurde still, Ulrike seufzte. »Wir kommen nicht weiter, solange Tanja Grass verschwunden bleibt. Wir müssen sie finden. So schnell wie möglich!«, wiederholte sie und erklärte damit die Besprechung für beendet. Stühle wurden verschoben, Zettel raschelnd zusammengelegt. Die Tür wurde geöffnet, und bald war Ulrike ganz allein. Der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee drang ihr in die Nase. In Gedanken versunken drückte sie auf dem Knopf ihres Kugelschreibers herum und legte die Stirn in Falten. Sie hatte das Gefühl, ihr würde die Zeit davonlaufen. Tag drei, und sie hatten nichts außer einem ausgebüxten Teenager und ein paar fiesen Gerüchten. Sie atmete tief durch, dann schlug sie ihren Block auf, blickte auf die erste Seite und die großen schwarzen Buchstaben. SCHWANGHAUS.
Jemand klopfte am Türrahmen. »Frau Kork?«, vernahm sie die Stimme von Stefan Brunner, der vorsichtig in den Raum linste.
»Ulrike«, erinnerte sie ihn freundlich an das vor der Besprechung angebotene Du. »Komm rein.«
Er räusperte sich. »Ich weiß nicht, ob mein Gefühl mich trügt, aber es gab da etwas, das mir aufgefallen ist. Vielleicht ist es nicht wichtig, aber ich wollte es trotzdem loswerden.«
»Was?«, fragte Ulrike ungeduldig.
»Wir waren im Drosselweg 28, wo Matthias König wohnt. Ich hatte einmal mit ihm zu tun, deswegen war er mir gegenüber recht freundlich und auch aufgeschlossen. Hat mich wie einen alten Bekannten behandelt.«
»Die Schlägerei auf dem Stadtfest?«
Stefan nickte. »Ja, auch wenn er natürlich der volle Prolet ist, haben wir uns damals ganz gut verstanden. Gestern, als wir da waren, da stand er im Garten und hat gearbeitet. Wir haben nach Herrn Berger gefragt, und er hat das Gleiche erzählt, was alle gesagt haben: Kennt er nicht, weiß er nichts von, hat nur gehört, dass der wohl ein Perverser ist, das Übliche.«
»Und was dann?«
»Wir haben uns nach Tanja erkundigt, und da …« Stefan Brunner zögerte für einen Augenblick. »Als wir den Namen gesagt haben, da hatte ich das Gefühl, da ist ihm ganz kurz seine Mimik entglitten. Nur für einen Moment.«
»Du meinst, dass er etwas wissen könnte?«
»Ich meine gar nichts«, sagte Brunner. »Ich hab es nur registriert. Das kam mir komisch vor.«
Ulrike nickte. »Danke. Gut beobachtet.«
Stefan Brunner verließ den Raum, und Ulrike sah wieder auf ihren Zettel. Gedankenverloren kritzelte sie Tanjas Namen auf das Papier. »Wo bist du, in Gottes Namen?«, wisperte sie.
***
Sie stand am Rande der Lichtung, völlig bewegungslos, und hielt den Atem an, während sie das einzigartige Naturschauspiel betrachtete, das sich ihr bot. Sie wusste nicht, wie oft sie schon Zeugin dieses Phänomens geworden war, aber es war ein Ritual gewesen. Fast jeden Morgen, wenn die Bedingungen stimmten, war sie aufgestanden, hatte sich einen Tee gemacht, war durch das hohe, feuchte Gras hier an genau diese Stelle gelaufen und hatte beobachtet, wie der Hof langsam hinter dem dampfenden Nebel verschwand.
Wenn die Sonne durch die Baumwipfel drang, legte sich der Nebel, und die feinen Tropfen in der Luft und auf dem Gras und den Ästen reflektierten das Licht und glitzerten in der kühlen Morgensonne. Es gab immer diesen kurzen Augenblick, den sie besonders liebte, wenn der Nebel gerade über dem Gras war und in dunstigen Schwaden nach oben stieg. Dann sah es so aus, als befände sie sich auf einer Wolke. Der Hof war von Sümpfen umgeben, hatte Leonard ihr am Anfang mal erklärt, als er noch mitgekommen war. Damals, als alles noch gut gewesen war.
»Du bist nicht wie die anderen, Elfe«, hatte er früher oft gesagt, »du lässt mich nie allein, richtig, Elfe?«
Sie hatte den Kopf geschüttelt und sich dann ganz tief zwischen seinen warmen Armen vergraben. Sie hatte gelogen.
Jetzt war alles anders. Der Nebel, der einst so mystisch um das Haus gekrochen war, wirkte an diesem Morgen bedrohlich, wie eine schwere Decke, unter der alles begraben lag. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie dachte an Leonard, seinen verkrümmten Körper, all das Blut. Sie war zurückgekehrt an jenem Morgen, aber es war zu spät gewesen. Sie hatte Theo im Zwinger gesehen, Leonard hätte ihn normalerweise um diese Uhrzeit schon rausgelassen und gefüttert gehabt. Tief in ihrem Inneren hatte sie da schon gewusst, dass sie zu spät gekommen war, und gleichzeitig nicht ganz aufgehört zu hoffen, dass es doch noch eine Chance gab, ihn zu retten.
Es war alles ihre Schuld gewesen, sie hätte nur etwas geduldiger mit ihm sein müssen, sie hätte warten müssen, bis sich alles wieder beruhigte, so wie Leonard es ihr immer gesagt hatte. Aber es war alles immer schlimmer geworden, und sie hatte Angst gehabt.
Sie schluchzte auf, ließ sich auf den feuchten Boden sinken und steckte den Kopf zwischen die Knie. Nein, es war nicht allein ihre Schuld gewesen, dachte sie dann.
»Elfe, geh nicht ins Dorf«, hatte er einmal zu ihr gesagt. Er war tief in der Nacht nach Hause gekommen, seine Stimme war brüchig vom Alkohol. »Das sind Schlangen im Dorf. Und wenn du nicht aufpasst, dann schnappen sie zu, und dann fressen sie dich auf mit Haut und Haaren.«