Читать книгу Past Perfect Life. Die komplett gelogene Wahrheit über mein Leben - Elizabeth Eulberg - Страница 9

Kapitel 5

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Wird schon schiefgehen.

Ich atme tief durch und mit einem stillen Stoßgebet drücke ich auf Absenden, das Einzige, worüber ich jetzt noch Kontrolle habe. Meine Bewerbung für die Green Bay ist eingereicht. Ich wiederhole den Vorgang für meine Zweit- und Drittwahl, die Universität Eau Claire und die La Crosse.

Ich hab’s geschafft. Ich bin angemeldet. Weiter geht’s mit Finanzhilfen und Stipendien. Gott, hab ich Spaß!

»Das Spiel geht gleich los!«, ruft Dad aus dem Wohnzimmer. »Ich brauch meine Glücksfee, bevor angepfiffen wird.«

Ich liebe unsere wöchentlichen Rituale. Da ist zum einen Taco-Dienstag, am Montag gibt es Essen vom Chinesen und dazu Filmklassiker, Mittwoch gehört den Trashfilmen mit Pizza und am Donnerstag machen wir immer einen Spieleabend. Aber mein Lieblingstag ist Football-Sonntag. Seit wir in Wisconsin wohnen, schlagen unsere Herzen grün-gold für die Green Bay Packers und im Laufe der Jahre haben Dad und ich unsere Football-Rituale zur Perfektion gebracht.

Ich streife mein abgetragenes Donald-Driver-Trikot über, ziehe meine grün-weiß-gold gestreiften Green-Bay-Packers-Strümpfe an und nehme die Haare mit einem grünen Haargummi zu einem Pferdeschwanz zusammen, um den ich abschließend eine Packers-Schleife binde.

Als ich ins Wohnzimmer komme, versucht Dad gerade, Baxter in sein Packers-Hundetrikot zu zwängen.

»Du weißt doch, wie sehr er das hasst«, sage ich. Baxters Knurren und seine Ausweichmanöver machen das überdeutlich. Aber wie dem auch sei: Die Packers haben kein einziges Heimspiel mehr verloren, seit Dad das Trikot am Anfang der Saison gekauft hat, deswegen muss Baxter das alles über sich ergehen lassen.

Armer Hund.

Ich nehme meinen Stammplatz auf dem Sofa ein: Ich auf der linken Seite und Dad auf der rechten. Vor uns auf dem Sofatisch steht das Essen für die erste Hälfte des Spiels: Käse, Salami und Cracker. Dazu für Dad ein Ale aus der örtlichen Brauerei, ich trinke Rootbeer. Zehn Minuten vor Ende des zweiten Viertels schmeißen wir den Grill an, während des dritten Viertels gibt es Burger und Bratwürstchen mit Kartoffelsalat und während des letzten Viertels schließen wir unser Gelage mit Softeis ab. Man muss schon einen unverwüstlichen Magen haben, um Packers-Fan zu sein. Ach ja, und zur Toilette dürfen wir nur während der Werbepausen.

»Sieht alles gut aus«, sagt Dad zufrieden, während er sich im Zimmer umschaut.

Da gerade Werbung läuft und noch vier Minuten bis zum Anpfiff sind, ist das die einzige Gelegenheit, um Dad von meinen Neuigkeiten zu erzählen, bevor wir uns beide vom Packers-Wahnsinn mitreißen lassen.

»Es ist offiziell! Ich hab eben meine Bewerbungen eingereicht.«

»Das ist ja toll, Süße!« Er hält seine Bierflasche hoch, damit ich mit ihm anstoßen kann. »Glückwunsch!«

»Danke.«

»Ich komme immer noch nicht über die Tatsache hinweg, dass du groß wirst. In ein paar Tagen bist du erwachsen.« Er legt seinen Kopf schief. »Was echt komisch ist, denn ich bin kein bisschen gealtert.« Er reibt sein Gesicht, das von den vielen Jahren Arbeit an der frischen Luft wettergegerbt ist.

»Was man ja von deinem Verstand nicht behaupten kann …«

»Hey!«, protestiert er und türmt dann drei Scheiben Käse und zwei Scheiben Salami auf seinen Cracker. »Da wir gerade von deinem großen Tag sprechen, was möchtest du am Donnerstag denn machen?«

»Das Übliche«, antworte ich lächelnd.

Wenig überraschend haben Dad und ich auch einen Brauch zu meinem Geburtstag. Zuerst gehen wir Burger mit Käsefritten essen, dann schlüpfen wir zu Hause in unsere Schlafanzüge und löffeln Eiscreme direkt aus der Packung, während wir uns einen der ersten Star Wars-Filme anschauen. Und ich spreche nicht von diesen grässlichen Episoden I–III. Nein, ich meine die echten ersten Filme: Eine neue Hoffnung, Das Imperium schlägt zurück und Die Rückkehr der Jedi-Ritter.

Früher hab ich mich zu Halloween immer als Prinzessin Leia verkleidet – selbst als mir das Kostüm schon fast zu klein geworden war, das weiße Kleid nur noch bis zu den Waden reichte und das weiße Stirnband über meinen hochgesteckten Haaren zu reißen drohte. Dad ging als Han Solo. Tut er immer noch.

»Das kriegen wir hin!« Er schiebt sich noch ein Stück Käse in den Mund. (Ja, wir lieben Käse. Sehr.)

»Die Bewerbungen habe ich zwar verschickt, aber da sind immer noch die Anträge für die Stipendien und Finanzhilfen. Ich hab also noch einen ganzen Stapel Formulare, bei dem ich deine Hilfe brauche.«

Er nickt kauend und zeigt auf seinen vollen Mund, aber ich weiß, dass das nur eine Verzögerungstaktik ist.

Bevor das mit dem ganzen Papierkram anfing, war mir gar nicht klar, wie extrem unorganisiert mein Dad ist. Bei uns zu Hause ist es nicht unaufgeräumt oder so. Wir putzen am Wochenende und wechseln uns jede Woche mit Bad und Küche ab. Aber er hatte fast keines der Dokumente, die ich brauche, um die Studienfinanzierung zu beantragen. Seine Sozialversicherungsnummer hat er, aber ich brauchte seine letzten beiden Einkommenserklärungen und die Kontoauszüge. Als ich ihm sagte, dass ich auch sein unversteuertes Einkommen angeben müsse, erstarrte er. Wahrscheinlich, weil er oft schwarzarbeitet. Keine Ahnung, was daran so schlimm sein soll, mein Einkommen vom Babysitten gebe ich auch nicht an.

»Ich möchte das am liebsten vor den Weihnachtsferien erledigt haben«, dränge ich.

Er hält seinen Daumen hoch, dann schluckt er endlich den Bissen hinunter. »Was genau brauchst du noch einmal?«

»Ich hab dir eine Mail geschickt …«

»Ich mag keine E-Mails, das weißt du doch.«

»… und eine Liste auf die Küchentheke gelegt.«

Er trinkt einen Schluck Bier. »Okay, okay. Ich kümmere mich darum.«

»Weil …«

»Ally, ich hab doch gesagt, ich kümmere mich«, schneidet er mir das Wort ab, was gar nicht zu ihm passt. Aber gleich geht das Spiel los. »Ich weiß, wie wichtig das ist, und deshalb will ich das in Ruhe machen. Okay?«

Ich nicke, während er den Fernseher lauter stellt. Dad kommentiert die Mannschaftsaufstellung, aber ich schweige. Ab und zu lache ich mal oder ich jubele, wenn unsere Mannschaft punktet. Aber ich weiß, was ihn in Wirklichkeit stört. Es geht nicht um ein paar alberne Formulare.

Sosehr Dad es mir wünscht, dass ich eines Tages studieren werde, es macht ihn fertig, dass ich ausziehe, das weiß ich. Schließlich geht es mir ja genauso.

Ich werde erwachsen. Alles wird sich verändern. Und keinem von uns wird das gefallen.

Was ihm aber noch weniger gefallen wird, ist das, was ich in der Halbzeit-Pause mit ihm besprechen muss.

Ich schiebe die Fliegengittertür auf, die nach draußen in unseren winzigen Garten führt. Dad steht mit angestrengter Miene am Holzkohlegrill.

Der Mann nimmt das Grillen wirklich ernst.

Ich reiche ihm ein Bier.

»Ach, hab ich dich nicht gut erzogen?«, sagt er lächelnd.

Seine gute Laune kann ich gebrauchen. Die Packers haben ganze Arbeit geleistet – es steht einundzwanzig zu null für uns.

»Darf ich dich etwas fragen?«, beginne ich vorsichtig.

»Natürlich«, antwortet Dad.

Seit dem Gespräch mit Marian kreisen meine Gedanken um Mom. Vielleicht sollte ich in meinen Aufsätzen doch darüber schreiben, dass ich sie verloren habe. Was für einen Einfluss es auf mich hatte, ohne Mutter aufzuwachsen. Dad hat alles getan, um Mom, so gut es geht, zu ersetzen, doch manchmal hat er dabei Unterstützung gebraucht, wie zum Beispiel, als ich zum ersten Mal meine Regel bekommen oder ich meinen ersten BH gebraucht habe. Meist ist es Grandma Gleason (genau genommen Marians Grandma), die er anruft, wenn es um »Weiberkram« geht, wie Dad es gerne ausdrückt.

Er wirft mir einen misstrauischen Blick zu. »Oh Gott, du willst doch nicht über das Thema sprechen? Hatten wir das nicht schon? Ich bin mir ziemlich sicher. Am Tag danach bin ich nämlich zur Arbeit und hätte meinen Kopf am liebsten mit dem Hammer bearbeitet, um das schnell zu vergessen.«

»Nein«, versichere ich ihm. Die Erinnerung an die unbehaglichen Pausen, das Stottern und die Tatsache, dass wir in unseren Zimmern verschwanden und uns drei Tage lang nicht mehr in die Augen blicken konnten, würden wir beide gern für immer vergessen.

»Bist du mit Neil zusammen?«, fragt er.

»Nein!« Wenigstens bis jetzt noch nicht. Mal sehen, was in einer Woche ist.

»Okay, okay.« Er hebt beschwichtigend die Hände. »Ich dachte halt, da wäre was zwischen euch, so wie der hier morgens immer herumlungert.«

»Wir gehen zusammen zur Schule!«

»Aha, so nennen die Kids das heutzutage? Zusammen zur Schule gehen?«

»Oh, Daaad!«

Er lacht, stolz darauf, dass er es geschafft hat, mich aus der Fassung zu bringen. »Neil sieht gut aus. Und blöd ist er auch nicht. Aber du bist immer noch meine kleine Ally.« Er wendet die Burger und schließt den Deckel vom Grill. »Was hast du auf dem Herzen, Ally Bean?«

Eigentlich sollte es einfach sein. Aber tief in mir weiß ich, dass es das nicht ist. Ich möchte Dad nicht durcheinanderbringen, aber das hier ist wichtig für mich. Ich weiß zwar nicht, warum gerade jetzt, aber es ist wichtig.

»Ich wollte mit dir über … Mom reden.«

So. Es ist raus. Doch in der Sekunde, in der ich es ausspreche, bemerke ich sein gequältes Gesicht. Er presst die Lippen aufeinander.

Ein paar Momente nickt er, bevor er antwortet. »Was willst du über deine Mutter wissen?«, fragt er tonlos und sehr beherrscht.

»Na ja, ich hab überlegt, in einem meiner Aufsätze über sie zu schreiben. Aber an vieles erinnere ich mich nicht mehr. Ehrlich gesagt, an gar nichts. Habe ich zum Beispiel irgendetwas von ihr geerbt? Erinnere ich dich an sie?«

Dad widmet seine Aufmerksamkeit wieder dem Grill. Er öffnet den Deckel, eine Rauchwolke quillt heraus und für ein paar Sekunden verhüllt sie sein Gesicht. Er wendet die Patties und Würstchen. Das einzige Geräusch ist das zischende Fett, das auf die Kohle tropft.

Weitere Fragen kommen mir in den Kopf. Es ist, als hätte ich endlich den Stöpsel gezogen, der seit Jahren in mir festgesteckt hat, und jetzt strömt alles hinaus. »Ich weiß, dass sie an Krebs gestorben ist, aber war es ganz plötzlich? Wusste ich, dass sie krank war? Hat sie versucht, es vor mir zu verbergen? Habe ich mich danach verändert?«

Wieso hab ich mich diese Dinge vorher noch nie gefragt? Vielleicht liegt es daran, dass Dad seit Moms Tod nur über die Zukunft nachdenken wollte. »Lass uns nach vorne schauen«, hat er immer gesagt, wenn wir unsere Sachen packten und an einen neuen Ort zogen. Und so macht er es auch bei allem anderen: Wir sprechen nur selten über die Vergangenheit. Es geht ums Nachvornschauen.

Vielleicht ist das so, wenn die Vergangenheit für dich zu schmerzvoll ist: Du gehst einfach davon aus, dass die Zukunft besser wird. Die alten Wunden tun zu sehr weh – es gibt keinen Grund, sie aufzureißen, und doch tue ich genau das. Ich rühre an den empfindlichsten Stellen in Dads Vergangenheit und verlange von ihm, seinen Schmerz erneut zu durchleben. Jahrelang habe ich das Thema Mom versucht zu vermeiden, weil ich ihn nicht verletzen wollte, aber jetzt habe ich so viele Fragen, dass ich sie einfach nicht mehr auf‌halten kann. Ich kann nicht so tun, als wären sie nicht da.

Er reibt über seine Augen. »Wie kommst du da jetzt drauf?«

»Wegen der Fragestellungen für die Aufsätze. Sie haben mich dazu gebracht, mein Leben mal aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Und dann habe ich begriffen, dass ich eine ganze Menge aus meiner Vergangenheit nicht weiß.«

Dad wirkt wie geschlagen, als er die Burger und Bratwürste auf einen Teller legt. Er klappt den Grill zu und geht ins Haus. Ich folge ihm. Er ist an der Küchentheke zwischen Wohnzimmer und Küche stehen geblieben und kehrt mir den Rücken zu. Ich wage es nicht, mich zu bewegen. Ich hätte wissen müssen, dass ich dieses Thema nie hätte anschneiden dürfen. Er hat so viel für mich getan und wie revanchiere ich mich? Ich reiße uralte und tiefe Wunden auf, bloß um einen albernen Aufsatz zu schreiben.

Aber das ist nicht alles. Ich will Antworten. Vielleicht wäre ich dann nicht mehr so emotionslos und abweisend, wenn Leute mich nach meiner Mom fragen, der Frau, die mich zur Welt gebracht hat. Die mich in meinen ersten drei Lebensjahren großgezogen hat.

»Ich weiß wirklich nicht, was ich dir erzählen soll«, sagt Dad endlich. Er dreht sich um und alle Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen. Er sieht müde aus. Er sieht alt aus. »Deine Mom ist krank geworden, dann ist sie gestorben. Du warst noch so klein, ich wusste mir nicht anders zu helfen. Deswegen sind wir umgezogen. Ich musste vor diesen Erinnerungen fliehen.«

»Hab ich sehr an ihr gehangen?«, frage ich. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals mit irgendjemandem eine engere Bindung zu haben als mit Dad, aber oft stehen ja Mädchen eher ihren Müttern näher.

»Nicht so wie an mir«, erklärt er mit einem aggressiven Unterton, den ich nicht an ihm kenne.

»Ich wollte damit nicht …«

Er hebt die Hand. »Hör mal, du hast dich von den Bewerbungen und Anträgen ganz verrückt machen lassen. Warum wartest du nicht einfach ab, bis du weißt, ob du überhaupt einen Studienplatz bekommst?«

Ich schnappe nach Luft. Dad hält es für möglich, dass ich keinen Studienplatz bekomme? Es dauert ein paar Sekunden, bevor er merkt, was für ein Schlag ins Gesicht diese Bemerkung für mich gewesen ist.

»Ally Bean …« Er kommt auf mich zu und streckt seine Hand aus. »Natürlich bekommst du einen Platz am College. Natürlich werden deine Stipendien bewilligt werden. Wir schaf‌fen das, aber es hilft keinem weiter, in der Vergangenheit herumzustochern. Ganz besonders mir nicht.«

»Tut mir leid«, sage ich kaum hörbar.

Im Hintergrund startet das Spiel wieder.

»Ich weiß, Süße. Pass auf, ich gehe mal kurz mit Baxter raus. Bin gleich wieder zurück.«

Baxter, der normalerweise jedes Mal an ihm hochspringt, wenn Dad nach der Leine greift, starrt ihn regungslos an, als handele es sich um einen üblen Scherz. Wenn die Packers spielen, verlässt Dad niemals das Haus.

»Na los, Baxter«, herrscht Dad ihn an.

Baxter steht auf und bewegt sich, ohne mit dem Schwanz zu wedeln, zögerlich in Dads Richtung. Als Dad mit einer heftigen Bewegung nach seinem Halsband greift, winselt er.

»Tu ihm nicht weh«, bitte ich ihn.

»Ich tue Baxter nicht weh«, sagt er, bevor er die Tür hinter sich zuknallt.

Wieso habe ich das gesagt? Als ob Dad Baxter jemals verletzen würde. Aber warum war er so kurz angebunden und ruppig zu mir, bloß weil ich ihm ein paar einfache Fragen über meine Mutter gestellt habe, von der ich immerhin die Hälfte meiner Gene geerbt habe? Tief in mir spüre ich einen Schmerz, wie ich ihn noch nie zuvor empfunden habe.

Als die Packers ihre Aufstellung einnehmen, weiß ich nicht, was ich tun soll. Nach Anfeuern ist mir nicht. Ich hab keine Lust, mir die zweite Spielhälfte allein anzuschauen und Bratwurst zu essen, als sei alles ganz normal.

Dad redet ständig von wichtigen letzten Malen: das letzte Mal meinen Geburtstag feiern oder das letzte Mal zum Homecoming-Ball gehen.

Aber das hier ist ein erstes Mal. Nicht nur die Tatsache, dass Dad einfach mitten im Footballspiel aus dem Haus stürmt, sondern auch, dass er sich wirklich über mich geärgert zu haben scheint.

Ich tue ihm das nur ungern an, aber es steht mir zu, meine Vergangenheit zu kennen. Zu wissen, wer ich bin und wo ich herkomme.

Denn wie soll ich etwas erreichen, wenn ich nicht weiß, woher ich komme?

Past Perfect Life. Die komplett gelogene Wahrheit über mein Leben

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