Читать книгу Das 4. Buch George - Elke Bulenda - Страница 10

Eine Frau ist eine Person, die dauernd in den Spiegel sieht, außer wenn sie eine Parklücke verlässt...

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(Unbekannter Verfasser)

Nachdem das nun geklärt war, ließen wir Cornelius in Ruhe weiter seine seltsamen Studien betreiben.

»Gut, Agnir. Wir sehen uns dann morgen, so gegen acht, halb neun, okay?«, lächelte Connie und winkte uns hinterher.

»Ja, bis morgen!«, winkte der frischgebackene ABC-Schütze zurück. »Hurra! Ich gehe in die Schule!«, jubilierte er bis nach draußen vor die Tür. Dann schien im das Fischen wesentlich mehr zu interessieren. Zumindest brauchte er dafür keinen Helm.

Ich zog mir die Klamotten bis auf die Badehose aus und begab mich ans Ufer.

»So, mein Sohn. Siehe zu und lerne!«

Flink ließ ich mich vom Steg ins Wasser gleiten. Agnir folgte mir begeistert, indem er mir beinahe auf den Rücken sprang. Und das, obwohl ich ihm schon tausend Mal sagte, er solle nicht vom Steg springen.

»Habe ich dir gesagt, du sollst mir folgen?«, fragte ich genervt.

»Aber, wie soll ich sonst sehen, wie du Fische fängst?«, entgegnete er kleinlaut.

»Okay, da hast du recht«, nahm ich ihm die Unsicherheit.

Für alle anderen musste diese Szene wohl eher befremdlich wirken. Wir Vampire fangen regulär eigentlich gar keine Fische. Und schon gar nicht mit Angel oder Netz. Doch Agnirs Fähigkeiten mussten gefördert werden und so kam ich auf die Idee mit dem Fischen, was er überaus begeistert aufnahm. Ein Jäger bleibt immer ein Jäger, auch unter Wasser.

»Und du sollst nicht immer ins Wasser pinkeln!«, meinte ich kopfschüttelnd.

»Das machen die anderen Schwimmer doch auch!«, wehrte er sich.

»Stimmt, da hast du auch wieder recht. Aber doch nicht vom Steg! Pack deinen Piepmatz wieder ein und lass uns anfangen«, lachte ich. So tauchten wir wieder unter und gleich setzte ich einem dicken Karpfen nach. Als ich das widerliche Vieh ans Ufer spuckte, jagte Agnir schon seinen ersten, eigenen Fisch.

Da auch andere gerne im See angelten, setzte ich schon im letzten Sommer ein paar Karpfen aus, um sie, wenn mich Lust und Laune packte, jagen zu können. Ha, ich bin hier der Hecht im Karpfenteich! Nur, hätte ich damals schon gewusst, dass ich so schnell einen jagenden Sohn bekäme, wären von mir gleich ein gutes Dutzend mehr ausgesetzt worden. Ab und zu tauchte Agnirs nasser Blondschopf auf, denn im Gegensatz zu mir, muss er immer wieder Luft schnappen. Schließlich ist er ein halber Mensch und braucht Sauerstoff. Wogegen wir Untoten eigentlich darauf verzichten können. Endlich spuckte er seinen ersten selbst gefangenen Fisch aus. Als ich sah, was er dabei für ein angewidertes Gesicht zog, konnte ich mich vor Lachen kaum halten. Agnir musste bisher noch nie jemanden beißen, um an sein benötigtes Blut zu kommen. In dieser Hinsicht war er ein echtes Flaschenkind. Wahrscheinlich befand er sich auch in einem Gewissenskonflikt.

… Das kenne ich von Cornelius. Einerseits konnte er kaum auf das notwendige Blut verzichten, andererseits meldete sich dann das Gewissen eines Heilers in ihm. Soweit ich weiß, tötete mein Blutsbruder noch nie einen Menschen, um an sein Blut zu kommen. Eigentlich ist das auch nicht nötig, es sei denn, ein Vampir war verletzt und brauchte die 5-6 Liter menschlichen Bluts zur Regeneration seiner Wunden. Doch die Zeiten haben sich geändert. Kein Vampir muss heutzutage noch einem Hals hinterherjagen. Auch wir leben heute in Zeiten des Tetrapaks. Wir neuzeitlichen Vampire beziehen Blut von Freiwilligen Spendern, die entweder das Geld brauchen, oder einfach für einen guten Zweck spenden. Und wenn ihr mich fragt, ist es ein überaus nützlicher Zweck, wenn sie zur Ader gelassen werden. Das Blut ist klinisch untersucht und frei von Keimen oder Erregern. Im Gegensatz zum Finsteren Mittelalter, wo die Pestilenz wahre Feste feierte. Und das ist in meinen Augen der größte Fortschritt. Nie wieder ungewaschene Hälse, die nach Schweiß oder ungewaschener Haut riechen und auch dementsprechend schmecken. Der Nachteil besteht nur darin, dass man seine überschüssige Energie nun durch andere Tätigkeiten abbauen muss. Auch der Kick bei der Jagd, das Adrenalin und die Furcht in den Augen deines Opfers, gehen durch diese Ernährungsweise flöten. Doch was tut man nicht alles, um des lieben Friedens wegen, und der Zivilisation?...

»Papa? Haben Fische eigentlich Schmerzen?«, fragte Agnir nachdenklich.

»Woher soll ich das wissen? Bisher hat mir noch kein Fisch auf diese Frage geantwortet. Aber ich glaube nicht, sonst würden sie schreien, wenn sie an der Angel hängen«, philosophierte ich wagemutig.

»Hm, stimmt auch wieder!«, nickte mein Sohn zufrieden und tauchte wieder ab.

Blieb zu hoffen, dass er seiner Mutter nicht die gleiche Frage stellte. Sie wüsste höchstwahrscheinlich die richtige Antwort darauf und würde mich somit als Dummkopf entlarven. Nachdem Agnir seinen zweiten Karpfen erlegte, musste ich ihn ein wenig ausbremsen. Sonst würden die Angler, die ihre Rute ins Wasser hielten, nur noch Würmer baden.

»Das hast du sehr gut gemacht, Agnir. Ich bin sehr stolz auf dich. Es reicht jetzt. Wer soll die alle essen, hm? Die zwei bereiten wir heute Abend zu, und den anderen stecken wir in die Kühltruhe, was meinst du?«

»Okay! Wenn wir mit dem Boot fahren, dann darf ich wieder Fische jagen? Im Meer?«, hakte er nach.

»Klar, soviel wie du jagen kannst. Aber bitte keine Seesterne. Die finde ich einfach widerlich!«, grinste ich und legte ihm ein trockenes Badetuch um. »So, wenn du dich abgetrocknet hast, dann zieh dir schnell deine trockene Sachen an. Eine neue Unterhose ist in der Jutetasche. Ich will keinen Ärger mit Nana oder deiner Mama bekommen, klar? Zwar weiß ich nicht, ob du dich erkälten kannst, aber das wollen wir doch nicht ausprobieren, oder?«

Brav nickte Agnir und folgte meinem Rat.

Mich unterdessen, überkam ein seltsames Gefühl. In meinem Schädel ging sofort eine rote Lampe mit der Aufschrift »Alarm« an. Aufmerksam musterte ich die Umgebung, leuchtete jeden Baum und jeden Busch ab. Etwas stimmte nicht. Irgendjemand beobachtete uns. Gerade als ich mich weiter aufmerksam umblickte, kam eine kleine Radlerin angefahren und es ertönte eine Fahrradklingel. Auch Sascha unterlag der Helmpflicht beim Radfahren, nur trug sie einen Reithelm auf dem Kopf. Ihre Füße steckten in Reitstiefeln und die Gerte wippte lustig über den Gepäckträger hinaus. Rasant ging sie in die Bremse, sodass der Kies während ihres gewagten Drifts, heftig aufspritzte.

»Hey, Ragnor! Nana sagte mir schon, dass du wieder da bist. Hallo Agnir. Na? Ward ihr schwimmen?«, grinste sie keck. Obwohl Sascha jetzt meine Adoptivtochter ist, nennt sie mich immer noch beim Vornamen. Das fand ich soweit okay. Niemals würde ich sie dazu zwingen, zu mir »Papa« zu sagen. Saschas Vater fiel während des Krieges in Afghanistan. Und da ich nun mal nicht ihr richtiger Vater bin, soll sie mich weiterhin nennen, wie sie es gewöhnt ist.

»Hallo Sascha. Nein, wir waren Fische fangen«, hielt ich unsere Ausbeute hoch.

»Aha... Die armen Fische. Aber wenn sie schon hin sind... Kochst du heute Abend für uns?«, fragte sie neugierig.

»Klar, wenn ich schon mal wieder hier bin. Aber dann darfst du dich bis dahin auch nicht mehr mit Süßigkeiten vollstopfen. Okay?«

»Nee, das würde Nana schon nicht zulassen. Was gibt es denn?«

»Katzenscheiße mit Reis!«, schnappte ich.

»Ieeehhhh Reis!«, lachte Sascha und wollte wieder in die Pedalen treten.

»Warte mal, du fährst doch jetzt sowieso nach Hause, oder? Vergiss nicht, dir die Hände zu waschen, du riechst fürchterlich nach Pferd! Ach ja, begleite doch deinen Bruder nach Hause, ich habe hier noch etwas zu tun. Bist du so lieb?«

»Kein Problem, aber die Fische trägt er!«, rümpfte sie die Nase.

»Sicher, die wird er wohl kaum freiwillig wieder hergeben«, winkte ich ab. »Wir sehen und später. Und geht zu Fuß, alles klar?« Die beiden nickten einhellig, als wären sie ein Wesen mit zwei Köpfen. Sascha liebt ihren kleinen und ungewöhnlichen Bruder. Und er vergöttert seine Schwester. Trotzdem kommt es auch bei ihnen immer wieder zu Unstimmigkeiten. Aber das ist wohl völlig normal. Winkend entfernten sie sich von mir. Als sie meinten, nicht mehr beobachtet zu werden, ließ Sascha ihren Bruder auf dem Gepäckträger Platz nehmen und eierte mit ihm davon. So ein kleines Biest. Dabei trug Agnir nicht mal seinen Helm... Doch je eher sie diesen Ort verließen, desto besser. Unauffällig schlenderte ich an einem Baum entlang, drehte mich blitzschnell um und rüttelte so heftig daran, dass nicht nur Zweige, Blüten und Blätter herabfielen, sondern auch eine dunkel gewandete Person, die mir zu Füßen stürzte. Der Aufprall verlief ziemlich heftig. Der Bösewicht hielt seine Aura versteckt und der schwarze Kapuzenumhang umhüllte seine Gestalt. Der Kerl war nicht sonderlich groß, doch wenn jemand meine Familie so ausdauernd ausspähte, führte er nichts Gutes im Schilde. Wütend riss ich den Unbekannten auf die Beine, damit ich ihm nicht nur ins Gesicht sehen, sondern auch notfalls hineinschlagen konnte.

Leicht wie eine Feder, katapultierte er fast davon, wenn ich ihn nicht so fest gepackt hätte. Dabei riss ihm der Schwung die Kapuze aus dem Gesicht.

»Was?... Du?...«, entfuhr es mir und ließ die Faust sinken. Es schickt sich nicht, einer Frau ins Gesicht zu schlagen. Obwohl diese Person es allemal verdient hätte. Giftig betrachtete sie mich aus vielfarbigen Augen.

»Warum nicht? Es hat Jahre gedauert diesen Laden hier aufzustöbern!«, strampelte sie mit den Beinen in der Luft. »Würdest du mich gefälligst wieder absetzen?!«

Herrgott nochmal... Die Vergangenheit hat einen verdammt langen Arm. Immer wenn du meinst, du hättest sie hinter dir gelassen, tippt sie dich von hinten wieder an und macht dir begreifbar, sie könne dich jederzeit wieder einholen. Dieses dürre, struppige Wesen brachte mir schon mehr als einmal tierischen Ärger ein. Und ich wünschte mir, ich hätte sie niemals kennengelernt. Leider lässt sich das nicht bewerkstelligen, es sei denn, ich würde sie hier auf der Stelle umbringen und spontan beschließen, unter heftigem Gedächtnisschwund zu leiden.

»Du warst das in Jodhpur, habe ich recht?«, fragte ich und setzte sie unsanft ab. Woraufhin sie das Gleichgewicht verlor und auf allen Vieren landete. Typisch. Sie ist noch immer so tollpatschig wie früher. Einige Dinge ändern sich eben nie.

»Ja, ich suche meinen Schöpfer schon seit Jahren. Ich konnte seine schwache Aura in Jodhpur ausmachen«, rappelte sie sich wieder in die Senkrechte. »Nur kam ich da nicht weiter und lungerte ein wenig herum, in der Hoffnung, seine Spur wieder aufnehmen zu können. Tja, und dann spürte ich ihn am Flughafen auf. Leider war ich ein wenig zu spät dran. Das Problem war nicht ich, sondern das Flughafenpersonal. Sie ergriffen mich, als ich zum Flieger wollte. Nachdem ich mich aus meiner misslichen Situation freikämpfen konnte, flog euer Jet bereits ab.

»Dann bist du gar nicht wegen mir hier?«, fragte ich erstaunt.

»Warum sollte ich? Wir konnten uns doch noch nie besonders gut leiden, oder? Und hast du nicht schon genug Unheil angerichtet? Dir haben wir es doch zu verdanken, an den Rand der Ausrottung getrieben worden zu sein. Und ich bin ernsthaft entsetzt, zu sehen, wie gut es dir geht! Du solltest eigentlich tot sein! Ist Cornelius hier irgendwo?«, fragte sie wütend, putzte sich sauber und sah sich um.

… Jetzt muss ich mal ein wenig ausgreifen. Diese kleine, dürre Frau, deren Hals so dünn ist, dass ich gerne dem Würgereflex meiner Hände nachgeben würde, ist Esther. Sie ist das stoffelige Geschöpf von Cornelius. Eigentlich sieht sie gar nicht mal so übel aus, mit ihrem mittelbraunen, lockigem Haar. Für meinen Geschmack ist sie aber zu mager und hat, wenn man überhaupt von so etwas wie einer Brust reden kann, eine ziemlich ausgeprägte, knochige Hühnerbrust. Tja, leider musste die arme Esther notgedrungen eine Weile ohne ihren Schöpfer auskommen, weil ich Cornelius damals in der Michealer-Burg festgesetzt hatte. Denn ihn brauchte ich dafür, um meinen verhassten Dienstherren, Lord Seraphim, aus dem Weg zu räumen. Somit hätte meine damalige Frau, die Tochter des Lords, an die Macht kommen können. Dabei brauchte ich eher das, was Connie damals vor mir so dringend verbergen wollte. Er war im Besitz eines Schwerts, mit dem sich der Bann eines Schutzamuletts brechen ließ. Dieses Schutzamulett war der ständige Begleiter Lord Seraphims, meines Dienstherren und Schwiegervaters, und es machte ihn unverwundbar. Connie wusste als einziger, wo sich das Schwert befand, weil er es zu meinem Schöpfer bringen sollte, der einen Attentäter damit loszuschicken beabsichtigte. Doch als wir vom Michaeler-Orden ihn ergriffen, trug er das Schwert Hellbent leider nicht mehr bei sich. Prinzipiell verfolgten wir ja beide das gleiche Ziel. Nur wollte Connie mir auf Gedeih und Verderb dieses mächtige Artefakt nicht aushändigen, weil ich dummerweise für die feindliche Seite arbeitete. Wahrscheinlich war es wieder so ein Kommunikationsproblem zwischen uns. Und da er mit der Sprache nicht herausrücken wollte, hielt ich ihn gefangen und bearbeitete ihn ein wenig, damit er mir das Versteck des Schwerts preisgab. Das tat er aber trotz Folter und Drangsal nicht. Darum blieb er recht lange mein persönlicher Gast in der Festung und ich versuchte wirklich alles, um ihm dieses Enigma zu entlocken. Zu guter Letzt kam mir dann auch noch diese dappige Esther in die Quere. Nur hatte sie keine Ahnung, was sie da bei sich trug – nämlich das so lange gesuchte Objekt! Es gelang mir, sie zu überlisten und in den Besitz des Schwerts zu gelangen. Was mir aber auch nicht unbedingt Glück brachte, weil ich das Attentat nicht zu Ende ausführen konnte. Oder, eher schmeichelhaft ausgedrückt: Ich wurde von jemandem aus den eigenen Reihen verraten und landete wegen Hochverrats im Kerker. Zum Glück wurde ich mit Hilfe meines Schwagers Cedric befreit. Doch alles haarklein zu erklären, würde zu viel Raum einnehmen. Letztendlich habe ich dem dämonischem Lord doch noch den Garaus gemacht.

Dass Cornelius überhaupt jemanden gewandelt hatte, davon hatte ich jedoch keine Ahnung. Soweit man mir erzählte, hatte Esther im Grunde auch keinen blassen Dunst von der Identität ihres Schöpfers, als sie damals in eine Vampirin verwandelt wurde. Sie erwachte mutterseelenallein in einem Turm und fragte sich, wer sie eigentlich war. Auch fragte sie sich, was sie war. Esther fand lediglich einen Brief ihres Schöpfers, der ihr bestätigte, bald wieder bei ihr zu sein. Ähem, das war vielleicht Connies Plan, doch er wurde unterwegs eben von mir aufgegriffen und inhaftiert.

… Connie und nicht der Plan! Muss ich denn hier auch noch Erbsen zählen?...

Irgendwann hielt es Esther nicht mehr in ihrem einsamen Versteck aus und machte sich auf die Suche, um ihren Schöpfer ausfindig zu machen. Als sie die Wahrheit erfuhr, war sie natürlich nicht gerade davon angetan. Nachdem Cornelius endlich aus der Haft entlassen wurde, petzte er bei unserem Schöpfer, der mir daraufhin eine ziemliche böse Standpauke hielt, und für Tage sichtbar, das Monogramm seiner Pranke im Gesicht vermachte. Jetzt, so im Nachhinein betrachtet, bin ich nochmal mit einem blauen Auge davongekommen. Selbstredend ist klar, ich bin nicht unbedingt Esthers Lieblingsonkel. Aber, dass sie jetzt ausgerechnet auftauchen musste, um ihrem Schöpfer kostbare Zeit zu stehlen, die er eigentlich dringend benötigt, um meinen Sohn zu unterrichten, das stank mir schon gewaltig. Deshalb brachte es mich auf eine geniale Idee...

»Na, na! Esther! Ich habe ja wohl für die Ermordung des Lords gebüßt. Immerhin war ich über 600 Jahre tot. Aber, das ist doch Schnee von gestern. Hey, ich habe mich geändert!«, versuchte ich es auf die zarte Tour.

»Ja, kann schon sein, aber ich traue dir trotzdem nicht. Hm, du bist jetzt wohl ›Der nette Massenmörder aus der Nachbarschaft‹, wie? War das dein Junge? Er nannte dich im Gegensatz zu dem Mädchen ›Papa‹«, meinte Esther schon etwas versöhnlicher. Sie ist ganz verrückt nach Kindern. Also, nicht als Bereicherung ihres Speiseplans, nein, ganz im Allgemeinen.

»Ja, Agnir ist mein Sohn, das Mädchen, Sascha, ist sozusagen mein Beutekind, sie ist die Tochter meiner Frau.«

»Ich frage mich ernsthaft, wie du das wieder hinbekommen hast. Wieso haben die schrecklichsten Leute, immer die hübschesten und nettesten Kinder?«

Daraufhin konnte ich lediglich nur mit den Achseln zucken.

»Du lässt wohl den Spießer heraushängen, was? Gehst du jetzt auch in die Kirche?«, fragte sie amüsiert schmunzelnd.

»Nee, seit mein Dienstherr mich vom Gottesdienst freistellte, weil ich Goldmünzen in den Kollektebeutel warf und dabei ›Ich schmeiß ´ne Runde für alle!‹ durchs Gebetshaus brüllte, habe ich nie wieder eine Kirche besucht. Wenn doch, dann nur rein beruflich.«

»Ist mir auch egal. Soll halt jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden. Aber, du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet. Ist Cornelius dort im Gebäude? Wie komme ich da rein?«, hakte sie nach.

»Äh, ja, er ist da drin. Nur ihn anzuflüstern, das wirst du nicht schaffen. Das Gebäude ist abgeschirmt. Und du kommst schon mal gar nicht dort rein. Du bist keine autorisierte Person. Was sich dort drin befindet, darüber darf ich auch nicht sprechen. Und nein, ich werde da jetzt nicht mit dir reingehen. Wegen dir bekomme ich nur wieder Schwierigkeiten, Mädchen! Ist das klar?«

»Von wegen du hast dich geändert!«, schmollte sie. »Ich habe fast 600 Jahre gebraucht, um meinen Schöpfer Cornelius zu finden, und dann willst du mir nicht mal helfen?«, fauchte sie entrüstet. Zu lustig, wie sehr sich dieses zierliche Persönchen aufregen konnte!

»Jetzt dreh hier mal nicht so an der Orgel, klar? Ich habe nicht gesagt, dass ich dir nicht helfen will! Okay, ich bringe dich da rein. Aber es muss heimlich vonstatten gehen, weil ich keinen Ärger haben will!«

»Warum nicht gleich so?«, nickte sie zufrieden.

Nachdenklich holte ich eine Dose mit Bluttabletten aus meiner Hosentasche, schüttete den Inhalt in meine Hand und ließ ihn wieder in die Tasche verschwinden. Den Pillencontainer hielt ich Esther vor die Nase. »Los, du bist doch Gestaltwandlerin, oder? Na, dann mach es dir dort drin mal bequem, denn darin bringe ich dich ungesehen an den Wachen vorbei ins Gebäude und zu Cornelius. Ist das in Ordnung für dich?«

Misstrauisch betrachtete sie das Gefäß, das die Größe einer Kleinbild-Filmdose besaß.

»Sag bloß nicht, dass du die Gestaltwandlerfähigkeit immer noch nicht richtig drauf hast. Ansonsten müsste ich vermuten, du leidest unter Entwicklungsstörungen!«, provozierte ich sie ein wenig. »Weißt du wie man es nennt, wenn eine Biene einer Zwölfjährigen in die Brust sticht? Nein? Entwicklungshilfe!«, grinste ich die Schmalbrüstige an. »Das hätte sie auch mal bei dir probieren sollen!«

»Du hast einen echt kranken Humor!«, pöbelte Esther zurück. »Und ich habe es sehr wohl drauf!«, sprach´s wütend und verwandelte sich in einen Marienkäfer, der zuerst auf dem Rand der Dose landete, um anschließend gemächlich hinein zu krabbeln. Schleunigst setzte ich den Deckel drauf und verdrehte die Augen. »Esther, Esther! Du bist immer noch so naiv wie früher! Nicht mal der dämliche Wilbur fällt auf diesen alten Trick rein! Du durchkreuzt nicht noch mal ungestraft meine Pläne! Cornelius ist ein vielbeschäftigter Mann und hat keine Zeit für seine Versager-Tochter!«

Wenn Esther einfach unverhofft auftaucht, lenkt sie Cornelius nur von seiner Arbeit ab. Vielleicht würde er mit ihr weggehen und unsere Organisation verlassen. Nein, das konnte ich nicht zulassen. Nicht jetzt, wo Agnir von ihm unterrichtet werden sollte.

Diese Esther war schon immer ein einziges Ärgernis! Unschlüssig, wie ich weiter mit ihr verfahren sollte, steckte ich die Dose zurück in die Hosentasche. Über dieses Problem wollte ich mir später Gedanken machen. Zuerst musste ich meiner Familie ein nettes Abendessen kochen, und nachdem die Kinder im Bett lagen, kämen noch die Jungs zum Pokern vorbei. Heute ist Mittwoch, da pokerten wir immer bei mir.

Vielleicht musste ich Esther tatsächlich recht geben und mutierte langsam zu einem Spießer. Aber wünschen wir uns nicht alle ein wenig Normalität und geregelte Bahnen, geordnet nach Uhrzeit? Seit Menschengedenken halten wir uns an gewisse Abläufe. Sie machen uns klar, dass wir unser Leben fest im Griff haben, und nicht mehr das wilde Tier draußen vor der Höhle zu fürchten haben. Seit Anbeginn der Zeit halten wir uns an Rituale. Rituale sind wichtig. Und meine Familie ist mir wichtiger als alles andere. Deshalb machte ich mich auf den Heimweg und beschloss spontan, unter heftigem Gedächtnisverlust zu leiden...

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Das 4. Buch George

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