Читать книгу Das 4. Buch George - Elke Bulenda - Страница 7

Die Welt, obgleich sie wunderlich, ist genug für dich und mich.

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(Wilhelm Busch)

Es ist wirklich toll, noch einmal nach über 600 Jahren Vater zu werden, bzw. zu sein. Natürlich habe ich aus meiner zweiten Ehe drei Kinder - Gungnir, seinen Zwillingsbruder Wally, zu dem ich keinen Kontakt habe, und meine Tochter Mara -, doch wie gesagt, sie sind schon mehr als nur erwachsen, so gesehen, regelrecht steinalt. Meine beiden Zwillingssöhne waren schon zwei steinharte Brocken, trotzdem bin ich immer wieder überrascht, was kleinen Kindern für denkwürdige Sachen einfallen. Und die Fragen erst mal, die sie ständig stellen! Da gehen mir schon mal die Antworten aus. Irgendwie überraschte es mich gar nicht, was ich unten vor der Garage zu sehen bekam. Agnir spielte sehr oft mit Karl-Heinz, dem depressiven, letzten Einhorn. Und diesmal hatte mein Sohnemann den Bogen doch für meinen Geschmack ein wenig zu sehr überspannt. Verständlicherweise finde ich es gut, wenn der Kleine den armen Karl-Heinz auf andere Gedanken bringt, ihn aber so zu hintergehen, finde ich schon mehr als geschmacklos.

»Moin Ragnor, na? Wie sehe ich aus?«, fragte Karl-Heinz in ungewohnt heiterem Ton.

»Moin, Flauschi. Äh, na ja. Unter uns, du siehst ganz schön gefährlich aus!«, log ich.

»Ja, ich bin ein Indianerpferd, das bereit ist, in die Schlacht zu ziehen!«, bekundete er. »Weißt du, es befriedigt mich nicht auf Dauer, nur meinen Kopf in den Schoß einer Jungfrau zu legen. Früher freuten sich die jungen Damen, brachen gerührt in Tränen aus, aber heutzutage? Sie treten dir in den Hintern und brüllen etwas von ›Sexueller Belästigung‹ und ob ich pervers sei!«, schüttelte er seinen Kopf. »Die Jungfrauen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren! Und immer nur als Motiv für die Federmäppchen kleiner Mädchen herzuhalten, nein, das macht mich regelrecht unglücklich! All diese Pastellfarben, Glitzer und Regenbogen; Plastikfiguren mit frisierbarer Mähne! Also, das habe ich wirklich nicht verdient!«, seufzte er resigniert. Ständig öffnete ich den Mund, um etwas zu erwidern, aber Karl-Heinz redete sich dermaßen in Rage, dass ich keine Lücke fand, um etwas einzuwerfen.

»Du hast es gut, Ragnor! Du hast einen sinnvollen Job, darfst immer wieder die Welt retten und hast somit eine Daseinsberechtigung -, aber ich? Nein, ich wäre wirklich lieber ein Streitross und würde vorzugsweise im Schlachtengetümmel sterben, als weiterhin niedlich genannt zu werden! Wolltest du was sagen?«, fragte das Einhorn.

»Nee, ist alles okay, sehe ich genauso!«, winkte ich ab. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf meine Lendenfrucht. »Agnir, kann ich dich mal für einen Moment sprechen?«, nickte ich in Richtung Garage, die ich öffnete. Brav folgte er mir.

»Ja? Papa, was gibt´s?«

»Was es gibt? Wenn ich nicht so ein friedlicher Zeitgenosse wäre, eine Handvoll Schläge! Was denkst du dir nur dabei, Karl-Heinz mit einer Fleischzerlegungsskizze zu verzieren? Bisher sah ich noch nie ein Indianerpferd, dass für das Filetieren beschriftet war! Und woher hast du den Lippenstift? Der ist doch bestimmt von Mama, habe ich recht?«

»Äh, ja... Wenn er auf dem Schlachtfeld sterben will, hat er sicherlich nichts gegen ein Schlachthaus einzuwenden. Den Plan sah ich beim Metzger, da dachte ich mir, er sieht aus, wie eine Bemalung für Indianerpferde«, erklärte er mir. »Und den Lippenstift habe ich von Mama, die sagte, sie hätte sich in der Farbe vergriffen und sähe mit diesem Rot aus, wie eine Hure. Er lag im Mülleimer! Also wollte sie ihn nicht mehr. Papa? Was ist eine Hure?«

… Huch, ich wusste, eines Tages würde diese Frage kommen, so wie jede andere Frage, die es auf dieser Welt gab. Agnir wollte immer alles ganz genau wissen...

»Ja, eine Hure ist eine Liebesdienerin, eine Dienerin der Käuflichen Liebe.«

»Hm, komisch, ich wusste gar nicht, dass man Liebe kaufen kann. Wie viel kostet denn Liebe, und warum will Mama keine Liebesdienerin sein?«

»Na ja, das ist Körperliche Liebe, die man kauft, und der Preis ist je nach Dienstleistung unterschiedlich. Ich will mich jetzt nicht auf einen Preis festlegen. Außerdem machen das Frauen, die das Geld brauchen. Und Mama verdient recht gut, also braucht sie keine Liebe zu verkaufen. Sie hat uns so sehr lieb, dass gar keine Liebe mehr übrigbleibt, die sie verkaufen könnte. Hast du das jetzt verstanden?«

»Ja, ich glaube schon«, nickte er nachdenklich.

Ehrlich gesagt, fand ich diesen roten Lippenstift sehr erotisch auf Amandas Lippen. Und ich fände es nicht schlimm, wenn sie speziell für mich wie eine Hure aussähe. Wie heißt es immer so schön? Eine Frau soll in der Küche ein Engel sein und im Bett eine Hure. Für mich darf sie aber auch mal gern in der Küche eine Hure sein, das macht mir nicht das Geringste aus. Ehrlich nicht!

»Okay, wir wollen los. Fährst du mit deinem Rad?«, fragte ich und sah die Lücke in der Garage, wo eigentlich mein roter Sportwagen stehen sollte.

»Nein, ich reite! Und zwar auf Karl-Heinz!«

»Wie? Du reitest auf Karl-Heinz... Wie kommst du denn auf ihn rauf? Du bist noch viel zu klein für so ein großes Ross. Reiten solltest du lieber auf Duffy, dem Haflinger deiner Schwester. Aber der steht drüben im Stall und da latsche ich jetzt nicht erst hin.«

»Das wirst du schon sehen wie ich auf Heinzis Rücken komme, das habe ich schon x-mal gemacht«, prahlte der kleine Angeber.

»Aha, jetzt hast du dich verplappert! Hier, dann setz gefälligst deinen Fahrradhelm auf! Den wirst du noch brauchen!«, stöpselte ich ihm das Ding auf den Kopf.

»Och, Männo!«, moserte er zurück und machte den Kinngurt zu.

… Am liebsten hätte ich auch gemosert, denn Annie nahm statt unserer Familienkutsche, wieder mal meinen Sportwagen. Mir ist klar, dass er ein wenig mehr Wumms hat, als unser SUV. Doch ist ein Zwölfzylindermotor, mit 6,5 Litern Hubraum und über 500 KW, einfach kein Gefährt, womit man Sascha von der Schule abholt. Mal ganz davon abgesehen, wie es aussieht, wenn vorne auf dem Beifahrersitz ein Kindersitz festgeschnallt ist! Der Wagen war ein Geschenk von Gungnir, den ich eigentlich nicht haben wollte (Den Wagen, nicht Gungnir!), weil es mir peinlich war, vom eigenen Sohn ein Auto zum Geburtstag geschenkt zu bekommen. Zuerst wollte ich ihn verkaufen (Ich rede immer noch vom Wagen, nicht von meinem Sohn!), doch als ich dann das erste Mal mit dem Wagen fuhr, überlegte ich es mir anders. Das war eindeutig ein Spielzeug für mich. Nichts für eine ältere Dame, denn das Geschoss fährt sich wie ein Römischer Kampfwagen. Dringend musste ich mal ein paar Takte mit Annie sprechen...

»Gut, dann kann es ja losgehen. Und überlege dir schon mal, wie du wieder das Fell von Karl-Heinz sauber bekommen willst.«

»Ach, Männo!«, sprach´s, trat an das Einhorn heran, das bereitwillig den Kopf senkte. Agnir fasste das Horn, hielt sich daran fest, während Karl-Heinz ihn auf den Rücken hievte. Das sah wirklich nach einem eingeübten Stück aus. Der Junge wickelte seine Hand in die lange weiße Mähne und gab Bescheid, dass er soweit wäre. Endlich konnte wir los zuckeln. Karl-Heinz nahm mir die Jutetasche ab und ließ sie an seinem Horn baumeln.

»Hurra, wir gehen jetzt fischen!«, jubilierte Agnir.

»Ja, aber erst gehen wir zur Zentrale, danach fischen wir, klar?«

Wieder kam ein »Ach, Männo!«, doch wenn er den Grund unseres Besuchs erfuhr, würde er darauf anders reagieren. Sehnsüchtig blickte er dem kleinen See hinterher, an dem wir vorübergingen. Von der Villa Ballerburg bis zur Zentrale ist es schon ein gutes Stück Fußmarsch. Endlich angekommen, nickte ich den Wachposten zu, verschaffte uns mit meiner Mitarbeiterkarte Einlass und blickte zum Einhorn. »Gehst du mit rein?«

»Nein, ich gehe nicht mehr zu Dr. Dr. Gütiger. Ich bin austherapiert, er bekommt nur meinetwegen auch noch Depressionen. Ich geh mal zu Yak, dem Ripper rüber, mal sehen, was es Neues gibt. Man sieht sich!«, seufzte er.

Wir winkten ihm hinterher. Er wischelte mit dem Schweif, trottete seines Weges, nicht ohne vorher noch zu versuchen, sich von einem Jeep anfahren zu lassen. Nur kannten wir alle unseren Depri-Karl-Heinz. Wenn er sich nähert, werfen alle sofort die Micke rein, damit sein Selbstmord keinen Erfolg hat. Armer Kerl.

Agnir ist, so wie seine Schwester Sascha, der Liebling aller Mitarbeiter. Kaum einen Meter kommen wir weit, nicht ohne von jemanden angesprochen zu werden. Agnirs Kopf wird mehr getätschelt, als Ernestine, das kleine Socken-Monster. Außer Agnir, Sascha und die Tochter von Simon und Delia, die den obskuren Namen »Nevia Navi« trägt, gibt es keine weiteren Kinder in unseren Reihen. Natürlich haben andere Mitarbeiter auch Kinder, doch ist ihnen der Zutritt unserer geheimen Zentrale verwehrt. Niemand würde glauben, was hier bei uns alles herumläuft. Außerdem müssen alle Mitarbeiter eine Schweigeklausel unterschreiben, was ihre Angehörigen betrifft. Annie weiß zwar, dass ich ein Vampir bin, denn wie anders hätten wir ihr erklären können, wieso unser Agnir wie Unkraut wuchs? Mir fiel es nicht leicht, ihr dieses Geständnis zu machen, doch tätschelte sie mir lediglich die Wange und sagte: »Ich wusste gleich von Anfang an, dass du etwas Besonderes bist. Es ist schön, einen starken Mann im Haus zu haben, der die Gläser aufschrauben kann, aber eins sage ich dir, Freundchen! Wenn du jemanden von uns beißt, dann ergeht es dir schlecht. Und dies ist keine leere Drohung!«

Ja, das ist Annie. Doch merkte sie sehr bald, dass ich keinerlei Interesse an ihrem, oder am Blut meiner Lieben hatte. Es war sehr kompliziert ihr das Wichtigste zu erläutern, doch ging sie damit relativ gelassen um. Sascha dagegen wusste es schon, sie begleitete ihre Mutter öfter mal zur Arbeit und ist auch das Patenkind von Cornelius, zu dem sie ein inniges Verhältnis hegt, was ihr daraufhin ein Pony einbrachte. Und Kinder gehen wie selbstverständlich mit Abnormitäten um. Offenbar erstaunt sie nichts so schnell und sie legen eine Toleranz an den Tag, von der wir Erwachsenen uns noch einen Scheibe abschneiden können. Vielleicht liegt es am Fernsehen, weil sie dort alle möglichen CGI-Effekte sehen und schnell abgebrüht gegenüber Absonderlichkeiten sind. Immerhin wachsen sie mit Hobbits, sprechenden Mäusen, singenden Chipmunks, und blauen Schlümpfen auf. Selbstverfreilich nicht das depressive Einhorn zu vergessen, das ständig um unser Haus herumlungert. Ich nahm Agnir auf dem Arm, damit er nicht von Ogern, Zentauren, oder Orks niedergetrampelt wurde. Für ihn war es jedes Mal wie ein Besuch im Disneyland.

»Siehst du da die Topfpflanze in der Ecke?«, fragte ich ihn. Er schaute mich an und nickte.

»Wenn ich nicht mit meinem Aurenblick geguckt hätte, wäre mir der Kerl gar nicht aufgefallen. Wer verkleidet sich schon als Ecke eines Raumes?«, meinte Agnir verwundert.

»Das ist unser Spezialist der Abteilung ›Tarnen, Trügen und Täuschen‹ er nennt sich ›Will Inkognito‹, er will in cognito bleiben. Manchmal gibt er sich aber auch die Namen: ›Mister X‹, ›John Doe‹, und ›Dr. Strange‹, wobei er es deutsch ausspricht, und nicht englisch. Letztens war er ›Wer? Meinen Sie mich?‹ Wenn du mich fragst, hat der Kerl eine Persönlichkeitsstörung! Damit du es verstehst, der Typ ist balla balla!«

Ich flüsterte dem Kleinen etwas ins Ohr und er grinste. Wir liefen an der getürkten Zimmerecke vorbei, während Agnir winkte und rief: »Hallo, Herr Inflagranti!« Worauf ein leise gemurmeltes: »Ach! So ein Mist!« ertönte. Ja, bei Salomons Ring laufen schon die absonderlichsten Leute herum. Und wenn sie nicht herumlaufen, sitzen sie in irgendwelchen Büros.

»Agnir? Wollen wir erst mal Anna Stolz besuchen? Ich kann jetzt einen Kaffee gebrauchen, mit dir kleinem Quälgeist kommt man ja zu nichts!«

»Klar, ohne Kaffee kann man nicht kämpfen!«, grinste er und tätschelte mir die Wange.

»Wo hast du den Spruch schon wieder aufgegabelt?«, fragte ich erstaunt.

»Von Nana, den sagt sie immer, wenn sie sich einen Kaffee eingießt.«

Bereitwillig ließ Agnir sich von mir in die Kantine tragen. Er besuchte diese Räumlichkeiten nur zu gern, weil Anna, meine Diätassistentin, immer eine kleine Überraschung für ihn parat hat. Als sie uns beide sah, strahlte sie über beide drallen Backen. »Ja, wer kommt denn da? Wenn das nicht unsere beiden Hünen sind! Was kann ich für euch tun? Eine Portion Blut für jeden?«, fragte sie und drehte sich schon halb in Richtung des Schranks, in dem sie das Blut aufbewahrte.

»Hallo Anna, für mich einen Blut-Kaffee, halb und halb.« Ich sah Agnir fragend an. »Möchtest du etwas?«

»Nee, ich trinke doch keinen Kaffee!«, beschwerte er sich.

Anna machte mein Getränk fertig. »Agnir, wie wäre es mit der Überraschung des Tages?«, fragte sie lächelnd.

Agnir war Anna gegenüber immer ein wenig zurückhaltend. Wahrscheinlich aus reiner Kalkulation. Wenn er es sich mit ihr verscherzte, wäre es mit den Überraschungen des Tages aus für ihn.

»Ja, bitte!«, meinte er schüchtern und drückte sein Gesicht an meine Brust.

»Aha, bei Anna kannst du plötzlich ›Bitte‹ sagen. Hey, warum denn so zurückhaltend, das kenne ich gar nicht von dir!«, grinste ich und zwinkerte der Köchin zu.

Sie reichte Agnir ein Wassereis über die Theke. Eigentlich kein herkömmliches Wassereis, sondern ein Bluteis. Der Kleine ergriff es und bedankte sich höflich.

»Ach, Agnir. Du bist so ein süßes und höfliches Kind! Das hast du aber nicht von deinem Papa«, meinte sie lachend, tätschelte Agnirs Gesicht und ging wieder an die Arbeit. Wir setzten uns an einen Tisch. Schon allein aus Gründen der Sicherheit. Dieses Geklecker geht nämlich ganz schlecht wieder aus den Klamotten heraus. Agnir braucht durch sein rasches Wachstum sowieso ständig neue Kleidung. Deshalb war es vernünftiger, nicht auch noch die passende zu ruinieren. Eine kleine bärtige Zwergin erblickte uns, winkte und hielt direkt auf unseren Tisch zu. Trixie Eisenfaust ist die Mutter der musizierenden Zwerge bzw. Möhrchen. Eine sehr resolute Person, die das Zwergenregiment mit strenger Hand führt. Eine kleine Matriarchin, mit der man sich nicht anlegen sollte, zumindest nicht als Zwerg. Nein, ich korrigiere: Auch anderer Gestalt nicht.

»Na, ihr beiden?« Sie setzte sich auf einen Stuhl und konnte kaum über die Tischkante gucken.

»Na, du eine? Was gibt´s Neues?«, fragte ich.

»Hallo Trixie! Ich heiße jetzt Triple A!«, grüßte Agnir und widmete sich wieder seinem Eis.

»Ach wirklich, Triple A? Zu mir sagen sie immer: ›Aua, du hast mich heftig in den verlängerten Rücken getreten!‹«, grinste die Zwergin. »Ragnor, hast du es schon gehört? Wir haben eine neue Präkognitive! Sie heißt Helma Schmidt, kommt wohl von der Küste, habe ich so mitbekommen«, sprach sie im verschwörerischen Ton.

»Und, sieht sie gut aus?«, fragte ich. Bei Delia, die unser vorheriges Orakel war, handelt es sich um eine echte Ausnahmeerscheinung. Jung, blond, blauäugig. Eine fast schon Nordisch zu nennende Schönheit.

Trixie kicherte sich ungehalten in den Bart: »Rechne mit dem Schlimmsten und leg dann noch mächtig eins drauf! Aber sieh selbst. Ach ja, den Kleinen würde ich nicht mitnehmen. Sie ist echt ein bisschen gruselig und dort herrscht ziemlich dicke Luft. Lass ihn mal lieber bei Amanda!«, gab sie besorgt zu Gehör.

Ich verstand die Zwergin nicht ganz. Nun, ich wollte ohnehin zu Amanda. Mich für die letzte Nacht entschuldigen und diese Gelegenheit gleich nutzen, ihr mein kleines Präsent zu überreichen. Es war immer so: Wenn ich nur mal kurz in die Zentrale gehen wollte, ergab sich meistens etwas Größeres daraus. Ich treffe unterwegs so viele Leute, dass ich gar nicht meinen direkt eingeplanten Weg gehen kann, sondern immer ein paar Stunden dranhängen musste.

»Okay Trixie. Ausnahmsweise berücksichtige ich mal deinen Ratschlag. Bist du soweit, Agnir? Warte, du hast da etwas am Mundwinkel!«

Mit einer Serviette wischte ich ihn sauber.

»Dann macht´s mal gut. Man sieht sich!«, nickte Trixie und kicherte wieder.

Selbst wenn ich nicht Amandas Dienstplan kennen würde – ich könnte sie jederzeit in diesem großen Gebäude finden. Quasi immer der Nase entlang. Ihr Duft ist so betörend, dass er mir schon fast als bunte, in der Luft hängende Girlande vorkam. Mittwochs hielt sich meine Angebetete immer in der Leistungskontrolle auf. Dort wurde ich auch schon etliche Male getestet, gewogen und vermessen. Wir traten ohne zu klopfen ein, denn bei diesem Lärm, den die Geräte veranstalteten, hörte sie ohnehin nichts. Als sie uns sah, blitzte ein kurzes Lächeln auf, bevor sich wieder die Maske ihres Pokerface herabsenkte. Sofort nahm sie mir den Jungen ab, gab ihm einen Kuss und setzte ihn an ihren Schreibtisch. »Na, meine beiden Männer? Wir war euer Tag?«, fragte sie und gab mir ebenfalls einen Kuss. Und ich fühlte mich durch diesen Kuss so unendlich geadelt, wodurch mir fast vor Stolz die Brust schwoll. Argwöhnisch blickte ich mich um, doch die Probanden waren alle auf ihre Aufgaben konzentriert.

»Wir waren bei der dicken Frau, die schenkte mir ein Eis und nannte uns Hühner!«, erzählte Agnir aufgeregt. »Warum nennt sie uns Hühner? Wir legen doch keine Eier und gackern?«, fragte er gleich darauf, was wieder bewies, dass es keine Frage auf dieser Welt gab, die er nicht zu stellen imstande war.

»Die dicke Frau heißt Anna Stolz, ist nicht dick, sondern vollschlank. Und sie sagte nicht Hühner zu uns, sondern Hünen. Hünen sind große Leute. Aber du bist ja noch ein kleiner Kerl, sozusagen ein Hünchen«, grinste ich.

»Ach so! Also keine Hühner!« Diese Antwort befriedigte unseren Sohn und er versank sofort in einer anderen Tätigkeit. Er hatte sich einen Bleistift genommen und malte auf einem Block herum. Da Junior jetzt beschäftigt war, zog ich Amanda etwas von ihm weg, denn auch er verfügt über ein ausgezeichnetes Gehör.

»Amanda, es tut mir wirklich leid, wie ich mich heute Morgen benommen habe. Ich hoffe du kannst mir verzeihen. Nur schade um die schönen Blumen!«, bedauerte ich und gab ihr die Schachtel mit den Ohrringen. »Nein, das ist kein Bestechungsversuch, die habe ich schon erstanden, bevor ich diesen verbalen Ausrutscher beging. Na ja, wenn du sie nicht haben willst... Ich würde sie ja selbst tragen, doch Blümchen sind nicht ganz mein Stil.«

Amanda öffnete das Kästchen und betrachtete die Ohrringe, dann warf sie mir einen strengen Blick zu, der mir die Ohren erröten ließ. Dann lächelte sie.

»Du bist ein unverbesserlicher Quatschkopf! Danke, die sind wirklich wunderschön. Nein, ich bin dir nicht wirklich böse. Wie könnte ich, wenn du so lieb, wie ein großer, dummer Junge vor mir stehst und mir diesen Dackelblick zuwirfst? Aber, wie würdest du reagieren, wenn ein schwer angetrunkener, schielender und keinesfalls kleiner Kerl vor deinem Bett stünde?«, machte sie mir mit ruhiger Stimme klar. »Und dann dieses Lied! Du weißt, ich bin dir körperlich nicht gewachsen, also gehe ich lieber woanders hin, ehe die Situation eskaliert. Zum Glück bist du betrunken eher ein wenig anhänglich und tapsig, jedenfalls nicht aggressiv. Aber um die Blumen war es keineswegs schade, denn sie waren schon schwer verwelkt und hinfällig.«

… Oh, ich vergaß: Blumen halten in meiner Gegenwart nicht lange. Es liegt einfach an meiner negativen Aura. Von mir aus, nennt es ein schlechtes Karma. Blumen welken, Spiegel zerspringen und selbst die Milch wird in meiner Gegenwart sauer. Aber wenn ihr mich fragt, gibt es weitaus Schlimmeres. Z. B. eine Ehefrau, die nicht in der Lage ist, einen kleinen Fehltritt ihres Ehemanns zu verzeihen. Zu meinem Glück zählte mein Herzblatt nicht zu dieser Kategorie...

»Puh, danke Liebes! Ich bin dir wirklich dankbar, weil du es mir nicht krumm nimmst. Normalerweise bin ich jemand, der einen Shitstorm provoziert, der ihm anschließend um die Ohren fliegt«, erwiderte ich erleichtert.

»Schade nur, dass die zu den Ohrringen passende Kette verschwunden ist. Ich kann mich aber auch nicht daran erinnern, sie verloren zu haben. Zuletzt war sie in meinem Schmuckkästchen. Dort hat sie sich anscheinend einfach in Luft aufgelöst!«, bemerkte sie leicht betrübt.

»Ja, irgendetwas geht bei uns zuhause nicht mit rechten Dingen zu. Aber ich werde mich darum kümmern, das verspreche ich dir, Liebes!«

»Das ist nett von dir. Hast du schon mit Cornelius geredet?«, erinnerte sie mich.

»Ja, zu dem grauen Zausel wollte ich gleich hin, aber erst will ich mir unser neues Orakel ansehen. Trixie meinte, ich solle Agnir bei dir lassen. Kann er ein paar Minuten bei dir bleiben? Ich hole ihn nachher ab, es dauert nicht lange.«

Amanda wusste wohl mehr als ich, sie nickte und kurz blitzte wieder dieses wissende Lachen auf. »Na ja, Agnir ist vorerst schwer beschäftigt. Aber schraube deine Erwartungen ein wenig zurück. Helma ist nicht die Spur so wie Delia. Ach, und noch etwas... Nimm eine Gasmaske mit!«

Offensichtlich hatte Amanda einen Clown gefrühstückt. So gut gelaunt habe ich sie selten erlebt. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu, gab ihr noch einen Kuss, winkte meinem Sohnemann und machte mich auf den Weg. Hinter mir hörte ich noch meinen Sohn brüllen: »Tschüss Papa, bis nachher!«

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Das 4. Buch George

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