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Kapitel 10
ОглавлениеÜberall, wo er hinsah, waren Schüler – laute, tobende, schreiende Schüler. Die ganze Schule hielt sich auf den Außenplätzen auf. Auf dem Schulhof, dem Weg zu den Sporthallen, dem Sportplatz, überall. Unentschlossen stand er am Rand des Schulhofs und ließ die Bilder der Schüler auf sich einwirken. Dabei kamen Erinnerungen hoch, die er lieber verdrängt hätte. Seine eigene Schulzeit war nämlich keine Zeit, an die er gern zurückdachte. Immer hatte man ihn als Schwächling beschimpft, weil er kleiner und schmächtiger als seine Klassenkameraden war. Auch Sport hatte ihm nie gelegen. Seine Stärke waren die Zahlen, das Rechnen, die unendlichen Möglichkeiten, was er alles damit anstellen konnte. Lange hatte es gedauert, bis irgendein Lehrer sein Talent bemerkte. Von diesem Tag an sollte sich sein Leben entscheidend verändern. Vom Weichei zum Einstein mutiert, fühlte er sich zwar nicht mehr erniedrigt oder beleidigt. Dafür blieb er nach wie vor ein Einzelgänger. Mit einem Schwächling wollte sich niemand abgeben, weil das Schande bedeutet hätte. Und ein Genie wollte auch niemand in seiner Nähe haben, weil dann die eigene Unfähigkeit zu deutlich geworden wäre.
Also war Günter Laug allein geblieben.
Sein bester Freund war schon seit sehr vielen Jahren der Alkohol. Auf den konnte er sich verlassen. Der würde ihn niemals im Stich lassen. Das einzige Problem mit dieser Freundschaft bestand darin, dass niemand davon wissen durfte. Sein Plan, unbemerkt in die Turnhalle zu gelangen, wurde durch die vielen Schüler auf dem Gelände vereitelt. Also gab es für ihn nur eine Lösung, und zwar so offensichtlich auf die hintere Halle zuzusteuern, dass niemand einen Gedanken daran verschwendete, er könnte etwas Verbotenes im Schilde führen. Denn, was hatte ein Mathematiklehrer in einer Turnhalle zu suchen?
Verstohlen schaute er sich um und begegnete dem Blick des Englischlehrers Manfred Dobler. Dieser Besserwisser hatte ihm gerade noch gefehlt. Jetzt musste er sich erst einmal eine Stunde lang Doblers Glanzleistungen anhören, bevor er seinen Plan umsetzen konnte.
»Hast du das gesehen? Hammer! Was?« Die Augen des kleinen Mannes leuchteten mit seiner Glatze um die Wette.
Laug verdrehte die Augen und murrte: »Kannst du dich nicht wie ein erwachsener Mann ausdrücken?«
»Hey!« Dobler stieß Laug an die Schulter, die genau auf seiner Augenhöhe war. »Man muss bei den Schülern heutzutage up-to-date sein.«
»Du müsstest dich mal selbst sehen. Dann würde dir dein Up-to-date-Gefasel im Hals stecken bleiben.«
»Meine Güte! Hast wohl noch nicht deine Dröhnung für heute bekommen!«
Laug stutzte. Dieser Angriff traf in unerwartet. Er dachte, er wäre immer so vorsichtig. Ab sofort musste er sich mehr zurücknehmen und seine Pausen sichtbar für alle auf dem Schulhof verbringen. Aber nicht heute. Heute war so ein Tag, an dem man sich keine Selbstkasteiung antun sollte.
»Was willst du loswerden?«, brummte er unwillig, in der Hoffnung, auf diese Weise das Gespräch schnell hinter sich zu bringen.
»Das war die Hölle heute Morgen«, begann Dobler. »So was passiert, wenn der Hausmeister seine Arbeit nicht richtig macht. Der Dicke wird jetzt sein Fett wegbekommen. Das geschieht ihm gerade mal recht.«
Günter Laug nickte geistesabwesend.
Der Gedanke war ihm auch schon gekommen. Oder genauer gesagt die Befürchtung. Denn Ernst Plebe war wichtig für Laug. Er mochte und brauchte den Dicken. Plebe war der einzige, mit dem Laug regelmäßig in den hinteren Räumen der Turnhalle einen hob. Dort hatte der Hausmeister einen geheimen Kühlschrank, in dem immer genügend Bier bereitstand. Für einen Euro verkaufte er die Flasche. Dabei handelte es sich sogar um Halbliterflaschen. Da war noch was drin. Die waren nicht schneller leer, als man sie geöffnet hatte.
»Da wird sich der Dicke mal umsehen, wenn er seinen Job verliert«, hörte er gerade Dobler sagen. »So einer findet nirgends mehr Arbeit.«
»Nun mal langsam mit den jungen Pferden. So schnell fliegt hier keiner raus«, bremste Laug den Redefluss seines Gegenübers.
»Das war aber eine Pflichtvernachlässigung im höchsten Ausmaß. Wenn das kein Entlassungsgrund ist«, sprach Dobler weiter. »Ich war dabei, als die Schüler den Toten entdeckt haben. Zum Glück. Ich konnte das Schlimmste gerade noch verhindern. Ein paar der älteren Schüler wollten die Leiche von Bertram Andernach abseilen. Und weiß Gott, was dann alles passiert wäre.«
»Wie? Du willst mir sagen, dass du eine Horde wild gewordener Schüler bändigen konntest?«
»Genau das! Es war nicht einfach, aber ich habe gekämpft wie ein Stier und mich am Ende durchgesetzt!« Dobler wuchs nach seinem letzten Satz bestimmt zwei Zentimeter.
»Dann muss ich mich vor dir ehrfürchtig verbeugen«, gab Laug sarkastisch zurück. »So viel Heldentum muss gebührend geachtet werden.«
»Was soll das heißen? Zweifelst du an meinen Worten?«
»Genau das! Schau dich doch an! Wie willst du Schüler abwehren, die einen halben Meter größer sind als du?«
»Idiot«, schimpfte Dobler. »Trink dein Bier, dann wirst du verträglicher.«
Genau das hatte Laug jetzt vor. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und setzte den Weg zur hinteren Turnhalle fort.
Der futuristische Neubau lachte ihn schon von weitem an – vielmehr das, was sich darin verbarg. Sein Durst siegte auch über seine Vorsicht, unbemerkt dort anzukommen. Zielstrebig trat er auf die Tür zu, sperrte auf und ging hinein. Die Ruhe, die ihm in Inneren entgegenschlug, war eine Wohltat. Schnell eilte er durch den langen, schmalen Gang, der zu seinem Leidwesen an der äußeren Glaswand zum Sportplatz entlang verlief, so dass die Schüler ihn beobachten konnten. Die Sonne verstärkte die Hitze unter dem Glas. Laug schwitzte. Lag es an dem Gefühl, beobachtet zu werden oder daran, dass die Sonne so unbarmherzig brannte?
Er war froh, endlich in den dunklen Räumen untertauchen zu können, wo ihn niemand mehr sah. Dort steuerte er das Kämmerchen an, in dem er sich regelmäßig mit dem Hausmeister traf.
Außer heute.
Was soll’s, dachte sich Günter Laug, nahm die erste Flasche aus dem Kühlschrank und trank sie in großen Schlucken leer. Sofort fühlte er sich besser. Der Schock über den grässlichen Anblick des Kollegen rückte endlich in weite Ferne.