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Kapitel 13
ОглавлениеMathilde Graufuchs! Sie hatte sich nicht verändert. Seit dreißig Jahren sah sie schon so alt und verbittert aus.
Fred Recktenwald bekam die Erinnerung an seine Begegnung mit dieser Frau nicht aus dem Kopf. Dreißig lange Jahre hatte er nichts von ihr gehört oder gesehen. Dann tauchte sie plötzlich mit einer Schulklasse auf der Teufelsburg auf. Dazu noch an einem Tag, an dem alle Schüler des Max-Planck-Gymnasiums frei haben sollten.
Aber nein! Der alten Hexe war es wieder einmal gelungen, Kinder um ihr Vergnügen zu bringen. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Schüler von dem toten Lehrer fernzuhalten und sie in den Schulbus zu locken, bevor die Kleinen erfahren konnten, dass an diesem Tag eigentlich schulfrei war. Typisch.
Aber warum regte er sich auf?
Sie hatte ihn nicht erkannt – hatte ihn einfach aus dem Gedächtnis gestrichen, wie damals, als es um seine Versetzung ging. Es wäre ein leichtes für sie gewesen, Fred Recktenwald zum Abschluss der Mittleren Reife zu verhelfen. Nur einige Nachhilfestunden. Aber Mathilde Graufuchs hatte ihn ausgelacht und gemeint, mit ihm wolle sie nicht ihre Zeit verplempern. Fred Recktenwald sollte jeder schleunigst aus dem Gedächtnis streichen. Das waren ihre Worte gewesen.
Und so hatte er das Gymnasium ohne Abschluss verlassen.
Mathilde Graufuchs hatte sich schon immer für etwas Besseres gehalten. Vor allen Dingen damals, als Fred Recktenwald ihr Schüler war und wieder einmal etwas nicht wusste.
Nur an diesem Tag nicht.
Mit überzeugender Selbstsicherheit trug Fred Recktenwald sein Wissen vor: »Die Teufelsburg wurde als Kampfburg zur Verteidigung gebaut. Hier seht ihr einen Turm, der nach Westen zeigt. Demnach wurde dieser Turm auch Westturm genannt. Er wurde mit einer Schleuderschießscharte ausgestattet, eine damals sehr wirksame Waffe, um den Feind von der Burg fernzuhalten.« Staunen ging durch die Menge der Schüler. »Auffallend ist, dass dieser Turm schon im Fundament keine Mauern aufzeigt. Es wird vermutet, dass durch den Bau der Verbindungsstraße der größte Teil des Turms vernichtet worden ist, was bedeutet, dass diese Verbindungsstraße später gebaut worden ist.« Fred empfand sich selbst als sehr professionell, während er all seine Kenntnisse vortrug. Und die Schüler zollten ihm gebührenden Respekt, was ihm guttat, während Mathilde Graufuchs neben ihm kochte vor Wut.
»Was ist eine Verbindungsstraße?«, fragte ein Junge.
»Diese Verbindungsstraße sollte damals die beiden Burgteile sowie die verlängerte Talzufahrt innerhalb des Burggeländes miteinander verbinden.«
»Heißt das, dass diese Verbindungsstraße nicht aus der Burg herausführte?«
»Genau das.«
»Woran kann man das feststellen?«
»Ganz einfach: Diese Straße hat keine Wehr- und Abwehranlagen, um das Burggelände vor Eindringlingen zu schützen. Sie ist also ungeschützt. Weiterhin passiert die Verbindungsstraße die Zisterne, die wohl kaum außerhalb des Burggeländes gelegen haben kann, weil das die zentrale Wasserversorgung für alle auf der Burg lebenden Menschen war. Hinzu kommt, dass der Wehrturm eine direkte Verbindung zu dieser Straße hat, was nicht möglich wäre, würde diese Straße nach draußen führen.«
Keine Antwort war er den Kindern schuldig geblieben. Und doch hatte Fred Recktenwald gespürt, wie Mathilde Graufuchs ihn beobachtet – ja belauert hatte. Ständig war sie auf der Suche nach etwas, um ihn zu kompromittieren. Wenn sie nichts fand, erfand sie einfach etwas, womit sie ihn bei seinem Vortrag pausenlos unterbrach. Sogar die Geschichte der Teufelsburg wollte sie besser kennen als er.
Aber das würde er niemals zulassen. Zu sicher war er sich inzwischen, dass er es besser wusste, weil er alles auswendig gelernt hatte.
Er hatte ihr widersprochen, was ihm vor dreißig Jahren im Gymnasium nicht eingefallen wäre. Vielleicht hatte sie ihn deshalb nicht erkannt.
Oder hatte ihre Methode, ihn aus dem Gedächtnis zu streichen, tatsächlich funktioniert?
Seine Füße trugen ihn beschwingt nach Hause. Es war ein guter Tag. Erst der Deutschlehrer mit heruntergelassener Hose. Dann die Geschichtslehrerin mit vor Staunen offenstehendem Mund. Diese Bilder wollte Fred im Gedächtnis behalten.
Er passierte Picards Neubeugebiete in der Gisinger Straße und Auf der Kleinwies, bis er von der Rückseite an sein Grundstück gelangte. Undurchdringliche Hecken rahmten sein Haus ein, so dass es auch von dieser Seite nicht zu sehen war. Nur er wusste, wo er zwischen den dornigen Ästen hindurchschlüpfen musste, um sein Haus zu erreichen. Wie ein Dieb sicherte er sich ab, dass ihn niemand beobachtete. Erst dann verschwand er blitzschnell im grünen Dickicht. Es machte ihm jedes Mal kindlichen Spaß, sein Eigenheim über diesen Weg zu betreten. Er liebte es, unerkannt zu leben. Und dieses alte Haus, das er von der Stadt Saarlouis für einen geringen Preis gemietet hatte, bot sich geradezu dafür an. Niemand kümmerte sich um diese Ruine, weil vermutlich niemand im Dorf wusste, dass sie noch existierte.
In Picard aufgewachsen, wusste er genau, wie neugierig die Leute sein konnten. Deshalb war ihm jedes Mittel recht, so unerkannt wie möglich dort zu leben. Und wo ging das besser als in diesem versteckten Häuschen, das sogar die Stadt Saarlouis vergessen hätte, wäre er nicht auf sie zugegangen, um es für wenig Geld zu mieten. Als Kind war er oft zusammen mit Linus Kalkbrenner zu dem verlassenen Haus gegangen. Sie hatten es das Hexenhaus genannt und sich stets davon magisch angezogen gefühlt. Und diese Anziehungskraft übte das Haus heute noch aus. Fred konnte sich das nicht erklären. Aber das störte ihn nicht. Er schätzte sich einfach nur glücklich, heute in diesem Haus wohnen zu können.
Er stieg die wenigen Stufen zu seiner Veranda hoch, die notdürftig mit dicker Pappe eingerahmt war. Sein Refugium ließ an Luxus zu wünschen übrig. Die Toilette bestand noch aus dem klassischen Donnerbalken. Immer wenn er auf seiner verfallenen Veranda saß, fiel sein Blick auf den stillen Ort. Mehr Sicht gaben die Bäume und Sträucher nicht frei, weil sie von Jahr zu Jahr dichter zusammenwuchsen. Aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil. Sie vermittelten ihm das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.
Zufrieden betrat er seine Haushälfte. Die andere Hälfte hielt er für Linus frei. Der Gedanke erfüllte Fred mit Glückseligkeit. Er liebte es, wenn er anderen auch eine Freude machen konnte. Linus war in der Schulzeit sein Schutzengel gewesen. Er hatte ihn immer vor den Anfeindungen der anderen zu bewahren versucht. So etwas vergaß Fred nicht. Niemals. Obwohl Linus schon vor langer Zeit weggezogen war, weil er in Rüsselsheim eine Arbeit gefunden hatte – er hielt für ihn die andere Haushälfte bereit.
Linus hatte die Angewohnheit, sporadisch immer mal wieder bei ihm aufzutauchen. Und seit die Opelwerke in Rüsselsheim ihn entlassen hatten, kam er noch häufiger, wenn auch griesgrämiger und mürrischer. Das änderte aber nichts daran, dass er bei Fred stets willkommen war.
Neugierig warf er einen Blick nach nebenan. Dort lag alles still und verlassen. Zuhause war er also nicht. Schade. Fred wollte ihn so viel fragen.
Seine untere Etage war schön aufgeräumt. Den alten Küchenschrank aus Kirschbaumholz hatte er mit Holzpolitur ordentlich gepflegt, er sah wie neu aus. Die Vorbesitzer hatten alles achtlos zurückgelassen und dem Verfall preisgegeben. Fred wusste das zu schätzen, denn nur so kam er zu einem möblierten Haus. Also steckte er viel Liebe und Mühe in die Pflege der alten Möbel. Sogar Parkettboden lag im hinteren Raum. Den hatte er so gut es ging repariert. Auch wenn vereinzelte Holzdielen sich nach oben wölbten, war er mit seinem Ergebnis hochzufrieden.
Er ließ sich auf der Couch nieder und blätterte in der Zeitung. Kein Wort stand dort über den toten Lehrer – eine Tatsache, die ihn aufheiterte. Bertram Andernach war noch nicht einmal eine Sonderausgabe wert. Als nächstes wagte er den Versuch, ob das Fernsehen mehr über den toten Lehrer zu berichten wusste. Er schaltete den alten Flimmerkasten ein, dessen Empfang durch die viel zu alte Antenne auf dem Hausdach schlecht war. Das Bild war abwechselnd in Farbe und Schwarzweiß. Die Bildqualität war ihm aber egal, weil sein Interesse an Fernsehen nicht über die Nachrichten hinausging.
Dort handelten sämtliche Berichte vom Max-Planck-Gymnasium und dem toten Lehrer. Sogar der Erhängte wurde gezeigt, ein Foto, das Fred erschreckte. Durch die Lautsprecher des Fernsehers ertönte: Die Polizei tappt im Dunkeln.
Die Aussage gefiel Fred.