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Kapitel 11

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Jürgen Schnur und Erik Tenes trafen vor den Kollegen im großen Sitzungssaal ein. Sie setzten sich ans Kopfende, nahmen die wenigen Papiere, die vom Sekretariat über den Mordfall zusammengestellt worden waren, und warteten.

In die Stille fragte Schnur: »Hat Anke sich schon bei dir gemeldet?« Mit dieser Frage traf er voll ins Schwarze. Erik spürte, wie alle seine Emotionen, die er in letzter Zeit zu verdrängen versucht hatte, wieder hochkamen. Anke Deister, die Kollegin, die mit ihm im Team arbeitete, die für Erik mehr war als nur eine Arbeitskollegin. Sie war zu einer Weiterbildung nach Frankreich ausgebrochen, die nicht wirklich nötig gewesen wäre. Kullmann hatte sie begleitet. Ihn zu fragen war ihr nicht in den Sinn gekommen, was in Erik eine heftige Eifersucht auslöste, über die er nicht sprechen wollte. Zu viele alte Wunden könnten aufgerissen werden.

»Nein«, gab Erik zu.

»Das verstehe ich nicht«, wunderte sich Schnur. »Ich dachte immer, ihr beiden versteht euch.«

»Dachte ich auch«, grummelte Erik und bemühte sich, seine wahren Gefühle vor seinem Vorgesetzten zu verbergen.

Doch Schnur wusste es bereits. Er war ein Fuchs. Ihm konnte Erik so schnell nichts vormachen.

»Das ist natürlich ungeschickt, denn ich habe darauf gebaut, dass Anke dich immer auf dem Laufenden hält, was in Frankreich passiert.«

Erik schluckte schwer. Genügte es nicht, dass er selbst enttäuscht war? Musste Schnur noch zusätzlich seine Enttäuschung über ihn ausdrücken? Seit Ankes Fortgang nach Frankreich fühlte sich Erik innerlich zerrissen. Die Frage, was er falsch gemacht haben könnte, quälte ihn. Von ihr hatte er nicht die geringste Andeutung bekommen, warum sie diese Dienstreise überhaupt angetreten hatte.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach die unangenehme Situation. Erleichtert schaute Erik auf und sah eine fremde Frau den Raum betreten. Zu seinem Erstaunen reagierte Schnur auf sie, als würde er sie schon lange kennen. Damit schien für den Augenblick das leidvolle Gespräch vergessen.

»Andrea Westrich«, rief Schnur aus, erhob sich und ging auf die Frau zu. Sie war groß und kräftig. Ihre dunklen Haare wurden von einigen grauen Strähnen durchzogen. Große, mandelförmige Augen strahlten Ruhe und Zuversicht aus.

Erik beobachtete sie von seinem Platz aus und musste sich eingestehen, dass ihm diese Frau auf Anhieb sympathisch war.

»Ja, inzwischen heiße ich tatsächlich wieder Westrich«, erklärte die Frau lachend.

»Was soll das heißen?«

»Ich war mal verheiratet und bin zu meinem Ehemann nach Berlin gezogen. Bestimmt zehn Jahre habe ich es mit ihm in der großen Stadt ausgehalten. Dann wurde meine Ehe glücklich geschieden, ich nahm meinen Mädchennamen wieder an und bin ins Saarland zurückgekehrt«, erklärte die Frau mit warmer, herzlicher Stimme.

»Tja! Wir Saarländer können einfach nicht von unserem kleinen Bundesland lassen.«

»Meine Tochter ist bei ihrem Vater in Berlin geblieben«, fügte Andrea an. Ihre Stimme bekam dabei einen wehmütigen Klang. »In Berlin geboren, fühlte sie sich wohl wie eine echte Berlinerin.«

Schnur nickte nur, weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte.

»Was ist aus deinen großen Plänen geworden?«, fragte Andrea, um die peinliche Stille schnell wieder zu unterbrechen. »Wolltest du nicht mal zum FBI nach Quantico?«

Erik schaute interessiert auf.

Schnurs Gesicht rötete sich, als er antwortete: »Ja ja! Unsere Träume … Sie haben zumindest den Vorteil, dass wir das Beste aus unserer Situation machen. Jetzt bin ich Dienststellenleiter und damit auch zufrieden.«

»Was macht deine Familie?«

»Meine Tochter studiert in Tübingen – nicht weit genug weg von zuhause. Jedes Wochenende kommt sie und sorgt für Streit. Mein Sohn ist ein totaler Technik-Freak. Ständig drückt er mir etwas Neues aufs Auge.« Dabei zog Schnur ein Mobiltelefon aus seiner Hemdtasche. »Hier, so ein Gerät mit Touch-Screen! Und Apps! Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was ich damit machen soll.«

»Telefonieren?«, überlegte Andrea.

»Danke für den Tipp!«

»Du hast dich nicht verändert.« Andrea lachte.

»Und du hoffentlich auch nicht«, entgegnete Schnur. »Arbeitest du jetzt in meiner Abteilung oder wurdest du mir nur für die SokoLehrer zugeteilt?«

»Meinem Antrag, in deine Abteilung zu kommen, wurde sofort stattgegeben. Es sieht so aus, als gebe es bei dir die große Massenflucht.« Andrea grinste verschmitzt.

»Nichts ist so schlimm, wie es aussieht«, wehrte sich Schnur. »Ein Kollege ist mit seinem Durchlauf durch die Abteilungen noch nicht fertig. Ein anderer hat sich selbst seinen Rausschmiss besorgt. Und Anke Deister arbeitet zurzeit im Ausland.«

»Oh!«

Das Gespräch der beiden wurde durch die Ankunft der anderen Kollegen unterbrochen. Es dauerte nicht lange, schon waren alle Plätze in dem großen Saal besetzt und weitere Stühle wurden hereingetragen.

Staatsanwältin Ann-Kathrin Reichert betrat in Begleitung von Kriminalrat Dieter Forseti den Saal ganz zum Schluss. Gemeinsam setzten sie sich in die Menge hinein, eine Geste, die von allen mit Erstaunen beobachtet wurde.

Schnur beherrschte sich, weil ihm die das Verhalten seiner Mitarbeiter nicht entging. Ann-Kathrin war in eine angeregte Unterhaltung mit Forseti vertieft, weshalb sie davon nichts mitbekam.

»Liebe Kollegen! Für alle diejenigen unter uns, die unsere neue Mitarbeiterin noch nicht kennen, stelle ich sie hiermit vor«, begann Schnur die Besprechung, wobei er Mühe hatte, seinen Tonfall neutral klingen zu lassen. Dabei wusste er selbst nicht so genau, was ihn mehr ärgerte: die offen zur Schau getragene Innigkeit zwischen Ann-Kathrin und Forseti oder das Verhalten seiner Leute. Er war sich so sicher gewesen, dass ihr privater Kontakt ein Geheimnis sei. Vermutlich hatte er vergessen, was seine Leute von Berufs wegen machten. Doch bevor er seine Rede vergaß, berichtete er hastig dasselbe, was Andrea vor wenigen Minuten ihm erzählt hatte. Mit einem gebührenden Klopfen auf die Tischplatte wurde sie begrüßt.

Dann begann er mit dem dienstlichen Teil: »Wir haben hier einen Todesfall, der uns eine Menge abverlangen wird. Es gibt nämlich die vermutlich größte Anzahl an Verdächtigen, seit wir Mordfälle aufklären.«

»Was wir dem Hausmeister zu verdanken haben«, gab Esther zum Besten.

»Der gute Mann war nicht auf die Idee gekommen, dass sich nachts Lehrer im Schulgebäude aufhalten könnten.« Damit riss Schnur das Gespräch wieder an sich. »Was mich nämlich zu der Frage führt: Was hat ein Deutschlehrer in der Nacht von Sonntag auf Montag zwischen Mitternacht und zwei Uhr im Schulgebäude zu suchen?«

»Ein Stelldichein mit einer Geliebten?«, spekulierte Andrea.

»Gibt es etwas, was wir über den Deutschlehrer Bertram Andernach wissen?«, fragte Forseti.

»Nein«, antwortete Schnur und fügte an: »Deshalb sitzen wir hier. Wir müssen alles über den Toten herausfinden. Seine Lebensumstände, seine Freunde, seine Feinde, seine Arbeitsmethoden und auch die Möglichkeit, ob er eine Liaison mit einer Kollegin hatte. Das würde erklären, was er zu dieser Zeit in der Schule zu suchen hatte.«

Überall raschelten die Blätter. Die Kollegen schrieben eifrig mit.

»Zurzeit wird die Leiche des Deutschlehrers obduziert«, sprach Schnur nach einer kurzen Pause weiter. »Aber vorweg hat uns der Gerichtsmediziner schon gesagt, dass Bertram Andernach noch gelebt hat, als er am Strick hochgezogen wurde.«

Ein erstauntes Murmeln entstand.

»Das bedeutet eine besondere Grausamkeit«, stellte die Staatsanwältin fest. »Und das schließt wohl einige Verdächtige aus.«

»Richtig«, stimmte Schnur zu. »Ich halte die Schüler im Alter zwischen elf und vierzehn Jahren nicht für fähig einen erwachsenen Mann auf diese Art und Weise zu töten. Erstens könnte sich der Lehrer gegen sie wehren, und zweitens traue ich Gymnasialschülern in dem Alter eine solche Grausamkeit nicht zu.«

»Fünfzehnjährigen aber schon?«, hielt Anton dagegen.

»Keine Ahnung«, gestand Schnur. »Mein Sohn war mit fünfzehn total harmlos. Meine Tochter hatte in dem Alter schon mehr Biss als ihr Bruder.«

»Also knöpfen wir uns die Schülerinnen vor«, schlussfolgerte Erik.

Ein amüsiertes Raunen ging durch die Menge.

»Du wirst dich um den männerverschlingenden Vamp kümmern, diese Mirna«, gab Schnur zu verstehen.

Sofort waren alle Kollegen hellwach.

»Wow! So einen Auftrag hätte ich auch gern!«

»Was bist du doch für ein Glückspilz!«

»Manometer Erik! Schaffst du das allein oder brauchst du tatkräftige Unterstützung?«

Es war Forseti, der es glänzend verstand, die gute Stimmung abzutöten. Mit strenger Stimme sprach er: »Es gibt hier nicht den geringsten Anlass zum Scherzen. Nicht nur, dass es pietätlos ist. Sondern weil hier wohl niemand das wirkliche Ausmaß dieses Falles begreift.«

Alle starrten ihn entgeistert an.

»Hat jemand von euch schon mal ins Internet geschaut?«

»Dazu hatten wir noch keine Zeit«, gab Schnur zu verstehen.

»Die Zeit wäre aber sinnvoll gewesen, denn Youtube und Clipfish.de sind inzwischen voll mit Aufnahmen des erhängten Lehrers.«

Damit löste Forseti großes Staunen aus. Nur Schnur konnte sich dem aufgeregten Treiben der Mitarbeiter nicht anschließen. Viel zu groß war sein Ärger über sein Versäumnis. Das kam davon, dass er sich mit dem Internet nicht auskannte.

Trotzig fragte er: »Was ändert das an unserer Arbeit?«

»Das ändert wohl die Prioritäten«, antwortete Forseti. »Wir alle kennen das postmortale Persönlichkeitsrecht. Das betrifft die Fortwirkung des Persönlichkeitsschutzes über den Tod hinaus.«

»Soweit ich weiß, endet die Rechtswirkung des Persönlichkeitsrechts mit dem Tod eines Menschen«, hielt Schnur dagegen.

»Es gibt ein Gesetz, das sogenannte Urheberrechtsgesetz in Form des Urheberpersönlichkeitsrechts«, schaltete sich die Staatsanwältin in das Gespräch sein. »Das besagt, dass besondere Persönlichkeitsrechte auch über den Tod hinaus wirken können. In unserem Fall ergibt sich ein möglicher Achtungsanspruch, weil der Lehrer eine Person des öffentlichen Lebens war, der seinen Schülern und auch ehemaligen Schülern in Erinnerung bleiben wird.«

»Was heißt das für uns?«, fragte Schnur.

»Bis jetzt nichts«, antwortete Ann-Kathrin. »Gegen die Verletzung dieser Art von postmortalem Persönlichkeitsrecht können nämlich nur Angehörige vorgehen.«

»Hatte der Lehrer Angehörige?«, fragte Forseti.

»Er war zweimal geschieden und hatte keine Kinder. Beide Ehefrauen sind inzwischen wieder verheiratet«, antwortete Schnur.

»Können wir nur hoffen, dass diese Damen sich nicht beschweren«, kam es zynisch von Forseti. »Solche eklatanten Versäumnisse an einem Tatort dürfen nicht passieren.«

Schnur spürte seinen alten Zorn in sich aufwallen. Sein Blick traf auf Ann-Kathrin, die eine Augenbraue hochzog, eine Geste, die Schnur inzwischen verstand. Sie würde einen offenen Streit vor versammelter Mannschaft nicht gutheißen, sollte das bedeuten. Also bemühte er sich, sein Adrenalin herunterzufahren und antwortete so lässig, wie es ihm nur möglich war: »Wir wurden erst informiert, als der Schaden schon angerichtet war. Also können Sie uns kein eklatantes Versäumnis vorwerfen.«

Die Stimmung war geladen. Keiner der Anwesenden wusste, in welche Richtung er schauen sollte. Umso erleichterter waren alle, als Schnur die Besprechung in ruhigerem Tonfall weiterführte: »Wir haben vom Schulleiter sämtliche Schüler der Schule aufgelistet bekommen. Zusammen mit den Schuljahrgängen, Benotungen und sonstigen Einträgen. Von den Lehrern haben wir die Personalakten. Meine Anweisung an euch lautet, alle diese Akten durchzusehen.«

Stöhnen war die Antwort, doch Schnur ließ sich nicht aufhalten: »Ich weiß, ich weiß! Das ist eine langweilige und trockene Arbeit. Gehört aber dazu. Denn, sollte Andernach sich tatsächlich einen Feind in der Schule geschaffen haben, finden wir ihn nur durch Akteneinsicht.«

Stille statt Zustimmung.

»Ich sehe, wir sind uns einig«, erkannte Schnur.

»Gibt es eigentlich etwas, was wir schon an Fakten haben?«, fragte Forseti in die frustrierte Runde.

»Nur den Todeszeitpunkt und die Todesart, wenn auch noch nicht offiziell«, gestand Schnur.

»Dann stehen Zeugenbefragungen im näheren Umfeld der Schule an.«

Schnur schaute auf seinen Vorgesetzten und sah, wie er sich mit der Staatsanwältin absprach. Mürrisch antwortete er darauf: »Das wird nicht so einfach. Dort wohnen keine Leute in unmittelbarer Nachbarschaft.«

Esther fuhr hoch und rief: »Aber dafür gibt es direkt gegenüber eine Fahrschule!«

»Ja und?«

»Nachtfahrten«, antwortete Esther, als habe sie damit den Jackpot geknackt.

»Nachtfahrten?«, wiederholte Schnur begriffsstutzig.

»Ja! Um zur Führerscheinprüfung zugelassen zu werden, müssen die Schüler eine bestimmte Anzahl an Nachtfahrten absolvieren. Am besten fragen wir dort an, ob zu der Zeit, als Bertram Andernach getötet wurde, zufällig jemand in der Fahrschule war.«

»Esther, du bist klasse«, lobte Schnur. »Auf die Idee wäre ich nicht gekommen. Da der Geistesblitz von dir kommt, darfst du dich darum kümmern.«

Zufrieden lehnte sich Esther zurück.

»Anton wird dich begleiten«, fügte Schnur an. »Und Erik wird ab sofort mit Andrea zusammenarbeiten.«

Schnur erhob sich von seinem Platz und bemerkte abschließend: »Ich habe mir die delikateste Aufgabe vorbehalten – nämlich den Besuch beim Gerichtsmediziner.«

Kullmann und das Lehrersterben

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