Читать книгу Mörderische Familie - Elke Vesper - Страница 10

29. NOVEMBER

Оглавление

Es ist ganz leicht. Ich sage, es sei persönlich, nenne meinen Namen, dann dauert es nur sehr kurze Zeit, und Tankred ist am Apparat. „Kristien!“ Es klingt, als würde er sich aufrichtig freuen, meine Stimme zu hören. Ich zumindest empfinde eine solche Freude, dass es mir schon eigenartig vorkommt, aber ich glaube, es liegt daran, dass ich endlich mit einem Menschen spreche, dem ich all meine Fragen stellen kann und der nicht wirkt, als würde ich ihm Zeit rauben.

„Tankred! Wie geht es dir? Meine Güte, habe ich lange nichts von dir gehört!“

Seine Stimme ist immer noch wie damals, ein wenig gebrochen, keine eindeutige Tonlage, zwischen hell und dunkel, irgendwie heiser und doch nicht. Und dennoch liegt etwas anderes darin, etwas Tieferes, Wärmeres. Er lächelt, das höre ich.

„Ja, es geht mir gut. Richtig gut. Wie seltsam, dass du mich anrufst, ich habe in den vergangenen Tagen manchmal an dich gedacht. Und dabei habe ich Jahre nicht mehr an dich gedacht. Wie geht es Dir? Warum rufst du mich an?“ Plötzlich klingt seine Stimme besorgt. „Hast du Probleme?“

Ich erinnere mich. Besonders liebenswert an Tankred war, dass er so durchsichtig war. Er hatte vielleicht kein reiches Gefühlsleben, er war manchmal auch kalt, aber er manipulierte nicht, verfolgte keine Strategien mit anderen Menschen, sagte, was er dachte. Und auch was er fühlte, selbst wenn andere Menschen, besonders Frauen, das zuweilen schwer verdaulich fanden. Ich entscheide, ebenso direkt zu antworten. „Ja, ich habe Probleme, und ich bin sehr froh, dass ich dich erreicht habe. Ich brauche deine Hilfe, Tankred. Ich weiß nicht, ob du sie mir geben kannst, aber ich brauche sie.“

Er schweigt einen Moment. Dann lacht er: „Hast du was ausgefressen? Lass mich raten? Du hast dich einem Dealerring für schwerste Drogen angeschlossen, weil die Praxis doch nicht genug abwirft, um deine Designerklamotten zu finanzieren. Zweite Variante: Du bist spielsüchtig geworden und steckst jetzt in der Klemme, weil dich gleich zwei sich einander bekämpfende Banden verfolgen, die Geld von dir erpressen, aber du hast es nicht, und jetzt will jede der beiden, dass du den Chef der anderen aufsuchst und ihm seine süßesten Geheimnisse entlockst …“ Er lacht, sichtlich amüsiert über seine Szenarien. „Das so ungefähr ist mein grauer Alltag, liebe Kristien. Welche Probleme hast du also, bei denen ich dir helfen könnte?“

„Ist schon komisch oder? Dabei bin ich doch die Problemlöserin“, sage ich kleinlaut. „Es geht um Anne.“ Ich mache eine Pause, um durch irgendein Geräusch von ihm zu erfahren, ob er im Bilde ist, aber auf der anderen Seite bleibt es still.

Ich muss also selbst fragen: „Hast du in der Zeitung gelesen, was mit Anne geschehen ist?“

„Ne. Ich höre schon seit Jahren keine Nachrichten, sehe keine Tagesschau, lese keine Zeitung. Du glaubst nicht, wie wenig Neues auf der Welt wirklich geschieht. Alles, was von Bedeutung ist, höre ich von Kollegen. Und die Fußballergebnisse lese ich im Kicker.“ Er lacht leise. „Also, was ist mit Anne?“

„Tankred, würde es dir etwas ausmachen, wenn wir uns heute Abend irgendwo treffen und dort weiterreden? Ich brauche es, dich zu sehen. Am Telefon finde ich das alles schwierig.“

Er wartet keine Sekunde mit der Antwort. „Klar, wo und wann?“

Ich überlege kurz. Ich arbeite bis neunzehn Uhr, dann könnte ich um zwanzig Uhr im La Pergola sein, dem italienischen Restaurant in der Osterstraße, wo es möglich ist, mit Hund hinten in eine Art Séparée zu gehen. Sie teilen das auch manchmal Liebespaaren zu, für Tankred und mich wäre es genau richtig. Es muss nicht jeder am Nachbartisch hören, worüber wir reden. Ich schlage es ihm vor, und er ist sofort einverstanden. „Zwanzig Uhr. Pergola. Bis dann.“

Ich muss wieder lächeln. „Bis dann, lieber Tankred.“

Im Ristorante La Pergola kennen sie mich. Ich habe mich hier manchmal mit Max zum Mittagstisch getroffen. Sobald er Rocco sieht, weist mich der freundliche Kellner nach hinten. Als ich sitze, fällt mir ein, dass sie ja nicht wissen, mit wem ich verabredet bin, also gehe ich kurz nach vorn, um zu sagen, dass ich einen Herrn erwarte. In diesem Augenblick tritt ein Mann durch den braunen vor der Tür hängenden Vorhang. Tankred war ein großer, betont sportlicher Mann mit fast kahl geschorenen Haaren und einem energischen Mund. Dieser Mensch ist ein völlig anderer Typ. Da durchquert er allerdings das Restaurant in ein paar Schritten, steht vor mir, überragt mich um fast zwei Köpfe und plötzlich bin ich von langen Armen umschlungen. Schnell lässt er mich wieder los, macht ein betretenes Gesicht, als hätte er gerade etwas Unsittliches getan und sagt verlegen: „Kristien, das haut mich um, dich zu sehen.“

Da kommt Rocco angerannt, die Leine zieht er hinter sich her. Er stellt sich vor mich, schaut Tankred aufmerksam an und wedelt freundlich mit dem Schwanz. Ich weiß nicht, was mich gerade mehr rührt, die Freude dieses Mannes, mich zu sehen, oder Roccos Aufmerksamkeit. Rocco würde für mich sterben, das weiß ich. Sobald ein Fremder mir zu nahe kommt, ist er da.

Tankred beugt sich hinunter und streichelt meinen Hund. „Keine Angst, ich tu ihr nichts,“ sagt er, und diese Stimme, als wäre er im Stimmbruch, lässt in mir Erinnerungen an die Zeit hochkommen, als er bei mir in Therapie war.

Als wir in der Nische sitzen, betrachte ich ihn genauer. Was für ein Wandel! Max behauptete immer, dass Männer, die sich den Kopf fast kahl rasieren, damit nur ihren frühen Haarausfall kaschieren wollen. Ich hatte den Eindruck, dass Tankred mit seiner „Frisur“ wie bei so vielen anderen Dingen Stärke und Männlichkeit demonstrieren wollte. Jetzt ist der beginnende Haarverlust tatsächlich erkennbar, aber die Haare, die hinter den Geheimratsecken beginnen, sind wellig und lang. Er hat sie zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden. Die Koteletten kräuseln sich leicht, und auch rechts und links der Stirn zeigen sich ein paar kleine Locken. Am überraschendsten für mich ist, dass die Haare wie auch der Dreitagebart völlig grau sind. Ich erinnere nicht genau, wie alt er ist. Damals war er ungefähr zehn Jahre jünger als ich. Dieser Mann, der vor mir sitzt und mich aus nebelgrauen Augen anstrahlt, wirkt einerseits viel jünger als damals, andererseits kommt er mir fast gleichaltrig vor.

„Ich hab mich verändert, was?“, sagt Tankred stolz wie ein kleiner Junge. Mir bricht plötzlich Schweiß aus; ich könnte im Boden versinken. Verstohlen wische ich über meine Stirn, murmle: „Warm hier“ und ziehe meine schwarze Kapuzenjacke aus, die ich trage, wenn ich nicht Therapeutin bin.

Ich weiß es schon, nur die Jacke auszuziehen, nützt gar nichts. Ich müsste mich hier jetzt nackt hinsetzen, und dann wäre mir immer noch zu heiß. Es ist mir entsetzlich peinlich. Auch wenn er sich so verändert hat, und ein zugleich älterer und jüngerer Mann vor mir sitzt, bin ich immer noch die Therapeutin, und die hat nicht mitten im Winter zu schwitzen, als sei sie im Hochsommer auf Mallorca.

„Wechseljahre?“, fragt er freundlich, als wäre es das Normalste der Welt. Ich starre ihn an und fange hysterisch an zu lachen. „Das meinst du nicht ernst, was verstehst du denn davon?“

„Meine Freundin, also die Frau, die seit einem Jahr meine Freundin ist, die hat das auch. Manchmal ganz schön peinlich, oder?“

Ich kann gar nicht wieder aufhören zu lachen, es ist, als würde die Spannung aus den vergangenen Tagen sich plötzlich Bahn brechen. Er sitzt vor mir und lächelt mich freundlich an, als sei das alles das Normalste der Welt.

„Deine jetzige Freundin?“, japse ich, und schon sind wir in einem intensiven Gespräch darüber, dass er vieles besser hinbekommt seit seiner Weltreise von vor sechs Jahren. Er sei viel entspannter, sehe das meiste nicht mehr so eng. Habe sein Auto abgeschafft, fahre Fahrrad oder car2go, aber die Geschichte mit den Frauen habe sich immer noch nicht richtig eingependelt. „Mit Lore jetzt ist es nett und entspannt“, sagt er. „Wir haben die gleichen Interessen, sie ist auch Hobbyfliegerin wie ich, wir segeln zusammen, das ist alles okay.“ Er macht eine nachdenkliche Pause, seine Augen wandern nach oben, welche Bilder er dort oben wohl sieht?, frage ich mich. Aber ihn frage ich nicht, dies ist keine Therapiestunde. „Sie hat einen erwachsenen Sohn“, sagt er. „Ich verstehe mich gut mit dem.“

Plötzlich erinnere ich mich. Tankred hatte selbst eine Tochter. Die war damals schon in der Pubertät, er hatte nicht viel Kontakt zu ihr und schon gar keinen tiefen emotionalen. „Was macht deine Tochter?“, frage ich vorsichtig.

Er grinst mich an. Der ganze Mann leuchtet, als wäre plötzlich ein Licht angezündet worden. „Die Laureen! Du wirst es nicht glauben, aber ich bin Opa! Sie hat ein Mädchen bekommen, Helga, neuerdings sind ja deutsche Namen wieder in oder die ganz abgedrehten. Helga ist ein Jahr alt, du glaubst es nicht, ich bin wie wild hinter ihr her.“

Während des Essens erzählt Tankred von der Reise, die er Weltreise nennt, auch wenn sie nicht alle Teile der Welt berührt hat. Dann kommt der Zeitpunkt, das Thema des Abends anzuschneiden.

„Ich habe dich um ein Treffen gebeten, weil ich etwas Wichtiges mit dir besprechen möchte, Tankred“, beginne ich. Er setzt sich aufrecht hin und stützt sein Kinn auf seine Faust. Sein Mund verzieht sich zu einem energischen Strich. Was erwartet er?

„Es geht um Anne“, sagt er. „Inzwischen weiß ich Bescheid. Dumme Sache.“

Was soll ich jetzt sagen? Ja, dumme Sache.

„Ich glaube nicht, dass sie ihren Bruder umgebracht hat“, sage ich und registriere, wie er sich nach hinten lehnt. Der offene freundliche Mann wird distanziert. Er schweigt, sieht mich unablässig weiter an.

Ich werde unsicher. Was soll ich jetzt noch sagen? Ich glaube es nicht? Na gut, einige glauben an Gott, andere an Buddha, andere glauben daran, dass tausend Jungfrauen sie im Himmel erwarten, wenn sie ein Selbstmordattentat verübt haben. Tankred ist Polizist, der hat nicht mit Glauben zu tun, für den zählen Fakten.

„Natürlich kann ich nichts beweisen“, sage ich unglücklich. „Aber ich finde es unfair, sie da in der Psychiatrie verrotten zu lassen, ohne dass sie eine Chance bekommt.“

Er rückt seinen Stuhl zurück und legt die Hände vor sich nebeneinander auf den Tisch. Dann nimmt er die Hände wieder weg, rückt den Stuhl ein bisschen vor und beginnt auf den zwei hinteren Stuhlbeinen zu kippeln. Hier kann nicht viel passieren, weil die Wände in der Nische dicht beieinander stehen. Er kann nicht hintenüber fallen. Trotzdem macht es mich nervös.

Grinsend sagt er: „Du hältst nicht viel von Psychiatrie, oder?“

„Das ist nicht das Thema!“, widerspreche ich. „Ein Mord ist geschehen, und Anne hat ein Geständnis abgelegt, aber was, wenn sie es trotzdem nicht war?“

Bedächtig, als handle sich das Ganze um eine rein philosophische Überlegung, führt Tankred aus: „Das hat es immer wieder gegeben, Menschen, die ein Verbrechen gestanden haben, das sie nicht begangen haben.“

„Was?“, frage ich entsetzt. „Warum sollte man das tun?“ Dann fallen mir Zeitungsartikel ein, in denen ich gelesen habe, dass sich bei spektakulären Verbrechen wie Entführung angeblich über hundert „freiwillige Täter“ gemeldet haben. „Das Bedürfnis, in der Zeitung zu stehen? Ist es das?“, frage ich und füge sofort hinzu: „Das trifft auf Anne nicht zu. Die hasst es, im Zentrum von Aufmerksamkeit zu stehen.“

„Es gibt eine Menge Justizirrtümer, die auf falschen Geständnissen beruhen“, beginnt Tankred zu dozieren. „Ein Fall zum Beispiel ist legendär geworden: 1989 wurde die Leiche der fünfzehnjährigen Angela Correa in New York gefunden. Jeffrey Deskovic war ein Mitschüler des Opfers und fiel der Polizei auf, weil er am Tag nach dem Verschwinden des Mädchens zu spät zum Unterricht erschien. Die amerikanischen Kollegen haben ihn wohl ziemlich in die Mangel genommen. Nach einiger Zeit gestand Deskovic schluchzend die Tat. Am Ende des letzten Verhörs lag er eingerollt in Embryonalstellung unter dem Tisch und weinte. Kurz danach widerrief er allerdings sein Geständnis. Die am Körper der Toten sichergestellten DNA-Proben …“

„DNA-Proben?“, unterbreche ich ihn.

„Sperma und Haar“, antwortet er, als müsse ich das eigentlich wissen. „Die stimmten nicht mit Deskovics DNA überein. Trotzdem erhob die Staatsanwaltschaft Anklage. Im Januar 1991 wurde Deskovic wegen Vergewaltigung und Totschlags verurteilt. Im Gefängnis beteuerte er jahrelang seine Unschuld und kämpfte für seine Freiheit.“

„Und war er’s?“, frage ich.

„Ich habe mich mit diesem Fall während meines Studiums intensiv befasst. Also, im Januar 2006 übernahm das Innocence Project in New York den Fall von Jeffrey Deskovic. Es veranlasste, die DNA-Spuren erneut überprüfen zu lassen. Es stellte sich heraus, dass sie mit denen von Steven Cunningham übereinstimmten. Der saß ein, verurteilt für Mord in einem anderen Fall. Im September 2006 wurde Deskovic entlassen, und seine Verurteilung wurde widerrufen. Der wahre Täter, Steven Cunningham, gestand wenig später den Mord an Angela Correa.“

„Wie alt war der Deskovic da?“, frage ich, von plötzlichem Mitgefühl mit diesem Jungen überschwemmt.

„Siebzehn Jahre älter… dreiunddreißig?“

„Was ist aus ihm geworden?“

„Keine Ahnung. Es widerspricht irgendwie dem Gerechtigkeitsgefühl, dass so was geschehen kann, oder?“ Tankred schaut mich mit diesem Lächeln an, das bis in seine Augen reicht. „Aber es geschieht trotzdem. Man geht davon aus, dass bei ungefähr fünfundzwanzig Prozent unschuldig verurteilter Menschen falsche Geständnisse die Verurteilung bewirkt haben.“

„Das ist ja schrecklich!“, rufe ich aus. „Psychisch verwirrte Menschen trauen sich manchmal alles Schlimme zu, aus welchem Grund auch immer. Zeuge eines Verbrechens zu werden, kann leicht zu Überflutung von Schuldgefühlen ganz anderen Ursprungs führen. Da muss die Polizei doch sorgfältig recherchieren. Oder wenigstens ein Staatsanwalt oder ein Richter muss prüfen!“

Tankred ist in seinem Element. Er wiegt den Kopf hin und her und sagt, um wissenschaftliche Sachlichkeit bemüht: „Das sollte man meinen, Kristien, aber Polizisten, Richter und Staatsanwälte sind auch Menschen mit Gefühlen. Forschungsstudien haben gezeigt, dass Geständnisse eine tiefgreifende Auswirkung auf den Ausgang eines Gerichtsverfahrens haben, selbst nach deren Widerrufung durch den Angeklagten. In den Vereinigten Staaten hat eine Archivanalyse ergeben, dass es in einundachtzig Prozent der Fälle, in denen ein falsches Geständnis abgelegt und vor dem Gerichtsverfahren widerrufen wurde, trotzdem am Ende zu einer Verurteilung kam. Die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, jemals ein Verbrechen zu gestehen, das sie nicht begangen haben. Leider haben die letzten beiden Jahrzehnte gezeigt, dass es immer wieder Menschen gibt, die eine Tat gestehen, für die sie nicht verantwortlich sind. Auch in Deutschland.“

Meine Gedanken rattern. Sollte Anne verurteilt werden und aus der Psychiatrie ins Gefängnis kommen, wird der wahre Täter nie entdeckt werden. Da könnte sie, sobald sie wieder klarer ist, ewig beteuern, dass sie es nicht war, niemand wird ihr glauben.

„Bedauerlicherweise“, führt Tankred weiter aus, „gibt es keine Methode, um eindeutig zwischen wahren und falschen Geständnissen unterscheiden zu können. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen im Allgemeinen nur bedingt zwischen wahren und unwahren Aussagen differenzieren können. Polizisten sind da nicht besser.“

„Vielleicht gibt es sogar Leute, die glauben, dass die Polizei es schon entdecken wird, wenn sie etwas gestehen, was nicht der Wahrheit entspricht. Aus welcher Not heraus auch immer.“

„Aber das ist ein tragischer Irrtum. Man hat in einem Versuch festgestellt, dass einundachtzig Prozent der unschuldig an einem Scheinverbrechen Beteiligten auf ihr Schweigerecht verzichten. Auf diesen Verzicht im wirklichen Leben folgt oft eine lange polizeiliche Vernehmung, dem sind nicht alle Menschen gewachsen.“

„Die wollen dann nur, dass es vorbei ist, und gestehen?“

Tankred nickt bestätigend mit dem Kopf. „Das erklärt natürlich alles nicht endgültig, warum unschuldige Menschen letzten Endes gestehen.“ Er stützt die Hände wieder gefaltet auf den Tisch und sagt: „Kristien, nicht jedes Geständnis ist ein falsches Geständnis. Ich verstehe, dass es für dich ein schwerer Schlag ist, dass eine Klientin, die du über viele Jahre begleitet hast, jetzt so ausgetickt ist. Aber so etwas gibt es. Jedem Arzt sterben Patienten weg, die können dann auch nicht sagen, in Wirklichkeit war der gar nicht so krank, das war ein Versehen. Tot ist tot und Mord ist Mord.“ Er sieht mich beschwörend an. „Sie hat ihm Gift verabreicht. Und dann hat sie ein Seil um seinen Penis gelegt und festgezurrt – bis der auch tot war. Vielleicht war die Reihenfolge auch anders herum. So genau weiß ich es nicht.“ Er schaut mich beschwörend an. „Ich stehe mit einem Bein im Gefängnis, Kristien. Was ich gerade tue, ist kriminell. Erstens habe ich einen Freund in Kiel ausgequetscht, und nun gebe ich dir hier ein Dienstgeheimnis preis. Kein Wort dazu zu niemandem!“

Ich schlucke. Will ich, dass Tankred sich so in Gefahr begibt? Für Anne oder für mich? Wenn Anne so etwas getan hat, muss sie eine entsetzliche Wut auf ihren Bruder gehabt haben. „Und wenn sie es nicht war?“, frage ich. Meine Stimme hört sich klein und mädchenhaft an, nicht wie die einer erwachsenen Frau.

Tankred bedenkt mich mit einem forschenden Blick.

„Du kannst es dir nicht vorstellen, oder?,“ fragt er freundlich. „Weißt du, es gibt nur sehr wenige Täter, über den alle, die ihn kennen, sagen: Ach, das habe ich mir gleich gedacht, so ist der immer schon gewesen. In den meisten Fällen ist es anders. Die schrecklichsten Verbrechen werden von netten, freundlichen, unauffälligen Menschen begangen, und hinterher kann es keiner fassen.“

Ich schrumpfe unter seinem Blick. Warum weigere ich mich zu glauben, dass Anne ihn umgebracht hat? Sie hatte nicht nur ein Motiv, ihn zu hassen, sie hatte auch ein Motiv, seinen Schwanz zu hassen.

Tankred sieht mich liebevoll an. „Sie hat die Tat gestanden, Kristien.“

„Tankred“, beginne ich erneut, und ich fühle mich auf einem so verlorenen Posten, wie es wohl die Eisbären in der Arktis tun, die ich in einem Film gesehen habe. Sie haben keine Chance. Die Kamera hat in diese verzweifelten Augen geblickt, und es hat mir das Herz gewürgt. Habe ich jetzt so verzweifelte Augen? Zumindest sehe ich Mitgefühl bei Tankred.

„Bitte stell dir einmal vor, Anne wäre unschuldig. Oder besser noch: Stell dir vor, dass jemand verurteilt wird, der dir seine tiefste verletzte Seele offenbart hat. Du glaubst an diesen Menschen, und ihm wird fälschlich ein Mord untergeschoben. Dieser junge Typ damals in New York. Hatte der niemanden, der an ihn geglaubt hat? Hat sich keiner die Mühe gemacht, für ihn zu kämpfen? Was würdest du tun?“, frage ich.

Tankreds Hand bewegt sich kurz auf die meine zu, dann gleitet sie wieder an ihren Platz zurück. Ich habe meine Hand unwillkürlich zurückgezogen, lege sie nun in meinen Schoß.

Händchenhalten wäre zu viel. Das passt nicht.

Er räuspert sich. Ich erinnere mich wieder. Er hat sich immer geräuspert, wenn ihm etwas nahegegangen ist. „Tja, das ist eine schwierige Frage. Mit vielen Wenns und Unbekannten. Ich weiß nicht, wie das wäre, weil sich mir, glaube ich, niemand so anvertraut. Nicht mal meine Tochter. Vielleicht die eine oder andere Frau für eine Weile. Aber das ist etwas anderes, glaube ich. Die haben sich dann in mich verliebt, für die bin ich eine Weile lang der Prinz auf dem Schimmel in goldener Rüstung, der sie in das lang ersehnte Paradies entführt, nein, nicht entführt, heimholt. Ich bin für die Frauen eine Weile lang der Nachhauseholer.“ Er trinkt einen Schluck Wein, blickt in die Ferne. „Das kann ja nicht gut gehen.“ Er lacht trocken auf.

Er schweigt, und ich hüte mich, etwas zu sagen. „Nein, Kristien“, sagt er schließlich und blickt mir gerade und aufrichtig ins Gesicht. „Ich fürchte, ich kenne das nicht, was du gesagt hast. Auch nicht von meiner Tochter. Aber da käme das vielleicht noch am nächsten. Wenn mir jemand erzählen würde, sie hätte einen Mord begangen und den auch gestanden, würde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Licht ins Dunkel zu bringen. Das würde ich nicht auf sich beruhen lassen.“ Nun greift er doch nach meiner Hand, die inzwischen wieder auf dem Tisch gelandet ist. „Anne ist aber nicht deine Tochter“, sagt er sanft. Ich nicke. Und entziehe ihm meine Hand.

„Warum musst du sie unbedingt retten?“, fragt er und schiebt hinterher: „Hältst du es vielleicht nicht aus, dass jemand, der für dich ein Opfer ist, nun zu einem Täter geworden ist?“

Ich überlege. Halte ich das nicht aus? Nein, mit der sogenannten Opfer-Täter-Spirale habe ich ständig zu tun. Besonders in Paarbeziehungen. Der eine verletzt den andern, der schlägt zurück, und am Schluss ist es ein reines Kuddelmuddel aus Opfer und Täter, die beide von mir wollen, dass ich den anderen richte. Erst wenn jeder die eigene Täterschaft anerkennt, ist es möglich, über Verzeihen und die Wiederbelebung einer von beiden fast erwürgten Beziehung zu sprechen.

Das hier ist etwas anderes! Ich versuche, mich Tankred zu erklären: „Weißt du, viele sagen, wenn sie hören, dass ich Psychotherapeutin bin, das es bestimmt schwer ist, immer dieses Elend der Patienten anzuhören. Das nimmt man doch bestimmt mit nach Hause. Und dann reagiere ich meistens genervt. Ich entgegne: Nein, die, die zu mir kommen, das sind die besten. Zeige um mich herum und sage: Die da hinter den Fenstern haben doch alle ihre neurotischen Probleme und ihre kaputten Beziehungen, aber die sprechen nicht drüber, haben sich eingerichtet, tun so, als wäre alles in Ordnung. Die, die zu mir kommen, wollen Wachstum, Veränderung, Heilung. Die machen mir Mut.“ Ich lächle in Tankreds wachsame Augen hinein. „Du zum Beispiel, das war doch wundervoll, deinen Weg begleiten zu dürfen …“

Er nickt. „Aber das ist nicht das, worauf du hinaus willst.“

Ich fühle mich ertappt. Ja, es ist leichter, über Fälle wie ihn zu sprechen, die der Grund dafür sind, dass ich meinen Beruf für den Schönsten der Welt halte. Ich liebe es, Menschen dabei zu helfen, neue Bahnen in ihr Gehirn zu graben. Das fällt manchen schwerer als anderen, und viele bringen eine schmerzliche Geschichte mit.

Die Therapie von Anne hingegen war ganz anders. Nicht einmal in der kollegialen Supervision wagte ich darüber schonungslos zu sprechen. Das mochte ich meinen Kolleginnen nicht antun. Einmal bin ich zu meinem Ausbilder gegangen. Er war der einzige, dem ich Annes Geschichte zumuten mochte. Ich brauchte einen Raum, in dem ich darüber weinen konnte, was diesem Mädchen im Alter von vier bis vierzehn Jahren angetan worden war. Robert, mein Trainer, ließ mich nicht zu Ende reden. Er unterbrach mich, bevor ich weinen konnte, und sagte: „Du bist eine professionelle Therapeutin, du verstehst dein Geschäft. Eins ist doch klar: Du musst diesen Vater in die Praxis für ein Gespräch mit der Tochter einladen.“ Ich geriet in Panik. Stammelnd brachte ich alle möglichen Einwände hervor. Er entgegnete: „Ich habe mal einen Mörder eingeladen, das ist mir auch nicht leicht gefallen. Aber es muss nun einmal sein.“

Tankred legt seine Hand wieder leicht auf die meine. „Kristien?“ Er sieht mich fragend an. Mein Gott, ich bin völlig in meinen Gedanken verschwunden. Wie peinlich! Aber was soll ich Tankred sagen? Ich habe Schweigepflicht. Ebenso wie er, denke ich schuldbewusst.

„Wie ich Therapie mache“, versuche ich zu erklären, „das ist nicht distanziert wie bei Analytikern – nichts gegen Analytiker –, aber ich verbinde mich. Und Anne kommt seit fast fünfzehn Jahren zu mir, sie war damals Anfang dreißig. Es geht nicht, dass ich sie jetzt fallen lasse. Sie ist einfach keine Mörderin.“ Meine Stimme klingt verzweifelt. Darf mir das so nahe gehen? Ich muss unbedingt bald meine Supervisionsgruppe besuchen. Das ist nicht nur eine polizeiliche Geschichte, das hat auch etwas mit mir zu tun. Plötzlich muss ich lachen. „Weißt du was, ich kann mir sogar vorstellen, dass Anne aus Wut jemanden umbringen könnte. Ihren Vater zum Beispiel, aber vor dem hat sie zu viel Angst, oder meinetwegen ihren Bruder, aber dann würde sie ihn vors Schienbein treten und dabei würde er auf den Hinterkopf fallen, und sie würde nochmal nachtreten, und dann aber völlig erschrocken sein, wenn er sich nicht mehr rührt. Dann würde sie die Feuerwehr rufen und ihn ins Krankenhaus begleiten. Und entsetzliche Schuldgefühle haben und der Polizei bestimmt auch sagen, dass sie es war. Aber diese Tat scheint doch geplant zu sein, und dann plötzlich hat sie einen psychotischen Schub bekommen? Das passt nicht! Das passt nicht zu Anne!“

Tankred fängt wieder an, auf den hinteren Stuhlbeinen zu kippeln.

„Was willst du von mir?“, fragt er schließlich, stellt seinen Stuhl mit einem kleinen Knall ab und schaut mich hart an. Ich merke, wie ich rot werde. Jetzt bitte keinen Schweißausbruch, flehe ich, aber da geht es auch schon los.

„Reden, Tankred“, sage ich hilflos. „Hilfe. Irgendwie Hilfe. Ich möchte mit ihr reden. Ich komme ja gar nicht an sie ran. Beim verantwortlichen Kommissariat in Kiel wurde ich eiskalt abgewimmelt, Oberüber, heißt der Polizist, glaube ich.“ Ich empfinde plötzlich einen irren Lachreiz. „Ihr Arzt heißt Kaiser, ihr Kommissar Oberüber, wie wird wohl der Staatsanwalt heißen? Papst?“

Der Kellner erscheint, fragt, ob wir noch etwas möchten. Nein, die Rechnung. Vielleicht einen Grappa. Tankred ist einverstanden. Anscheinend nimmt ihn das Ganze auch mit. Ich weiß, dass er sonst keinen hochprozentigen Alkohol trinkt.

Wir stoßen an, und es tut mir gut, die Schärfe in meiner Brust zu spüren. Es ist wie eine Erinnerung an etwas, das da ist, auch wenn alles andere verschwimmt. Klar und scharf: Mein Herz. Mein Leben.

Mit dieser Schärfe versuche ich jetzt, in Worte zu fassen, worum es mir geht: „Ich möchte Anne sehen. Ich möchte mit ihr reden. Ich möchte mir selbst einen Eindruck verschaffen. Ich möchte, dass sie eine Anwältin bekommt, eine Anwältin“, wiederhole ich mit Nachdruck, „die sie verstehen kann und die sie nicht sofort aufgibt.“

„Kennst du nicht vielleicht eine Anwältin, die dazu bereit wäre?“, fragt Tankred. „Aus dem Weißen Ring, oder so?“

Auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen. Das wäre eine Möglichkeit.

„Kannst du mir Zugang zu ihr verschaffen?“, frage ich ihn direkt.

Ebenso direkt antwortet er: „Nein, ich bin in Hamburg. Kiel, das ist Schleswig-Holstein, nicht mein Land. Die lassen mich nicht mal in die Akten gucken.“ Er sieht mich prüfend an, denkt nach, und ich sehe, dass er überlegt, ob er das überhaupt sagen darf. „Ich habe Anne aus dieser Visionsgruppe damals in Erinnerung. Ich fand sie besonders. Sehr direkt. Manchmal aggressiv, wenn sie sich angegriffen fühlte. Mit einem unglaublich scharfen Blick auf die Teilnehmer, auch auf mich. Sie hat mich mit mancher Bemerkung getroffen. Aber …“ Er hält inne. „Nein, wie ich sie in Erinnerung habe, ist sie kein Typ, die hinterrücks einen Mord plant und dann austickt.“ Er überlegt wieder kurz und fügt dann hinzu: „Aber weißt du, ich habe schon andere widersinnige Morde erlebt, Täter, bei denen man das nie und nimmer vermuten würde. Zu guter Letzt geht es um den Beweis, nicht um die Annahme.“

Der Kellner kommt mit der Rechnung, und ich bestehe darauf zu zahlen. Das hier war meine Veranstaltung.

Wir stehen auf und verlassen das Restaurant. Draußen reiche ich Tankred die Hand, aber im Nu bin ich von zwei langen Armen umschlossen und an eine breite Brust gedrückt. Graue Augen lächeln mich an.

„Ich glaube auch nicht, dass sie es war“, sagt er.

Mörderische Familie

Подняться наверх