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2. DEZEMBER

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In meinen Traum dringt das Geräusch meines Handys. Bevor ich drangehe, verstummt es. Ich schaue auf den Wecker. Zehn vor neun. Himmel! Der Schreck fährt mir in den Bauch. Ich springe aus dem Bett, Tankred hat mich angerufen. Schnell drücke ich auf die Rückruftaste, und er ist auch sofort dran.

„Vielen Dank, dass du mich geweckt hast“, sage ich, „das war höchste Eisenbahn, aber jetzt habe ich leider sehr wenig Zeit. Geht es um etwas Wichtiges?“

Er lacht amüsiert. „Ich habe dich geweckt? Therapeut hätte ich werden sollen.“

„Sorry“, fügt er schnell hinterher, „ich wollte dich nicht kritisieren. Nur ganz kurz, Kristien. Mir ist das mit Anne durch den Kopf gegangen. Erinnerst du dich noch an Mark Bernstein?“

Ich suche in meinem Kopf nach dem Namen. Aber da ist es leer. Ich sage nichts und warte. „Hm“, ertönt es auf der anderen Leitung, „ich stelle mir jetzt einfach mal vor, dass du mit dem Kopf schüttelst oder nickst, wie es Kinder tun, wenn sie telefonieren. Aber du bist doch schon groß!“ Wieder lacht er. Wieder kann ich ihn nicht komisch finden.

„Worum geht es, Tankred? Entschuldige tausendmal, dass ich grad nicht in Plauderlaune bin, aber ich muss gleich einen Hundespaziergang machen, einen Tee würde ich auch noch gern trinken, und dann hab ich Therapie.“

„Okay.“ Er spricht in Lichtgeschwindigkeit. „Also, Mark ist damals zu dir gekommen, weil ich dich ihm empfohlen habe. Müsstest du eigentlich erinnern, weil er ein markanter Typ ist. Du hast seine Ehe gerettet, aber meiner Meinung nach nicht ihn. Sag jetzt nichts! Also, der arme Kerl ist in Frühpension gegangen, weil seine Arbeit in der Mordkommission seine Ehe ruiniert hat. Und seitdem langweilt der sich so sehr, dass er sämtliche Rentnersportarten ausprobiert: Tennis, Segeln, Golf … Er sagt, es bleibt immer die Frage, und was machst du danach? Reisen? Und was machst du danach? Er ist nicht so ein Typ, der Freizeit für den Lebenssinn hält. Und die Beziehung … naja, so richtig viel besser scheint es auch nicht geworden zu sein … Hörst du noch zu?“

Ich schlucke meinen Groll hinunter. Während Tankred geredet hat, habe ich Wasser aufgestellt und auch schon Tee aufgegossen. Ohne grünen Tee am Morgen kann man mich vergessen. Mein Blutdruck ist so niedrig, dass ich eigentlich einen starken Kaffee bräuchte. Aber den trinke ich ja nicht mehr.

„Ja“, sage ich, während ich den ersten Schluck schlürfe. „Aber kurz fassen, heißt nicht, lang in Geschwindigkeit zu sprechen, sondern es bedeutet, sich auf das Wesentliche der Information zu beschränken.“

Er lacht wieder, und ich merke, dass ich diese heisere Lache mag. Ich merke, und das liegt wahrscheinlich am grünen Tee, dass ich überhaupt diesen Mann mag. Ich mochte ihn schon immer. Es gibt einfach Klienten, die man mag.

„Danke. Also, ich versuche, mich auf die Botschaft zu konzentrieren. Die lautet: Mark ist versessen darauf, dir mit Anne zu helfen. Er war sofort überzeugt davon, dass Anne es nicht war, und er hat auch gleich abenteuerliche Konstruktionen entworfen, die ich dir jetzt ersparen will, wer es warum in Wirklichkeit gewesen ist. Hinzukommt, das solltet du vielleicht noch wissen, er kann den Oberüber auf den Teufel nicht ausstehen und würde ihm zu gern eins auswischen. Irgendeine alte Geschichte, Jahrzehnte her. Also, Kristien, Mark ist dein Mann. Hast du noch seine Telefonnummer? Obwohl, such nicht, ich vermute, so angefixt wie der war, der ruft dich bestimmt noch am Vormittag an. Vielleicht schläft der ja sogar bis neun. Also, ich sag dir: Neun Uhr und dein Telefon klingelt. So, werte Frau Doktor. Das war’s. Könntest du dich jetzt bitte wenigstens bedanken?“

Meine Teetasse ist halbleer. Ich habe sehr viel bessere Laune.

„Ich danke dir von Herzen“, beteuere ich gefühlvoll, „dass du mich geweckt hast, sonst hätte es nämlich eine mittlere Katastrophe gegeben, und dass du hinter meinem Rücken einen ehemaligen Klienten von mir aktiviert hast, in meinem Interesse seine Ehe zu gefährden, naja, er ist nicht mehr mein Klient, auf jeden Fall: Danke schön!“

„Angenommen!“, sagt er und ich sehe sein Lächeln vor mir, etwas spöttisch und sehr freundlich.

Wir legen beide gleichzeitig auf.

Da klingelt mein Handy wieder. Ich gucke auf die Zeit. Es ist genau neun Uhr. Die Nummer kenne ich nicht. Sollte Tankred recht gehabt haben?

„Blau.“ Ich lächle Rocco beruhigend zu. Gleich gehen wir raus.

„Hi, Kristien, hier ist Mark Bernstein …“ Mir schlägt eine so geballte Ladung kräftiger Energie und guter Laune durch den Hörer entgegen, dass ich ihn instinktiv etwas von meinem Ohr entferne.

„Hallo, Mark“, sage ich zögernd und versuche mich krampfhaft zu erinnern, ob wir uns damals geduzt oder gesiezt haben. Üblicherweise sieze ich meine Klienten, aber in Gruppen wird geduzt, und manche Menschen bitten mich, dass wir uns duzen, denen fällt es leichter, in ihre seelischen Tiefen zu tauchen, wenn das Du eine gewisse Vertrautheit herstellt.

Da sagt Mark Bernstein nach einer kurzen ungemütlichen Pause: „Haben wir uns eigentlich geduzt oder gesiezt? Ich erinnere es beim besten Willen nicht mehr. Bea wüsste es bestimmt, aber ich wollte nicht mit ihr sprechen, bevor ich dich äh Sie …“

Ich lächle vor mich hin. Vor meinem inneren Auge taucht Mark Bernstein auf: ein kraftvoller Endfünfziger, mittelgroß, kompakt, sehr kurze graue Haare, die in einem auffallenden Gegensatz zu den fast schwarzen Augenbrauen über sanften braunen Augen stehen. Ich erinnere diese Augen nur mit einem sanften Ausdruck. Wenn Mark Bernstein zornig wurde, waren sie sogar besonders sanft, ebenso wie seine Stimme, die dann leiser wurde, der ganze Mann eine einzige Zurücknahme eines aggressiven Gefühlsausdrucks.

Lächelnd sage ich: „Ehrlich gesagt, ich erinnere mich auch nicht mehr. Womit fühlen Sie sich denn am wohlsten im Kontakt mit mir?“

Ich höre, wie er Luft zwischen den Zähnen einsaugt und erinnere mich auch daran. Das war eine Marotte von ihm. Wenn er überrascht war, sog er Luft zwischen den Zähnen ein, manchmal mehrfach hintereinander, sodass sich ein Geräusch wie von einem Vogel ergab. Seine Stimme klingt etwas kühler, als er jetzt sagt: „Tankred meinte, Sie wären in einer Klemme. Ich dachte, ich könnte vielleicht helfen.“ Okay. Ich habe ihn mit meiner Frage verärgert. Es sollte hier ja nicht um sein Wohlbefinden gehen, sondern um meines.

„Das ist großartig. Ich bin froh darüber“, rufe ich enthusiastisch aus. „Können wir uns vielleicht heute irgendwo treffen?“

„Wann?“ Knappe Frage.

„Mittags im Pergola in Eimsbüttel?“, wage ich vorzuschlagen. Mark weiß ja nicht, wie einfallslos ich bin. Er stimmt sofort zu. Ein Uhr La Pergola.

Was genau will ich von ihm?, frage ich mich, als ich um halb eins mit Rocco an der Leine die Osterstraße entlanggehe, um auch heute wieder etwas vor meiner Verabredung dort einzutreffen. Ich kann mir die Frage nicht genau beantworten. Ich brauche jemanden, mit dem ich möglichst unvoreingenommen über die ganze Situation sprechen kann, jemand, der Ahnung hat von solchen Sachen. Solche Sachen? Von Mord und Verbrechen.

Wovon er Ahnung hat, zeigt er mir zwei Minuten später. Und zwar davon, das Heft in der Hand zu behalten. Ich betrete das Restaurant, der Kellner begrüßt mich freundschaftlich und raunt dann: „Der Herr ist schon da!“ Ich blicke ihn erstaunt an. Das kann nicht mich betreffen. Eine Ameisenherde rennt meine Wirbelsäule rauf und runter. Max hat sich hier mit einer Frau verabredet, und jetzt denkt der Kellner, er warte auf mich. Ich erwäge zu fliehen, aber dann beiße ich die Zähne zusammen und marschiere auf den abgeschiedenen hinteren Raum zu. Ich muss entsetzlich aussehen! Ich spüre förmlich die roten Flecken auf meinem Gesicht. Als ich das Séparée betrete, blicke ich in die sanften braunen Augen von Mark. In mir stürzt ein großer Turm aus Angst unter lautlosem Getöse in sich zusammen.

Mark ist aufgestanden. Er trägt ein schneeweißes, perfekt gebügeltes Hemd, die oberen beiden Knöpfe sind geöffnet, darunter ein schwarzes T-Shirt. Dazu eine perfekt sitzende Jeans, der schwarze Ledergürtel ist schlicht, keine einzige glänzende Silberschnalle, auch sonst kein Schmuck. Nicht einmal ein Ehering. Und kein Ansatz eines Bäuchleins. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch, dessen Seiten zerknickt und eingerissen sind. „Der Malteser Falke“ steht auf dem zerschlissenen Einband, wie ich mit einem schnellen Seitenblick bemerke.

Er sieht mich besorgt an. „Geht es dir nicht gut, Kristien?“

Oh Gott, ich muss entsetzlich aussehen!

Ich lächle mühsam, lasse mir von ihm meinen Parka abnehmen, pelle mich aus Handschuhen, Mütze, Schal, befehle Rocco sich niederzulassen und tue gleiches. „Da haben wir die Sache mit dem Du jetzt wenigstens geklärt“, sage ich angestrengt scherzhaft. Mark sieht mich weiterhin besorgt an.

Immer authentisch sein, Kristien, denke ich grimmig. „Um es genau zu sagen, geht es mir beschissen. Gerade habe ich befürchtet, dass mein Mann hier vielleicht sitzen und auf eine andere Frau warten könnte. Wie hast du es hingekriegt, dass der Kellner wusste, dass du mit mir verabredet bist?“

„Ich habe dich beschrieben.“

„Wie bitte, du hast mich seit … wie vielen Jahren nicht mehr gesehen, und von mir ist unter all dem“, ich weise auf den auf dem Stuhl neben mir liegenden Haufen aus Kleidung, „kaum noch etwas zu erkennen.“

„Ich habe Tankred gefragt, und er hat dich beschrieben“, gibt Mark knapp Auskunft, „einschließlich des Hundes. Das ist ein signifikantes Merkmal.“

Ich schüttle verständnislos den Kopf. „Moment. Du hast dich vor unserem Treffen bei Tankred nach meinem Aussehen erkundigt, bist extra rechtzeitig hierhergekommen, um den Platz auszusuchen, der dir am sinnvollsten erschien, und hast dem Kellner beschrieben, auf wen du wartest?“

„Halb richtig“, antwortet Mark seelenruhig. „Ich habe Tankred nicht nur nach deinem Aussehen befragt, sondern auch nach dem besten Platz in dieser Location für ein ungestörtes Gespräch. Es bietet sich nicht unbedingt an, ein Gespräch über ein Tötungsdelikt und deinen Anteil als Psychotherapeutin zu führen, wenn die Eimsbüttler Senioren oder Rechtsanwälte der Osterstraße, da kenne ich sogar einige, an den Nebentischen sitzen.“

„Und dann hast du einen Tisch bestellt?“

„Nein, ich habe einen auf deinen Namen bestellt. Ich wollte sichergehen. Hättest du es schon getan, wäre mir das gesagt worden, hättest du es später getan, wäre es dir gesagt worden. So konnte es keine Irritationen geben.“

„Du hast an alles gedacht.“

Er grinst und sagt sanft: „So bin ich.“

Unwillkürlich muss ich auf seinen Mund blicken. Ein fein geschwungener, fast weiblich schöner Mund mit spitzen Mondbögen, die Oberlippe voller als die Unterlippe, was die Schönheit stört, aber den Reiz erhöht.

Der Kellner erscheint. Heute gibt es Mittagstisch, fast halb so teuer wie am Abend. Mark schlägt nicht einmal die Speisekarte auf, als er Kaninchen mit Rotkohl wählt, auch das hat er offenbar schon genau eruiert.

„Ich glaube, du warst ein richtig guter Polizist“, sage ich anerkennend.

„Du meinst, weil ich alles unter Kontrolle habe? Bea hasst das, und soweit ich mich erinnere, hast du mir eine Art Zwangsstörung attestiert.“

„Vielleicht brauchen gute Ermittler so etwas“, überlege ich laut. „Es sind ja wohl die Kleinigkeiten, die zu guter Letzt ein Puzzle ergeben, das den Täter aus dem Nebel ins Licht holt.“

Er schüttelt amüsiert den Kopf. „Du hast zu viel Tatort geguckt. Nein, die meisten Tötungsdelikte werden aufgeklärt, weil es Beziehungstaten sind. Oder sie werden nach Jahren durch Zufall aufgeklärt, oder der Täter war so kopflos, dass er eindeutige Indizien am Tatort zurückgelassen hat. Tankreds Arbeit mit den Banden ist kniffliger, die sind oft raffinierter, da geht es um mehr. Bei der Mordkommission ist das Schwerste, den Anblick der Opfer auszuhalten und den Schmerz der Hinterbliebenen.“ Er versinkt kurz in Nachdenken und fügt dann hinzu: „Naja, manchmal entwickelst du so was wie ein Tier, das eine Fährte aufgenommen hat. Dann musst du hinterher. Wie ein Wolfcop. Wer mich da an die Leine nehmen wollte, musste sich anstrengen.“

Ich denke an Bea. Die war gescheitert. Nur mit meiner Unterstützung und mit der massiven Androhung einer Scheidung ist es ihr zuletzt gelungen, ihn an die Leine zu nehmen. Wie schrecklich, denke ich. Vorsichtig frage ich: „Geht es dir jetzt gut als Pensionär? Ist deine Ehe gerettet?“

Er wirft mir einen Blick zu, der die Sanftmut in seinen Augen kurz zersplittern lässt und dahinter ein ausgehungertes Raubtier zu erkennen gibt. „Nein,“ sagt er kurz angebunden, „mir geht es nicht gut, sofern man anödende Langeweile nicht als Ausdruck kreativer Energie interpretiert. Und meine Ehe ist für einen Hausverwalter das größte, was man sich vorstellen kann, vorausgesetzt, man ist zum Hausverwalter geboren. Und Gärtner. Und Golfer. Und sie reist auch gern. Naja, interessanterweise ist Bea dem Ruf ihrer Kreativität gefolgt und arbeitet neuerdings als Komparsin am Thalia Theater. Nur dreimal die Woche, zähneknirschend. Mir zuliebe, also unserer Ehe zuliebe. Weil ich ja zu Hause sitze und Däumchen drehe und sehnsüchtig auf ihr Heimkommen warte.“ Er räuspert sich, faltet seine Hände, selbst jetzt im Winter leicht gebräunte, sehr gepflegte und elegante Hände. Als er den Blick von seinen Händen hebt, ist der wieder sanft. „Ich nehme es dir nicht übel“, sagt er. „Jeder macht mal Fehler.“

Er sieht mir gerade in die Augen und fügt hinzu: „Ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Meine Arbeit fehlt mir entsetzlich. Und sollte der Fall deiner Klientin auch nur annähernd so interessant sein, wie Tankred ihn mir dargestellt hat, stehe ich dir als Privatdetektiv ohne Lizenz und Honorarforderung zur Verfügung, quasi als freundschaftlicher Berater.“

Um seine Augen bildet sich ein feines Gespinst aus Lachfalten. Der spöttisch lächelnde Mund und die Fältchen um die Augen können die Schärfe seines Blicks höchstens mildern. Dieser Mann prüft mich gerade, und zwar nicht als Therapeutin, sondern als eine Frau, die eine geständige verrückte Mörderin der Lüge überführen will. Diesen Blick habe ich bei ihm noch nie gesehen.

„Dir ist klar“, sagt er da auch schon, „dass du Anne nur rauspauken kannst, wenn du der Polizei den wirklichen Täter präsentierst. Auf dem Tablett, und ich kann dir raten, bei dem Oberüber sollte das Tablett besser golden sein.“

Ich erinnere mich daran, was Tankred gesagt hat. Er kann den Oberüber nicht leiden. „Kennst du den Kommissar gut?“, erkundige ich mich.

Inzwischen, ohne dass ich es bewusst wahrgenommen hätte, haben wir je ein Glas Weißwein geleert, da kommt auch schon das Gericht. Der Unmut, der sich bei meiner Frage auf Marks Gesicht gelegt hatte, löst sich im Nullkommanichts auf. Kaum hat er das Fleisch vom Knochen gelöst und sich in den Mund geschoben, sagt er kauend: „Ja, das ist eine verrückte Koinzidenz. Zufall oder Schicksal ist doch immer wieder die Frage. Eigentlich dürfte ich Oberüber nicht kennen, er arbeitet nicht nur an einer anderen Dienststelle, sondern auch noch in einem anderen Bundesland. Polizei ist Ländersache. Wir haben nichts miteinander zu tun. Aber Oberüber hat früher in Hamburg gewohnt und ist zufällig ein Freund meines Nachfolgers. Als ich den eingearbeitet habe, hat er mir ständig mitgeteilt, dass Oberüber das alles besser mache als ich.“

„Ehrlich gesagt“, gestehe ich, „es macht mir etwas Angst, wenn du das so sagst. Wie soll ich den wirklichen Mörder finden? Außerdem weiß ich doch gar nicht, ob Anne es nicht vielleicht wirklich war. Ich fühle mich nur verpflichtet, ihr zur Seite zu stehen. Und dann gibt es Ungereimtheiten, die mich an ihrer Schuld zweifeln lassen.“

„Verstehe ich. Mir macht es auch etwas Angst, aber das Gute ist: Wenn wir scheitern, bleibe ich Pensionär wie vorher und du Psychotherapeutin, und wenn wir Erfolg haben, auch. Der Einsatz ist für uns relativ gering. Kein Chef, der von uns verlangt, Ergebnisse zu bringen, keine Zeitungen, die uns verreißen, wenn wir auf Kosten der Steuerzahler einem Mörder hinterher hecheln. Es ist ein bisschen wie Zeitvertreib.“

Zeitvertreib? Ich verziehe meinen Mund zu einem schiefen Grinsen. Ich kann mir Besseres vorstellen. Wieder sieht er mich gerade und prüfend an. „Mit deiner Ehe ist es nicht zum besten bestellt, oder?“

Ich starre ihn an. Mir wird heiß. Bevor ich den Mund öffnen kann, um ihn zu fragen, wie er auf diesen Schwachsinn kommt, sagt er ruhig: „Polizist sein legt man nicht einfach ab, Kristien. Ich vermute, auch wenn du nicht in deiner Praxis bist, analysierst du trotzdem Paare, die du irgendwo siehst, im Café oder auf der Straße. Und du hast anfangs gesagt, dein Mann könne hier mit einer anderen Frau verabredet sein. Außerdem fällt auf, dass du ihn kein weiteres Mal erwähnt hast, üblicherweise sagen Frauen irgendwann: Mein Mann meint … Außerdem wirkst du auf mich nicht wie eine geliebte Frau. Kann dir nicht sagen, woran ich das merke, irgendwie verströmen Frauen, die sexuell befriedigt sind, einen speziellen Duft, und sie strahlen auch so eine satte Ruhe aus, du wirkst irgendwie getrieben. Aber nicht, weil du jetzt zu deiner Arbeit noch eine Aufgabe dazu bekommst und fürchtest, dein Mann würde sich vernachlässigt fühlen, sondern mehr, weil du vom ganzen Leben schon überfordert bist.“

„Das war eine lange Rede“, konstatiere ich trocken. „Du solltest eine Zusatzausbildung machen und Therapeut werden. Kriminologischer Therapeut.“ Ich schnaube bitter.

„Siehst du“, sagt er. „Ich hatte recht.“

„Ja“, antworte ich genervt. „Du hattest recht.“

Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. „Ich habe gerade wahnsinnige Eheprobleme. Wie geht es jetzt mit uns weiter?“

Wieder sieht Mark mich mit diesem Blick an, der sanft und warm und irgendwie liebevoll wirkt. „Wenn du Anne wirklich retten willst, hast du mit mir den Glücksgriff getan, liebe Kristien. Ich werde jetzt nach Hause gehen und einen Plan schmieden, und morgen gucken wir, wie wir den umsetzen können. Ich kenne eine Menge Leute, das wäre doch gelacht …“

Entsetzt unterbreche ich ihn. „Morgen? Ich habe noch ein Leben, hast du das vergessen? Ich arbeite, habe einen Hund, Freunde, esse. Freitag habe ich Tankred getroffen. Heute dich. Das ist ja wie eine Ganztagsbeschäftigung.“

„Siehst du“, sagt er zufrieden. „Du hast nicht deinen Mann erwähnt. Ja, werte Frau Therapeutin, einen Mörder überführt man nicht, indem man einmal im Monat zum Hobbykurs geht: Mörder suchen, Scotland Yard ermittelt.“

Er besteht darauf, zu bezahlen und mir in den Parka zu helfen. Ich setze die Mütze auf, wickel den Schal dreimal um meinen Hals und habe das Gefühl, dass mir gleich der Kopf platzen wird.

Vor dem Restaurant schlägt er vor, mich nach Hause zu begleiten.

„Nein“, wehre ich ab, „ich mache jetzt einen Hundespaziergang.“

„Ich könnte mitkommen, dann können wir uns noch unterhalten.“

Mein Gott, ist dieser Mann von seinem Leben angeödet und greift nach jeder Abwechslung, denke ich und höre mich mit harter Stimme sagen: „Nein, ich möchte jetzt allein sein. Unser Gespräch hat mich ziemlich durcheinandergebracht. Ich brauche jetzt Ruhe.“

„Achje.“ Nur das. Jetzt bist du schon überfordert, sagt dieses Achje. Und auch: Wie tief bin ich gesunken, dass ich mit so einer Nudel wie dir auf Mördersuche gehen will.

Trotzdem bleibe ich bei meinem Entschluss. Ich reiche ihm die Hand. „Danke, dass du gekommen bist, Mark. Ich glaube, ich habe jetzt ein etwas klareres Bild davon, was auf mich zukommt, falls ich mich in diesen Fall irgendwie einmische. Ich werde darüber nachdenken, wozu ich bereit bin.“

„Hast du gehört?“, fragt Mark. Ich schüttle irritiert den Kopf. „Du hast Fall gesagt, wie ein richtiger Kriminaler.“ Beschwörend setzt er hinterher: „Kristien, du kannst nicht erst die Pferde scheu machen und dann so tun, als wär alles für dich nur ein Spiel gewesen. Ätsch kiss kiss, vielleicht morgen mal, wenn ich weniger Arbeit und bessere Laune habe, aber heute passt es gerade nicht.“

„Ciao, Mark!“, sage ich. „Ich rufe dich an.“

Zum Glück habe ich am Nachmittag drei Stunden Therapie und am Abend noch einmal zwei. Um einundzwanzig Uhr ist mein Praxistag beendet, und ich stelle erschöpft und beglückt fest, dass ich fünf Stunden lang nicht an Anne und auch nicht an Max gedacht habe. Während des nächtlichen Hundespaziergangs durch ein wie ausgestorben wirkendes, vor Kälte klirrendes Eimsbüttel stürzen die Gedanken allerdings wieder auf mich ein. Ich muss mich entscheiden. Will ich gewissermaßen als Marks Assistentin kriminalistisch tätig werden? Ist es wirklich das, was ich wollte, als ich Tankred angerufen habe? Im Grunde wollte ich nur Anne sehen, mit einem Fachmenschen über sie sprechen und mir ein klareres Bild verschaffen. Dass das Ganze ein richtiger Kriminalfall ist und dass ich, wenn ich Anne entlasten will, den echten Täter finden muss, wird mir erst jetzt bewusst und bereitet mir ein sehr mulmiges Gefühl.

Wieder zu Hause schalte ich mein Handy wieder an, das ich während der Therapien ausschalte. Es piepst gleich fünfmal. Und jedes Mal handelt es sich um eine Nachricht von Max. Zweimal hat er mich angerufen, einmal auf die Mailbox gesprochen und zwei Nachrichten über WhatsApp geschrieben. Das mulmige Gefühl, das ich eben während des Spaziergangs entwickelt habe, wächst sich aus zu einer ekligen angstvollen Übelkeit. Weiß er jetzt, was er will?

Er erinnert an die notwendige Steuererklärung und schreibt doch wirklich und wahrhaftig: „Es war schön, dich gestern zu sehen. Du sahst gut aus. Wenn ich dich heute kennenlernen würde, würde ich mich für dich interessieren.“

Ich sehe die Liste der Elite-Frauen vor mir. Dazu jetzt: Kristien, 52, Hamburg, Psychotherapeutin, erwachsener Sohn, ein Haustier.

Damals bei unserem Kennenlernen vor zwölf Jahren hat er mir sehr schöne Briefe geschrieben. Ich habe mich als erstes in seine Worte verliebt. Die waren offen, aufmerksam, verletzlich, sehr zugewandt.

Mit mir kann er nicht mehr sprechen? Bin ich wirklich so?

Mörderische Familie

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