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25. NOVEMBER

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„Du siehst adrett aus“, hat mein Sohn eben zu mir gesagt.

Adrett ist eigentlich nicht sein Sprachgebrauch.

„Adrett?“, habe ich gefragt, dachte, er wollte mich verspotten.

„Ja.“ Felix lächelte mich freundlich an. „Schwarze Hose, weiße Bluse, ist doch adrett, oder? So kenne ich dich sonst nicht. Steht dir.“

Ich glaube, er wollte nett sein.

Er hat zwar behauptet, er sei für ein paar Tage von Berlin nach Hamburg gekommen, um Freunde zu besuchen, aber ich habe den Verdacht, dass er nach seiner Mutter schauen will. Er weiß, wie elend es mir geht nach meiner Trennung von Max. Trennung? Ist es wirklich schon so weit? Ich will es nicht glauben.

Ich schiebe diese Gedanken und vor allem die Gefühle beiseite, die mir Bauchgrimmen bescheren. Gleich kommt Anne zur Therapie. Und das ist gut. So kümmere ich mich eine Stunde lang um ihre Probleme und meine treten in den Hintergrund.

Es ist kurz nach vier Uhr am Nachmittag. Ich stehe vor meiner Balkontür, die zur Straße weist. Neben mir Rocco, mein Golden Retriever. Dicht drängt er sich an mein Bein. Als wolle auch er nett sein, mich beschützen.

Draußen zieht die Dämmerung herauf. In einigen der gegenüberliegenden Wohnungen lassen erleuchtete Lampen darauf schließen, dass die Bewohner zu Hause sind. Ich sehe eine dicke helle Kugel aus Papier, dahinter Bücherregale, auch im schräg darunter gelegenen Zimmer Regale, prall gefüllt mit übereinander gestapelten Büchern. Das Zimmer daneben glimmt hinter verhüllenden Gardinen in violett flackerndem Fernseherlicht.

Fußgänger hasten als dunkle Schatten durch Nieselregen. Seltsam tröstlich die erleuchteten Fenster der Bäckerei schräg gegenüber. Plötzlich überfällt mich Sehnsucht. Wonach? Heil sein? Früher war mein Leben auch nicht heil, aber es gab für jede Verzweiflung eine Hoffnung, für jede Niederlage einen Neubeginn. Und heute?

Ein Auto fährt langsam durch die Einbahnstraße. Ich höre das Brummen und über Feuchtigkeit gleitende Reifen. Dann ist es wieder still. Und wieder ein Auto. Aus der Ferne klagt die Sirene eines Krankenwagens. Es klingt wie eine Botschaft, eine Warnung. Warum nur bin ich so unruhig?

Vor einer halben Stunde hat Felix sich verabschiedet. Er übernachtet bei einem Freund, den er von früher kennt. Skaterfreund. Seit einer Viertelstunde bin ich bereit für Anne. Normalerweise nehme ich es persönlich, wenn ich versetzt werde, finde, dass der ausbleibende Klient respektlos mit meiner Zeit umgeht. Bei Anne ist das anders.

Unerklärlich angstvoll blicke ich zur Straßenecke. Von dort kommt sie sonst, weil sie U-Bahn Osterstraße aussteigt. Bis hierhin sind es acht Minuten Fußweg. Üblicherweise legt Anne ihren Termin so, dass sie nach der Arbeit noch Zeit hat, durch die Osterstraße mit den kleinen Geschäften zu flanieren. Manchmal kann sie mich nicht begrüßen, weil sie in ihrer linken Hand eine Einkaufstüte trägt. Anne ist einarmig, seit ihrer Geburt. Damit geht sie so selbstverständlich um, dass ich es oft vergesse. Wenn sie etwas Schönes erstanden hat, präsentiert sie es mir in kindlicher Freude, und ich bin immer wieder beeindruckt von dieser Frau, die mit ihren langen blonden Haaren, ihrer hellen, fast durchscheinenden Haut und ihrer grazilen Gestalt etwas Elfengleiches hat. Eine einarmige Elfe.

Wo bleibt sie?

Die Regel lautet, dass ich spätestens drei Tage vorher informiert werden muss, wenn ein Termin nicht eingehalten werden kann. Ansonsten fällt das Honorar an. Die Vereinbarung unterschreiben alle Klienten zu Beginn der Therapie. Ich mache diese Arbeit seit zweiundzwanzig Jahren und habe noch nie ausstehende Honorare eingeklagt. Meistens einigen wir uns, wenn der Klientin oder dem Klienten etwas dazwischen gekommen oder sie oder er kurzfristig erkrankt ist. Die Ermahnung dient mehr dem Antrieb, auch wirklich auf der Matte zu stehen, wenn ein Termin verabredet ist.

Psychotherapie ist nichts, was man nebenbei macht, wie im Baumarkt ein Unkrautvernichtungsmittel zu besorgen. Auch wenn man hofft, dass es einem zu guter Letzt helfen wird, steht doch jede Stunde wieder vor einem wie ein gefährliches Tier. Der Mensch strebt nach Lust und meidet Schmerz. Psychotherapie zwingt zur Begegnung mit vermiedenem Schmerz.

Ob ich streng auf die Bezahlung ausgefallener Stunden dränge, hängt auch davon ab, wie lange ich die Klientin oder den Klienten schon kenne, wie zuverlässig sie oder er mitarbeitet, wie pünktlich sie oder er üblicherweise ist. Und wie spät die Stunde abgesagt wurde. Wenn ich versetzt werde, erwarte ich Zahlung. Bei Anne werde ich das nicht tun.

Sie kommt seit vierzehn Jahren zu mir, von einigen Unterbrechungen abgesehen. Anfangs weil sie suizidgefährdet war, im Laufe der Zeit erfuhr ich, dass sie Stimmen hört, und schließlich gab sie ihr tiefes Kindheitstrauma preis.

Zu einer erfolgreichen Therapie gehört, dass irgendwann die Loslösung vollzogen wird. Bestenfalls haben mich die Klienten als positive Stimme „internalisiert“. Sie brauchen mich nicht mehr, weil sie mich in sich tragen. So wie auch Eltern als innere Stimmen internalisiert werden.

Weil sie mir vertrauen, suchen mich ehemalige Klienten oft Jahre später wieder auf, wenn sie irgendwie in der Klemme stecken. Keine andere Klientin und schon gar kein männlicher Klient hat mir hingegen so lange die Treue gehalten wie Anne. Treue? Ich habe mich oft gefragt, ob es Treue oder Abhängigkeit ist. Ob ich den Ablösungsprozess vielleicht verschludert habe. Ich habe es in der Supervision zur Sprache gebracht, und meine Kolleginnen und Kollegen waren sich einig, dass Anne ein Sonderfall ist. Für sie bin ich einer von mehreren Fixpunkten, die ihr Halt und Struktur geben. Diese Quellen hat sie in jahrelanger wachsender Selbstfürsorge erworben, und darauf ist sie zu Recht stolz. Neben mir, zu der sie alle zwei bis drei Wochen für eine Stunde kommt, gibt es zweimal die Woche eine Stunde bei einer Yogalehrerin, mit der sie sich angefreundet hat, sie hat eine Hausärztin gefunden, von der sie sich mit ihrer Migräne und ihren Übelkeitsanfällen ernstgenommen fühlt, nicht zu vergessen die Friseurin, die nicht nur ihre Haare pflegt, sondern auch ihr Selbstwertgefühl, und auch auf ihrer Arbeitsstelle ist sie mittlerweile unkündbar, weil sie es dort trotz Mobbing, Rationalisierung und schlechtem Betriebsklima seit mehr als zwanzig Jahren aushält.

Fünf weitere Minuten sind vergangen, und ich schaue nervös auf die Uhr. Normalerweise erscheint Anne zehn Minuten vor dem Termin, weil sie sich die Zeit nimmt, auf die Toilette zu gehen, die Hände zu waschen und „anzukommen“. Dann setzt sie sich auf mein kleines rotes Sofa, wirft ihre langen blonden Haare zurück, macht es sich – oft im unangestrengten Schneidersitz – gemütlich, legt ihren linken Arm auf die Lehne, lächelt mit ihrem fein geschwungenen Mund und sagt: „Da bin ich wieder.“

Anfangs irritierte es mich, einen Menschen vor mir zu haben, der alles mit einem Arm macht, begrüßen, gestikulieren, schreiben, eine Tasse anfassen, einfach alles. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Bei Klienten, die nach Anne kommen, reagiere ich manchmal sogar irritiert darauf, dass sie zwei Arme haben.

Vor zehn Minuten habe ich bei Anne angerufen. Es könnte ja sein, dass sie krank ist oder den Termin vergessen hat. Obwohl beides sehr unwahrscheinlich ist. Wenn sie krank ist, meldet sie sich bei mir. Und sie hat noch nie einen Termin vergessen. Ich mache mir Sorgen. Sie lebt allein in ihrer Zweizimmerwohnung. Und wenn ihr nun etwas passiert ist? Hoffentlich hatte sie keinen Unfall.

Mit Blick auf die Straße rufe ich noch einmal bei beiden Nummern an, Festnetz und mobil. Beide Male springt der Anrufbeantworter an. „Hier ist Anne Petersen, bitte sprecht nach dem Piep.“ Ihre Stimme klingt sachlich und klar, man kann sich gar nicht vorstellen, dass sie manchmal bricht oder gar vollends verschwindet, wenn Anne von Gefühlen überwältigt wird.

„Liebe Anne, hier ist Kristien Blau, ich warte auf dich. Wir haben von sechzehn bis siebzehn Uhr einen Termin. Bitte melde dich, wenn du das hörst.“ Ich lege auf und bereue sofort, dass ich nicht meiner Sorge Ausdruck verliehen habe. Anne ist sehr empfindlich, was Kritik anbelangt. Sie hat Angst davor, etwas falsch zu machen. Sie hat immer noch Angst vor Strafe, auch nach vierzehn Jahren Therapie.

Gut, ich kann nichts tun. Ein Therapeut besitzt keine Telefonnummer der Nachbarn oder des privaten Netzwerks. Ein Therapeut ist kein Teil des alltäglichen Lebens. Das Leben da draußen müssen die Klienten ohne ihn bewältigen. Er greift nicht ins private Leben ein, außer es liegt Selbst- oder Fremdgefährdung vor. Und dann erfolgt eine Intervention über einen Richter.

Zum Glück musste ich den noch nie einschalten. Fremdgefährdende Menschen, also Menschen mit hohem Aggressionspotenzial, behandle ich nicht. Wenn ein Paar zu mir kommt, bei dem es Gewalttätigkeit über das Maß gibt, das ich verkraften kann, schicke ich den Täter zu einem Kollegen, der sich in der Täterarbeit auskennt.

Ich wurde als Kind verprügelt, und Gewalttätigkeit macht mir Angst.

Gefahr der Selbstgefährdung allerdings ist in meiner Praxis nicht selten. Bevor ich jedoch einen höchstrichterlichen Bescheid erwirke, der eine Einweisung in die Psychiatrie anordnet, spreche ich mit meinen Klienten über die Gefahr, die ich sehe, und wir finden zu einer Vereinbarung. Entweder nehme ich ihnen das Versprechen ab, dass sie mich oder eine Selbstmordhotline anrufen, bevor sie sich umbringen (und dass sie sich daran halten, liegt an unserem besonderen Vertrauensverhältnis), oder wir organisieren noch während der Sitzung eine Einweisung ins Krankenhaus oder prüfen, was unmittelbar geändert werden muss, damit sie sich ein Weiterleben vorstellen können.

Zum Glück hat sich noch keine meiner Klientinnen, keiner meiner Klienten umgebracht. Das würde ich mir verübeln.

Ich hole mir ein Glas Wasser. Mein Mund ist trocken und ich verspüre einen unangenehmen Geschmack, als hätte ich Schimmelkäse gegessen.

Wenn Anne ausbleibt, ohne einen Mucks von sich zu geben, befürchte ich das Allerschlimmste. Aber ich kann nichts tun.

Jetzt ist es fast halb fünf. Anne wird nicht mehr kommen. Ich habe es noch einmal telefonisch versucht, gleiches Ergebnis. Also gehe ich ins Internet, wo ich meine E-Mails checke. Vielleicht hat Anne mir ja eine Mail geschrieben.

Von ihr ist da nichts, aber von Max, meinem Mann.

Vor zwei Wochen hat er mein Leben ins Wanken gebracht. Viel mehr als das: Wenn man das Leben mit einer Ruderbootpartie vergleicht, hat er mir die Ruder weggenommen, sie weit fort geworfen und meinem Boot einen Schubs versetzt, sodass ich mich seitdem kreiselnd und schwankend an den Planken festhalte.

Nicht dass bis dahin alles gut gewesen wäre, im Juni bin ich schon einmal ausgezogen, nachdem ich hinter ein scheußliches Geheimnis von ihm gekommen war, aber drei Wochen später bin ich auf seine beschwörenden Appelle hin zu ihm zurückgekehrt. Nicht zum ersten Mal hatte ich seine Bitten um Verzeihung erhört. Die Zeit danach war allerdings seltsam gewesen. Einerseits mit besonders großem Nähebedürfnis von seiner Seite: Allnächtlich schliefen wir eng aneinander geschmiegt ein, und wenn ich abends zu spät nach Hause kam, beschwerte er sich, dass wir schließlich verheiratet seien, und dazu gehörten auch gemeinsame Mahlzeiten. Andererseits legte er, sobald ich sein Zimmer betrat, den Bildschirmschoner über das, was er gerade auf dem Computer anschaute. Sein Handy lag permanent neben ihm, und wenn er ins Bad ging, steckte er es vorher in die Hosentasche. Nachts wachte ich manchmal auf, und mein Herz raste. Irgendwie fühlte ich mich bedroht.

Vor zwei Wochen nun begab er sich wie oft auf eine Geschäftsreise. Drei Tage lang Südfrankreich, Teilnahme an einem Workshop der Firma, für die er seit fünfundzwanzig Jahren arbeitet. Sein Flug ging erst am Nachmittag, also wollte er vormittags noch ins Büro. Er besaß sogar die Dreistigkeit, mich zu bitten, ihn zur Arbeit zu fahren. Ein Liebesdienst, wie er sagte. So wären wir noch etwas länger beisammen. Tatsächlich bezahlt seine Firma bei Geschäftsreisen das Taxi zum Flughafen, aber ich Trottel übernahm den Taxidienst, was meinen Morgen etwas erschwerte. Also: Hundespaziergang, einmal durch Hamburg zu seiner Arbeitsstelle und dann wieder in die andere Richtung nach Eimsbüttel zu meiner Praxis.

Erst im Laufe des Tages, tröpfchenweise, sickerten Zweifel in mein Bewusstsein, ploppten befremdliche Bilder auf: Eine To-do-Liste auf seinem Schreibtisch, auf der unter anderem stand „Hotel für Montag buchen“. Seine besten schwarzen Lederschuhe, blank gewienert, ebenso seine dunkle Anzughose und ein helles Hemd. Ein herausgeputzter Mann, der sich am Morgen seiner Abreise vor mich hinstellte und fragte: „Wie sehe ich aus?“ All das passte nicht im geringsten zu einem Workshop von seiner Firma. Dorthin fuhr er in den üblichen schwarzen Jeans und Sneakers. Dafür brauchte er kein Hotel zu buchen, das tat die Sekretärin und auch nicht nur für eine Nacht.

Ich war sehr unruhig an jenem Montag, ließ die vergangenen Tage Revue passieren, klopfte alles auf möglichen Dissens zwischen uns ab. Nein, er war eher besonders liebevoll gewesen.

In der Nacht von Montag auf Dienstag schlief ich kaum. Vor meinem inneren Auge tauchte alles auf, was ich nicht bewusst wahrgenommen hatte, was nun aber klar vor mir stand. All die winzigen Ungereimtheiten der vergangenen Wochen, mein alarmiertes Gefühl. Ich schmiedete einen Plan, um mir Klarheit zu verschaffen, und lag zitternd in unserem Zweimalzweimeter großen Foutonbett, bis der Morgen endlich dämmerte. Dann brühte ich mir einen Tee auf und starrte auf die Wand gegenüber, wo ein Bild von Max und mir hängt, das uns in Marokko in der Wüste vor einem Zelt zeigt, beide mit zu Turbanen verschlungenen Tüchern als Kopfbedeckungen.

Sobald die Uhr endlich quälend langsam auf neun Uhr vorgerückt war, rief ich seine Sekretärin an und sagte in zuckersüßem Ton: „Max ist ja auf dem Workshop, wir haben aber morgen Hochzeitstag, ich würde ihn gern überraschen, können Sie mir die Adresse seines Hotels sagen, dann schicke ich ihm Blumen.“

Sie stutzte, sagte irritiert: „Nein, Frau Blau, das ist ein Irrtum. Max ist nicht auf dem Workshop. Da ist nur Frank, der Abteilungsleiter. Aber warten Sie, ich kann noch mal fragen … wieso, der Workshop ist doch erst ab Mittwoch. Aber warten Sie, ich frag Frank nochmal, ob Max überhaupt teilnimmt.“

„Nein danke, das brauchen Sie nicht. Tschüs.“

Und ich hatte aufgelegt. Mein Herz raste einen Moment, als wollte es aus meiner Brust springen, ich zitterte, als hätte ich zu lange in kaltem Wasser verbracht. Dann fühlte ich nichts mehr. Unbeweglich saß ich auf dem Stuhl, starrte ins Nichts. Die Taubheit löste sich erst ganz allmählich und wich einer hilflosen Wut.

Ich schrieb Max eine Nachricht: „Ich bin unfassbar geschockt. Mit wem liegst du gerade im Bett?“ Er reagierte nicht. Ich schrieb, er solle am Mittwoch nicht in unser Haus zurückkommen. Ich würde es nicht ertragen, mit ihm Tisch und Bett zu teilen. Daraufhin erhielt ich eine kurze SMS. „Ich bin auf einer Geburtstagsfeier. Komme morgen wie geplant am Nachmittag zurück.“

So viel Unverfrorenheit haute mich um. Eine Tsunamiwelle verschiedenster Gedanken und Gefühle brach über mich hinweg. Zweifel an meiner Intelligenz, an meiner Intuition, an meiner Liebenswürdigkeit, Fassungslosigkeit, dass jemand, der behauptet, mich zu lieben, so etwas tun kann, Überlegungen, wohin ich flüchten könnte, Zukunftsangst, und über allem die bohrende Frage: Mit wem feiert er drei Tage lang einen Geburtstag?

Seitdem wohne ich in einem Zimmerchen in meiner Praxis. Zwölf Quadratmeter. Früher das Wartezimmer, jetzt mein Schlafzimmer. Zum Wartezimmer muss die Küche herhalten.

Inzwischen weiß ich, dass er mit einer Frau drei Tage lang ihren Geburtstag gefeiert hat. Angeblich ist das nur eine Freundin, und die Geburtstagseinladung stammte noch aus der Zeit, als ich zwei Wochen lang ausgezogen war. „Ich habe nicht gewusst, wie ich ihr absagen sollte. Und ich habe mich nicht getraut, es dir zu sagen. Ich bin ein Feigling.“

Seitdem belagert Max mich mit Liebesschwüren und Bitten um Verzeihung. Wir müssen zur Paartherapie gehen, sagt er. Wir haben einander verloren. Aber wir lieben uns doch. Gehören zusammen. So auch jetzt in einer Mail, die mein Herz berührt: „Du bist das einzig wirklich Wesentliche in meinem Leben. Ich habe mich verlaufen. Kann mit dieser Frau gut sprechen, will eigentlich nur eine Freundschaft. Du hast schon so lange nichts von mir gelten lassen bei unseren ewiggleichen BPGs.“ BPGs sind Beziehungsproblemgespräche. An Problemen hat es uns nicht gemangelt. Aber an Lösungen.

Ich habe nichts gelten lassen? Neuerdings zweifle ich tatsächlich an meiner Kommunikationsfähigkeit. Dennoch will ich ihm glauben, dass ich die einzige Frau in seinem Leben bin. Also tippe ich auf replay und schreibe: „Lieber Max, ich bin unglaublich verletzt, aber ich bin bereit für eine Paartherapie. Bitte kümmer du dich darum. Deine Kristien“

Mörderische Familie

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