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1. DEZEMBER

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Nachts um vier Uhr wache ich auf, schweißgebadet. Ich habe einen scheußlichen Traum gehabt, Max und Annes Vater kamen darin vor. Sie hatten die gleiche hämische Lache. Mein Herz rast. Ich bin immer noch in Annes Haut, des Mordes verurteilt: Es ist unendlich einsam. Niemand, niemals mehr, der mich lieben wird. Nicht einmal ich selbst. Kein „Ich kann mich noch lieben“, weil es kein Ich mehr gibt. Ein zerstörtes, in tausend Teile zerbrochenes Ich. Und irgendein Teil dieses Ichs erinnert sich an etwas Dunkles, das aber kein Mord war, und ein anderer Teil dieses Ichs fühlt Schuld. Immer schon, immer schon war alles, was mir geschehen ist, meine Schuld, auch wenn ich es gar nicht wollte, auch wenn ich mit meinem ganzen Ich Nein gesagt habe.

Alles füge ich in Wirklichkeit mir selbst zu. Das behauptete zu Lebzeiten Bert Hellinger, der Guru der Familienaufstellungen. Und seine Epigonen beten es dem ehemaligen Priester und Missionar in Südafrika nach. Alles, was uns geschieht, haben wir angeblich angezogen, gewollt. In Familienaufstellungen diesen Geistes danken die Teilnehmer dem Menschen, der sie gequält und missbraucht hat. Denn er habe ihnen wichtige Erfahrungen beschert.

Meine Atmung beruhigt sich, mein Herzschlag bleibt beschleunigt. Ich schlüpfe in meine eigene Existenz zurück, Kristien. Von ihrem Mann übelst betrogen und belogen. Ich bin stinkwütend. Wut ist eine kraftvolle Energie.

Es ist so erbärmlich, dass ein Opfer zu einem geheimen Täter umgedeutet wird. In Wirklichkeit wolle das Opfer das ja. Was für eine Infamie! Und genau diesen Satz haben die meisten der sexuell missbrauchten Kinder im Kopf. Weil der Täter ihnen sagt: Du willst das ja. Es gefällt dir doch.

Wahrscheinlich wird auch Max mir die Verantwortung für seine Lügen zuteilen. Schon im November erklärte er seinen Betrug mit meinem Auszug im Juni. Dass ich allerdings vier Tage danach schluchzend in seinen Armen gelegen habe und auf seinen Wunsch im Oktober zu ihm zurückgezogen bin, das blendet er aus, wenn es um seine Affäre mit einer Frau geht, von der ich seit gestern Nacht weiß, dass sie Ärztin in Berlin ist, zehn Jahre jünger als ich, eine Silberzwiebel mit großen Ohren und kräftigem Hals, die sich schlecht schminkt. Und M heißt, Mara, Martina.

Wenn ich das Gudrun erzähle, denke ich plötzlich, wird sie mich für verrückt erklären, dass ich diesen Mann nicht endgültig aus meinem Leben werfe. Gudrun. Wieso hat sie mich nicht angerufen?

Ich springe aus dem Bett, werfe kaltes Wasser in mein Gesicht, trinke aus meinen zu einer Schale geformten Händen, setze mich auf die Klobrille und weiß plötzlich, weiß es so klar, wie ich im Augenblick nichts anderes weiß: Ich werde Anne helfen, ich werde herausfinden, was geschehen ist, und wenn sie unschuldig ist, werde ich das beweisen, und wenn sie schuldig ist, werde ich alles tun, damit sie nicht völlig alleine ist. Es gibt keine Alternative.

Johannes, ihr getöteter Bruder, teilte mit ihr damals das Zimmer. Bis heute weiß sie nicht, welche Rolle er gespielt hat. Fest steht, dass er sie wegen des Erbes belogen und betrogen hat, dass er immer schon eine willige Marionette des Vaters war, ob es nun das Ausspielen des älteren Bruders betrifft oder zumindest das Wegschauen, wenn der Vater der Schwester Gewalt antat. Einmal hat sie Johannes in den Penis gekniffen, da war sie sieben, und er war fünf Jahre alt. „Er hat richtig laut geschrien!“, berichtete sie beschämt in der Therapie. „Wie konnte ich das nur tun!“

In einer Therapiestunde berichtete sie empört über ihre Nichte: „Wir waren shoppen, Gerlinde, Bine und ich, dann kam Johannes und wollte Bine einen Kuss aufdrücken, und sie hat den Kopf weggezogen und ganz laut gesagt: ‚Du stinkst!‘ Und dann hat Gerlinde gelächelt und gesagt: ‚Sie mag ihren Vater nicht besonders gern.‘ Johannes hat ganz bedröppelt geguckt.“

Erst als ich sie bat, die Situation aus Sabines Perspektive zu betrachten, begriff sie, dass sie nur solidarisch mit ihrem Bruder war, nicht aber mit ihrer kleinen Nichte. Dabei war ihr Bruder inzwischen groß und sehr breit und mächtig, und die kleine Nichte war gerade eingeschult worden. „Ich schütze ihn immer noch“, hatte sie fassungslos gesagt. „Als wäre das mein Schicksal.“

Ich stütze den Kopf in die Hände und versuche, Klarheit in mein Denken zu bringen. Möglicherweise hat sie ihn umgebracht. Aber wenn sie das getan hat, war es eine Rache für jahrzehntelange Gewalt, die ihr Vater ihr angetan hat und an der Johannes als Kind möglicherweise beteiligt gewesen war, vor der er aber selbst als Erwachsener noch die Augen verschlossen hat.

Johannes Verrat wegen des Erbes hat möglicherweise dazu geführt, dass bei ihr Sicherungen durchgeknallt sind. Sicherungen durchgeknallt? Nein, dann geht man nicht systematisch und grausam vor. Ja, möglicherweise hatte sie einen schizophrenen Schub. Möglicherweise hat sie Stimmen gehorcht, die ihr diese Tat befohlen haben. Möglicherweise habe ich diagnostisch etwas übersehen, dann bin ich aber ebenso schuldig wie sie. Worauf es auch hinaus läuft, ich muss ihr helfen.

Am Morgen kriecht während des Hundespaziergangs langsam die volle Erinnerung in mein Gehirn zurück. Hat Max schon seinen beschmierten Spiegel gesehen? Hat er schon meine verzweifelte Botschaft auf seiner Mailbox abgehört?

Ich will nicht an ihn denken. Aber ich kann es nicht stoppen.

Ich kann auch nicht verhindern, dass ich, zurück, mein Handy einschalte in der absurden Hoffnung, dort eine Nachricht von ihm vorzufinden. Ich empfinde mein Verhalten als geradezu pathologisch.

Pathologisch finde ich allerdings auch, was ich als Nachricht bei WhatsApp vorfinde: „Meine liebste Kristien, mir geht es besser, ich erwarte Dich wie verabredet heute Nachmittag. So gegen 15 h? Ich freue mich auf dich. Dein Max“

Ich starre auf den kleinen Bildschirm, lese noch einmal, überprüfe das Datum. Handelt es sich um einen Irrläufer? Nein, die Nachricht ist von heute Vormittag elf Uhr dreißig. Jetzt ist es dreizehn Uhr. Ich habe noch nichts gegessen. Ich habe auch keinen Hunger. Rocco drückt sich an mich, hält mir seinen Kopf entgegen, schaut mich aus diesen Augen an, die manchmal völlig schwarz wirken und dann wieder wie dunkles Bernstein. Jetzt gerade hat er Bernsteinaugen. „Mein Gott, Rocco, was soll ich nur tun?“ Er antwortet mir, indem er sich noch dichter an mich schmiegt.

Um halb drei bin ich geduscht, meine Haare sind gewaschen und getrocknet, die Locken rahmen weich mein blasses Gesicht. Meine dunklen Augen wirken riesig im Spiegel. Ich betone sie noch mit einer dunkelbrauen Umrandung. Ich betrachte mich im großen Spiegel, der im Flur hängt. Eine schmale Frau mit Rundungen an den richtigen Stellen. Ich habe eine Jeans angezogen und einen schwarzen Rollkragenpullover, der bis zur Taille geht. Max muss doch sehen, dass ich viel schöner bin als dieser Hungerhaken aus Berlin! Aber vielleicht geht es ihm gar nicht um Schönheit?

Viertel nach drei klingle ich an dem Haus, von dem ich auch die Schlüssel besitze. Aber ich will nicht einfach eindringen. Max steht oberhalb der fünf Stufen, die man hinaufgehen muss, um ins Treppenhaus zu gelangen. Es schneidet schmerzhaft durch mein Herz. Oft hat er dort oben gestanden, wenn ich spät aus der Praxis heimkam, und gesagt: „Kristien, schön, dass du da bist.“ Das waren wundervolle Momente. Ein lächelnder zärtlicher Mann, der mir zeigte, dass ich ihm etwas bedeute. Später allerdings blieb er vor dem Fernseher liegen und sagte nur: „Hallo“. Bestenfalls noch: „Setz dich zu mir.“

Jetzt steht er dort und sieht sorgenvoll aus. Aber er lächelt. Er will mir einen Kuss auf den Mund geben. Unwillkürlich drehe ich das Gesicht zur Seite. Seine Lippen verziehen sich zu einem Strich, der ganze Mann versteift sich. Es tut mir sofort leid. Ich weiß, dass ich ihn so extrem kränke.

Er geht voraus. „Ich habe grünen Tee für dich gemacht. Das ist doch noch dein Favorit, oder?“ Er sagt favorite, englisch. Ich nicke. Aber das kann er nicht sehen. Auf den kleinen Beistelltisch, der aus einer unserer Reisen nach Marokko stammt, stellt er einen dicken Becher mit dampfendem Tee, setzt sich auf das Sofa, das in der Mitte der hufeisenförmig angeordneten Sitzgarnituren steht, vor sich auf dem zweiten marokkanischen Beistelltisch eine Tasse voll aufgeschäumten Milchkaffees.

Er sieht mich spöttisch an und sagt: „Es hat dich offenbar besonders angestachelt, dass ich gesagt habe, du solltest besser nicht kommen. Du musstest wohl unbedingt deinen Willen durchsetzen.“

Ich bin sprachlos. Starre ihn an und kann es nicht glauben. Er hat mich massiv belogen, jetzt macht er mir Vorwürfe? Ich schlucke. Es fehlt nicht viel, und ich entschuldige mich. „Warum hast du gesagt, du gehst nicht ins Theater, und bist dann doch ins Theater gegangen?“, frage ich. Meine Stimme klingt zart. Wo ist mein Zorn abgeblieben?

Er sieht mich lächelnd an. „Ich bin nicht ins Theater gegangen. Ich habe dich nicht angelogen. Es ging mir wirklich sehr schlecht. Ich habe mich dann abends entschieden, zu ihr zu fahren. Ich musste mit jemandem reden. Du weißt, dass ich keine Freunde habe. Mit ihr kann ich reden.“

„Du bist abends vier Stunden nach Berlin gefahren?“, frage ich und verabscheue meinen inquisitorischen Ton.

Wieder dieses verbindliche freundliche Lächeln. „Nein, ich bin mit dem ICE gefahren, das sind eineinhalb Stunden.“

„Aber dein Auto war nicht hier.“

„Hab ich am Hauptbahnhof stehen gelassen. Wollte ja früh wieder zurück sein.“ Kleine Pause, noch charmanteres Lächeln. „Wir hatten ja für heute eine kleine Verabredung.“

Ich bin völlig entwaffnet. Ich bin also durchgedreht wegen nichts? Ich kann es verstehen, wenn er in dieser Situation mit einer Frau sprechen will, mit der er sich gut versteht. Mit der er reden kann. Er hat ja wirklich keine Freunde.

„Hast du mit ihr geschlafen?“, platze ich raus.

Er bedenkt mich mit einem aufmerksamen, immer noch überaus freundlichen Blick. „Ich kann mit dieser Frau gut reden, Kristien, das ist mir sehr wertvoll. Mit dir konnte ich nicht mehr reden, du hast von mir nichts gelten lassen, hast immer nur auf deinem Standpunkt beharrt. Ich möchte gern, dass das meine Freundin wird, Freundin, verstehst du, ich will mit der keine Partnerschaft. Du bist meine Frau …“ Ein leicht schnaubender Lacher, „Auch wenn du das ja anscheinend nicht mehr sein willst.“

Was soll ich jetzt tun? In meinem Kopf treibt ein Wirbelsturm sein Unheil. Doch, ich will deine Frau sein. Blätter in einem Ordner fliegen in meinem Kopf herum. Ich liebe dich, habe nicht gedacht, dass es noch einmal so tief gehen kann. Ein Foto von einer mageren Ziege mit blauer Schminke unter den Augen.

Er schaut mich treuherzig an, völlig überzeugt von dem, was er sagt. Ich zweifle an meiner Wahrnehmung, an meiner Erinnerung. Und absurderweise steigt eine Hoffnung in mir auf, die alles andere ins Aus drängt. „Max, was willst du denn?“, frage ich hilflos.

Er hält mir die Hände entgegen und öffnet sie, die Handflächen nach oben, eine Geste, die ich von ihm kenne. Eine dramatische Demonstration von Ehrlichkeit. Ich habe nichts zu verbergen, sagt diese Geste. Ich lege alles auf den Tisch. „Ich möchte, dass alles wieder gut wird“, sagt er. „Ich möchte glücklich sein.“

Ich denke nach. Er möchte glücklich sein. Alles soll wieder gut werden.

„Und wie?“, frage ich. „Du hast mich belogen und betrogen, du hast eine Beziehung zu einer anderen Frau angefangen. Wie willst du denn jetzt, dass alles wieder gut wird?“

Er steht auf, geht in die Küche. Ich höre, wie er ein Glas aus dem Schrank nimmt. Ich weiß, dass er gleich mit einem Glas Rotwein in der Hand zurückkehren wird. Hastig trinke ich meinen leicht erkalteten Tee.

Er setzt sich wieder, in der Hand das Weinglas. Er trinkt einen Schluck, spitzt die Lippen, gibt leise Geräusche von sich, als wollte er einen Vogel locken. Rocco, der es sich zu meinen Füßen gemütlich gemacht hat, hebt kurz den Kopf.

Ich kenne all das so gut. Ich kenne diesen Mann so gut, die Geräusche, wenn er Rotwein kostet, das zärtliche Lächeln, aber auch die plötzliche Kälte, die aufbrandende Wut. Und ich merke, wie die gerade näherkommt.

„Ich soll dir jetzt sagen, wie es weitergehen soll!“, sagt Max. Er hat die Augen geschlossen, schmeckt dem Rotwein hinterher. Ich kenne auch diese geschlossenen Augen, wenn ich ihn etwas gefragt habe und er nicht antworten will. Seine Stimme klingt kalt, als er hinzufügt: „Ich brauche Zeit. Du hast mich verlassen, erst im Juni, dann im November wieder, das ist schlimm für mich. Das hat alles durcheinander gebracht. Wie soll ich dir vertrauen, dass du mich beim nächsten kleinen Konflikt nicht wieder verlässt? Jetzt lebe ich hier allein in diesem großen Haus. Das ist nicht leicht. Ich kann dir nicht sagen, wie es weitergehen soll.“ Er hat immer noch die Augen geschlossen. Nimmt einen weiteren Schluck aus dem bauchigen Rotweinglas, riecht daran.

Nun rollt in mir eine dicke Tsunamiwelle an Wut heran. Ich will sie zurückhalten. Ich weiß, dass ich den Überblick verliere, wenn sie mich unter sich begräbt. Dann sage ich Sachen, die mir hinterher leidtun. Aber sie rollt näher. „Gut. Dann nimm dir Zeit“, sage ich. Meine Stimme klingt viel ruhiger, als das wütige Rollen in mir verlangt. „Sag Bescheid, wenn du weißt, was du willst.“

Ich verlasse den Raum. Rocco folgt mir.

Jetzt wird Max ja wohl die Augen öffnen.

Ich schaue noch einmal zurück. Er sitzt da immer noch mit geschlossenen Augen. Der Tsunami ist weg. Irgendwoanders hingerollt. Dort sitzt ein ängstlicher, hilfloser Mann. Auf den kann ich nicht wütend sein.

„Tschüs“, sage ich.

Er sitzt dort wie eine Statue.

Zuhause in Eimsbüttel stürze ich ein Wasserglas voll Grappa hinunter. Das ist das einzige Hochprozentige, über das ich verfüge. Ich beschließe, mir gleich am nächsten Morgen eine Flasche Rum zu kaufen. Havanna-Club. In Havanna war ich glücklich. Mit Max.

Ich greife nach meinem Handy, will Gudrun anrufen. Ihr alles erzählen. Aber ich bringe es nicht fertig. Ich schäme mich. Für meine Ehe. Für meinen Mann. Für meine Liebe.

Aber warum ruft sie mich denn nicht an?

Mörderische Familie

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