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28. NOVEMBER

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Um sechs Uhr morgens gebe ich es auf, mich in den Schlaf zu quälen. Ich stehe auf, koche Wasser und brühe grünen Tee auf, den ich seit Kurzem trinke, weil ich keinen Kaffee mehr mag. Riechen schon, aber nicht mehr trinken. Könnte nicht bitte auch meine Liebe für Max einfach so vorbei sein? Die kommt mir viel ungesünder vor als Kaffee. Energisch schiebe ich die Gedanken an Max weg.

Jetzt geht es mal eine Weile nicht um mich und mein Drama, sondern um Anne. In den vergangenen wachen Stunden habe ich einige Entscheidungen gefällt, und die werde ich alsbald in die Tat umsetzen.

Drei Telefonate habe ich mir vorgenommen.

Ich beginne in der forensischen Klinik in Schleswig, in der Anne sich befindet, wie meine Recherchen ergeben haben.

Dort wird Tag und Nacht gearbeitet. Jetzt wird die Nachtschicht beendet sein, ich habe also ausgeschlafene Leute zu erwarten. Ich nenne meinen Doktortitel und bitte darum, mit dem behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten von Anne Petersen verbunden zu werden.

„In welcher Angelegenheit?“

„Ich bin ihre behandelnde Therapeutin.“

„Bitte geben Sie mir Ihre Telefonnummer, ich werde Ihr Anliegen weiterreichen. Sofern Dr. Kaiser erreichbar ist.“

„Bitte schauen Sie doch, ob ich vielleicht Glück habe.“

„Nein, leider. Ich sagte es schon.“ Sehr kurz angebunden.

„Dann vielleicht die Stationsschwester. Ich würde Frau Petersen gern besuchen.“

Die Stimme wird noch kälter, wenn es denn überhaupt möglich ist. „Ich weiß nicht, ob Sie sich mit forensischer Psychiatrie auskennen, Frau Doktor, aber hier gibt es keinen freien Besuchszugang. Den müssen Sie offiziell beantragen.“

„Wo?“

„Kann ich Ihnen nicht sagen, ich bin Rezeptionistin.“

Zweiter Anruf. Kriminalkommissariat Kiel. Es wirkt fast wie geklont. Rezeptionistin. Und keine Möglichkeit, Herrn Kriminalkommissar Oberüber ans Telefon zu bekommen. Der heißt wirklich so. Oberüber. Kaiser und Oberüber. Na, das wird ja was werden. Auch da wird mir angeboten, mein Anliegen weiterzugeben. Ich solle auf einen Rückruf warten.

Dritter Anruf. Swantje Fischer. Sie ist sofort am Handy. „Kristien, wie schön dich zu hören. Wie geht es dir?“

Ich komme direkt zur Sache: „Hast du dein Angebot ernst gemeint, Anne anwaltlich zu vertreten?“

Sie zögert, ich denke: Mist, das war im Überschwang der Gefühle, jetzt hat sie überlegt, dass bei Anne nicht viel Geld zu holen ist und dass sie sowieso überlastet ist.

„Ich will Anne wirklich gern helfen, das ist ja auch eine verrückte Sache, aber du müsstest mal meinen Schreibtisch sehen.“

Swantje kam vor sechs Jahren zu mir, weil sie mehrere Probleme auf einmal hatte: Sie verliebte sich immer in die Falschen, entweder waren die Männer schwul oder gebunden oder bindungsunwillig oder bindungsunfähig. Sie war von ihrer Gynäkologin als hormonell dysbalanciert diagnostiziert worden, „deshalb auch meine schwarzen Haare an den Beinen und den Armen und meine kleinen Brüste.“ Aus diesem Grund hatte die Gynäkologin ihr ein Rezept für Hormontabletten ausgestellt. Vor sechs Jahren war Swantje neunundzwanzig Jahre alt, und die Gynäkologin hatte ihr konstatiert, dass sie aufgrund ihrer hormonellen Dysfunktion ohne Hormonkur kinderlos bleiben würde.

Ich erinnere mich noch gut an die erste Sitzung. Swantje sagte: „Ich hab den Beipackzettel gelesen! Und da habe ich mir gedacht, wenn ich so dysfunktional bin, kann ich das auch noch eine Weile bleiben, aber vorher will ich mich mit meiner Weiblichkeit beschäftigen. Da scheint es mir nämlich richtig dysfunktional zu sein. Und da sind Sie mir empfohlen worden.“

Swantje hat an meiner tanztherapeutischen Gruppe „Weiblichkeit und Sexualität“ teilgenommen, die ein halbes Jahr lang einmal wöchentlich stattfand. Nach dem halben Jahr verlängerten die Teilnehmerinnen um ein weiteres halbes Jahr. Nach ungefähr sieben Monaten lernte Swantje einen sympathischen Mann ihres Alters kennen, sie verliebten sich ineinander, drei Monate später war sie schwanger. Natürlich viel zu früh für so ein junges Techtelmechtel, aber sie beschlossen, es miteinander zu wagen. Eine harte Probe. Dann erlitt sie eine Fehlgeburt. Es traf sie nicht so tief wie viele andere Frauen bei so einem Schlag, denn sie hatte in der Zeit der Schwangerschaft das Wunder erlebt, dass dieser Mann an ihrer Seite geblieben, dass er wirklich an einer Bindung interessiert war und an einer Zukunft mit ihr. Als die Gruppe nach einem Jahr endete, zogen Swantje und dieser Mann zusammen.

Inzwischen sind sie verheiratet und haben zwei Kinder, zwei und vier Jahre alt, und Swantje hat die Gynäkologin gewechselt. Ich bin für sie ein bisschen so etwas wie ihre Retterin, was natürlich Quatsch ist. Und Anne ist für sie eine Frau, die sie in ihrer schlimmsten Lebenskrise schwesterlich begleitet hat.

Jetzt ist Swantje Anwältin in Strafrecht. Ihr Mann und sie arbeiten beide halbtags. Er macht das, sagt sie, weil er mit den Kindern möglichst viel zusammen sein will. Aber sie ist dabei, eine steile Karriere hinzulegen, weil sie einige Prozesse mit Detailversessenheit, Starrsinn und Biss spektakulär gewonnen hat. Für sie läuft alles am Limit: die Halbtagstätigkeit in der Sozietät lässt sich nie einhalten, sie arbeitet viel am Abend, und ihr Mann und sie haben kaum Zeit füreinander.

Das alles rattert sie in einem Tempo durchs Telefon, dass ich mit dem Zuhören kaum hinterherkomme. „Manuel beschwert sich, er hat schon vorgeschlagen, dass wir zu dir in Paartherapie gehen. Deine Hexerin, hat er gesagt, die muss dringlich bei uns hexen. Kristien, ich glaube, der wird mich verlassen, wenn ich nichts ändere. Der macht keine halben Sachen. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich das hinkriegen soll. Und nun kommst du auch noch mit Anne …“

Ich sage nicht, dass nicht ich mit Anne komme, sondern sie selbst sich angeboten hat. Stattdessen säusle ich: „Sorry, ich wollte dich nicht zusätzlich belasten. Anne geistert mir nur im Kopf herum. Und da habe ich an dich gedacht.“ Ich lache und schäme mich, wie bemüht und falsch es klingt. „Ich guck einfach mal in meiner Klientendatei, vielleicht gibt es da noch einen Strafverteidiger, der sich über einen Fall freut. Nichts …“

Sie unterbricht mich mit scharfer Stimme. „Du willst doch keinen Mann mit dem Fall beauftragen! Ich habe schon mal nebenbei Erkundigungen eingezogen. Der beigeordnete Pflichtverteidiger ist auch ein Mann, das geht gar nicht bei Anne!“ Sie seufzt schwer.

Ich atme ein, bereite mich auf einen abschließenden freundlichen Satz vor im Sinne von: Nichts für ungut, und wenn du mich als Paartherapeutin brauchen solltest, melde dich, da kommt sie mir zuvor: „Ich kann sowieso schlecht schlafen, aber seit das mit Anne ist, kann ich noch schlechter schlafen. Wenn du das jetzt irgendeinem karrieregeilen Kollegen gibst, der das wohlmöglich für sich ausschlachtet, werde ich mein Leben lang nicht wieder schlafen können, also muss ich wohl in den sauren Apfel beißen.“ Sie seufzt wieder.

Ich will gerade betonen, dass ihre Familie Priorität in ihrem Leben haben muss, da sagt sie: „Ich spreche mit meinen Kollegen in der Sozietät, wie man im Fall von Anne vorgehen könnte, und ich spreche mit Manuel, wie er dazu steht, ohne ihn geht das nicht. Ich denke darüber nach und melde mich bei dir innerhalb der nächsten drei Tage.“ Sie bricht in leichtes Kichern aus. „Und dann, liebe Frau Therapeutin, wirst du meine Ehe reparieren und gefälligst wieder gut schmieren und zum Laufen bringen.“

Ich erinnere mich. Swantje hatte immer schon etwas für Motoren übrig gehabt. Am liebsten wäre sie Ralleyfahrerin geworden, aber das hatte ihr Vater verboten, und er war es ja im Grunde gewesen, dem sie mit ihrer Autobegeisterung gefallen wollte.

Als ich die nächste Tasse grünen Tee ausgetrunken habe, ist es neun Uhr. Bis zur ersten Therapiesitzung bleiben mir noch zwei Stunden.

Ich mache es mir auf meinem Sofa bequem, von dem ich eine gute Sicht auf das gegenüberliegende Haus habe. Mein Blick verliert sich in den geschwungenen Eisengittern der Balkone. Lustigerweise kenne ich die meisten der Mieter dort. Da ist nicht so eine Fluktuation wie in meinem. Hier wohnen junge Leute, die ich selten sehe. Wahrscheinlich arbeiten die viel, besuchen Fitnessstudios, pflegen ein lebhaftes Privatleben, eben junge Menschen, die es sich leisten können, monatlich 1.200 Euro Kaltmiete zu bezahlen. Was Wolfgang wohl zu solchen Leuten sagt?

Seine Worte schießen mir durch den Kopf: Wir haben uns die schlimmsten Sachen überlegt, wie man ihn quälen und umbringen kann.

Mein Handy summt. „Dr. Kaiser hier“, die Stimme passt zum Namen. Eine sonore Stimme, die signalisiert: Dieser Mann ist Herrscher der Lage, in welcher Situation auch immer. „Sie baten um einen Anruf.“

Meine Stimme hingegen ist unangenehm heiser und wirkt sehr unsicher, als ich sage: „Blau, ich bin die Therapeutin, also, ich war die Therapeutin von Anne Petersen. Ich wollte mich erkundigen …“ Ich räuspere mich. Nach einem tiefen Atemzug sage ich klar und deutlich: „Ich möchte gern mit Ihnen über den Zustand von Frau Petersen sprechen.“

Es klingt, als hätte er während unseres Telefonats Seiten umgeblättert und wäre nicht ganz präsent. Ein unangenehmes Schweigen breitet sich zwischen uns aus. „Frau …?“ sagte er. „Blau“, antworte ich, und so schwer es mir fällt, ich füge hinzu „Dr. Blau.“

„Eine Kollegin“, sagt er, und ich höre seiner Stimme an, dass er irgendjemand anderem Zeichen macht, er wäre gleich fertig. „Frau Petersen, ja, ja, ich fürchte, Frau Kollegin, Ihre Mission ist mit dieser Patientin an ein trauriges Ende gelangt. Vielleicht wird man Sie ja noch interviewen, aber das ist Aufgabe der Polizei. Für uns ist der Fall klar.“ Ich schlucke. Diese Arroganz haut mich um. „Das ist gerade meine Frage“, sage ich. „Wie schätzen Sie den Fall denn ein?“

„Frau Petersen befindet sich in einem akuten psychotischen Schub“, doziert er ungeduldig. „Sie wird medikamentös behandelt, ich hoffe, sie so zu stabilisieren.“ Ich ahne, dass er dieses Gespräch alsbald wegdrücken wird, also sage ich hastig: „Hat sie nach mir gefragt? Kann ich sie vielleicht besuchen?“

Ich höre, wie er Luft holt. Seine Stimme ist kalt. „Nach Ihnen gefragt? Ich weiß nicht, wie Sie arbeiten, aber Sie haben sicher schon einmal etwas über Psychotiker gelernt in Ihrer Ausbildung. Und ob Sie sie besuchen dürfen, müssen Sie bei der Polizei fragen. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich habe zu tun.“ Das rote Lämpchen leuchtet auf. Gespräch beendet. Ich fühle mich gemaßregelt wie ein Kind, das dumme Fragen stellt, auf die Erwachsene keine Antwort geben, weil sie auf dumme Fragen nun mal keine klugen Antworten parat haben.

Den ganzen Tag über wird es nicht richtig hell. Am Himmel hängt eine dicke Wolkenschicht wie eine langgezogene Kaugummimasse. Wird es schneien? In drei Wochen ist Weihnachten. Ich habe keine Ahnung, wie ich dieses Jahr feiern werde. Max ist in unserem Haus wohnen geblieben, er schreibt mir jeden Morgen und jeden Abend Nachrichten, die mein Herz berühren. Wie wichtig ich ihm bin. Dass er nicht versteht, wie das alles so kommen konnte. Am Ersten Advent hat er mir geschrieben: „Ich wünsche Dir einen schönen Ersten Advent, Ruhe und Besinnung!“ Ich habe geantwortet: „Und du, bist du bei deiner Freundin?“ Er antwortete: „Nein, aber ich könnte irgendwo sein, seit Du weg bist, habe ich kein Zuhause mehr.“

Ich schwanke zwischen Berührung, Empathie und Wut. Dann soll er sich gefälligst um eine Aussprache bemühen! Er schreibt mir süße Nachrichten, macht aber keine Anstalten, eine Klärung herbeizuführen. Und wohnt weiterhin in unserem für ihn allein viel zu großen Jugendstilhaus in Alt-Rahlstedt, dem Stadtteil von Hamburg, wo noch viele schöne alte Häuser erhalten sind.

In den vergangenen Wochen verging kein Tag, ohne dass ich an Max gedacht, einen inneren Dialog mit ihm geführt, mich nicht entsetzlich nach ihm gesehnt hätte und ihn gleichzeitig zur Hölle schicken wollte. Nur während der Therapiestunden war er fort. Meistens zumindest, außer ich hatte Klientinnen, die mir von toxischen Beziehungen erzählten, von denen sie sich jahrelang nicht lösen konnten. Dann taucht Max’ Gesicht aus dem Dunkel auf.

Heute steht Anne im Zentrum meiner Gedanken. Ohne dass ich eine bewusste Entscheidung getroffen hätte, weiß ich plötzlich während des mittäglichen Spaziergangs durch feuchte Kälte ganz genau, dass ich sie sehen muss. Anne scheint als Mörderin „diagnostiziert“ zu sein. Ich muss an das psychologische Experiment denken, als völlig gesunde Menschen mit einer gefälschten Diagnose in die Psychiatrie eingeschleust wurden. Bei keinem wurde die Diagnose infrage gestellt, ganz im Gegenteil, die Probanden kamen nur durch energische Intervention der Versuchsleiter wieder „frei“.

Ich erlaube mir, an Annes „Diagnose“ als Mörderin zu zweifeln. Wenn sie ihren Bruder getötet hat, dann sagt so jemand doch nicht in der vorigen Therapiesitzung: Johannes hat sich mit mir einen Todfeind gemacht.

Das passt nicht zusammen. Ich kann das nicht so stehen lassen.

Es geht nicht nur um das Geld, das sie bei mir bezahlt hat. Eine Therapeutin ist kein Supermarkt und auch keine Prostituierte, obwohl auch unsere Zuwendung eine professionelle Dienstleistung ist. Trotzdem bin ich der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der Anne bis in ihre tiefsten Abgründe kennt, dem sie vertraut, dem sie sich anvertraut hat. Das hört ja nicht einfach auf im Sinne von: Ach so, jetzt ist das eine Mörderin, jetzt habe ich nichts mehr damit zu tun. Dumm, dass ich mich mit Polizeisachen und Morden und so was nicht auskenne! Ich beschließe, am Abend trotzdem eine Strategie zu entwerfen. Sobald ich diesen Beschluss gefasst habe, lastet der Druck auf mir nur noch halb so schwer.

Nach der letzten Therapie bereite ich mir einen Teller mit Käsestückchen und Tomatenvierteln. Dazu ein Glas kühlen Weißweins. Ich sitze in meiner Küche, die am Abend wieder meine Küche ist und nicht mehr das Wartezimmer, und lege ein weißes Blatt Papier neben Käseteller und Weißwein. Ein weißes Blatt Papier tut immer gut. Alles ist möglich. Ich werde wichtige Dinge darauf schreiben, und danach ist die Welt eine andere. Meine Welt zumindest.

Mir fällt partout nichts ein. Also esse ich Käsestückchen, zerknacke Käsekräcker, als würde ich mit meinen Zähnen beweisen, dass ich Probleme zerkleinern kann. Trinke einen Schluck Weißwein. Riesling. Er kommt mir leicht und fruchtig vor, herb. Das ist kein Zuckerwasser. Auch kein schwerer Rotwein, von dem ich mich schnell beduselt fühle.

„Menschen, die helfen können“ notiere ich als Überschrift und unterstreiche die vier Worte. Ich denke nach. Unterstreiche noch einmal. Mir fällt keine Freundin, kein Freund ein, an den ich mich in diesem Fall wenden könnte. Familie? Die Tochter meines Bruders ist Anwältin. Allerdings für Insolvenz. Ich glaube, sie kann mir eher wenig helfen.

Es hilft nichts. Ich werde Swantje nochmal anrufen müssen.

Plötzlich fällt mir Tankred ein. Ich werde ganz aufgeregt. Wieso habe ich nicht gleich an Tankred gedacht?

Tankred ist Kommissar bei der Kripo in Hamburg. Welchen Dienstgrad er hatte, weiß ich nicht, aber ich glaube, er ist erfolgreich und gut. Zumindest war das nie sein Problem. Sein Problem war seine Beziehung mit Frauen. Tankred … ich strenge mein Gedächtnis an, da ist der Name wieder: Tankred Flammert.

Bandenkriminalität war sein Ressort. Aber passieren bei Banden nicht auch mal Morde? So fremd kann ihm ein Mord doch nicht sein.

Als hätte die Erinnerung an Tankred mein Gehirn geölt, fällt mir Gudrun ein. Meine Gudrun, Freundin seit Studienzeiten. Wieso habe ich nicht eher an sie gedacht? Wahrscheinlich, weil wir über alles Mögliche miteinander sprechen, aber nicht über unsere Berufe. Vielleicht auch, weil sie sich in der letzten Zeit etwas von mir zurückgezogen hat. Sie findet es einfach „unterirdisch“, wie ich immer noch an Max hänge.

Gudrun Brinkmann. Ich schnappe mein Handy und tippe auf das Telefonsymbol neben ihrem eingespeicherten Namen. Während das Telefon klingelt, sehe ich sie vor mir. Lange blonde Haare, viereckige schwarze Brille. Frau Professor Gudrun Brinkmann. Sie hat ihren Professor gemacht, weil ihr Mann, Soziologieprofessor, ihr jahrelang das Gefühl vermittelt hat, sie wäre ein bisschen dumm, seinem hohen IQ zumindest nicht gewachsen. Sie hat eine ähnliche Ehegeschichte erlebt wie ich. Deshalb ist sie auch so streng mit mir. Sie arbeitet an der Hochschule, Professorin für Kriminologie.

„Brinkmann. Bitte nennen Sie Namen und Telefonnummer. Ich rufe alsbald zurück.“

„Liebste Gudrun, ruf mich an, bitte. Es brennt ein bisschen.“

Nun habe ich schon zwei erfolgversprechende Namen, Tankred und Gudrun.

Es ist lange her, dass Tankred bei mir in Therapie war. Er hat an einer Visionsgruppe teilgenommen, wo er neue Orientierungen suchte. Wir duzen uns. Tankred ist nach der Gruppe noch eine Weile allein zu mir gekommen, weil er, wie er sagte, sein Leben aufräumen wollte. Wir hatten eine sehr gute Verbindung, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich abweist, wenn ich ihn um Hilfe bitte.

Ohne es zu merken, habe ich mein Glas Wein geleert. Ich hole die Flasche aus dem Kühlschrank und schenke es wieder voll. Seit ich alleine bin, trinke ich allabendlich Beruhigungstee oder ein Glas Wein, und nicht selten auch zwei.

Tankred wollte sich ändern, sehnte sich nach mehr emotionaler Lebendigkeit. Da er es gewohnt war, zu arbeiten und Leistung zu erbringen, ging er dieses Ziel ebenso energisch an wie alles andere, das er bisher bewältigt hatte.

Er löste sich von allen materiellen Dingen, an denen er gehangen hatte, verkaufte seinen BMW, schenkte seine sportlichen, dennoch im höchsten Preissegment erstandenen Designerklamotten einer Kleidersammlung der Kirche, vermietete seine Dreizimmerwohnung, nahm ein Sabbatjahr und ging mit dem Rucksack auf Reisen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich ihn aus den Augen verloren.

Das ist ungefähr sechs Jahre her, und ich meine, dass auch Anne an der damaligen Gruppe teilgenommen hat. Was mag aus ihm geworden sein? Hat er die emotionale Lebendigkeit gefunden, nach der er sich so gesehnt hatte? Oder ist er anschließend wieder in das zurückgefallen, was ihm von frühester Kindheit an vertraut war und Sicherheit versprach?

Bei Google gebe ich Tankred Flammert ein. Es gibt im Adressbuch sogar eine Eintragung. Er wohnt in der Eichenstraße, das ist nicht weit entfernt! Wir hätten uns begegnen können, wenn ich mit Rocco um den Weiher laufe und er vielleicht joggt. Er war ein fanatischer Jogger, Marathon und, ich erinnere mich nicht genau, war das nicht sogar Triathlon? Ehrlich gesagt, bin ich überrascht, dass von einem Kriminalkommissar die Adresse im Internet steht. Gibt es nicht Kriminelle, die Polizisten nachspüren? Müssen die sich nicht mehr schützen?

Ich bin so aufgeregt, dass ich nicht in der Küche sitzen bleiben kann, und an Schlafen ist auch nicht zu denken. Also gehe ich noch einmal mit Rocco, schlage die Richtung zum Weiher ein in der irrigen Hoffnung, dort vielleicht Tankred zu begegnen. Morgen früh rufe ich ihn an.

Mörderische Familie

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