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30. NOVEMBER

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Max und ich haben für heute Theaterkarten, „Die Physiker“ im Schauspielhaus. Im November schon gekauft, vor seinem Betrug. Gestern hat er mir geschrieben, er fühle sich außerstande, das Haus zu verlassen, sei depressiv, müsse allein sein, könne nicht ins Theater gehen. Ein so jämmerlicher Ton, mein Herz schmolz dahin. Ich antwortete, ob er möchte, dass ich komme, dass wir reden. Seine Antwort: „Das wäre so gut. Ich wäre so froh darüber. Bitte nicht morgen. Komm doch am Sonntagabend. Ich muss jetzt einfach erstmal alleine sein.“

Gestern war Freitag, Sonntag ist morgen, heute ist Samstag.

Während des morgendlichen Hundespaziergangs bekomme ich plötzlich das, was ich „meine Eingebung“ nenne. Es fährt siedendheiß durch mich hindurch, ich schwitze, aber das ist nicht Wechseljahresschwitzen. Diese innere Stimme sagt: Der lügt. Der geht mit der anderen ins Theater. Ich will es nicht glauben, aber ich kenne Max seit zwölf Jahren. Wenn der eine Theaterkarte gekauft hat, geht der hin. Und Depression? Er würde grinsen und sagen: Ist man nicht immer ein bisschen depressiv, wenn Weihnachten vor der Tür steht?

Max hasst Weihnachten. Und ich hasse gerade mich. Wieso kann ich an nichts anderes denken als daran, dass er mich vielleicht gerade wieder belügt. Dass er mit einer anderen Frau, mit der anderen Frau, ins Theater geht, während er mir etwas von Depression erzählt.

Dabei weiß ich nicht mal, ob ich mit ihm ins Theater gehen will. Ich weiß auch nicht, ob ich diesen Mann wirklich zurück haben will. Wie soll das denn jemals wieder gut werden? Aber ich bin wie besessen. Ich muss das rauskriegen. Es geht doch nicht an, dass der glaubt, mich einfach so bescheißen zu können.

Das Theater beginnt um zwanzig Uhr.

Am späten Nachmittag, es ist schon dunkel, marschiere ich mit Rocco um die Alster. Ich nehme kaum etwas um mich herum wahr. Üblicherweise genieße ich die Atmosphäre hier, die Lichter, die schönen Häuser, das leichte Plätschern des Wassers ans Ufer. Meine Unruhe wird nicht weniger. Ich wähle Max’ Handynummer, will ihn fragen, wie es ihm geht. Er geht nicht ran.

Eine halbe Stunde später gelange ich wieder bei meinem Auto an. Meine Wangen brennen von der Kälte und meiner Erregung. Ich stecke Rocco ins Auto und fahre zum Schauspielhaus. Vorm Hauptbahnhof finde ich einen Parkplatz. Ich nehme meinen Hund an die Leine und gehe die Kirchenallee entlang, vorbei an der betont hamburgischen Kneipe, in der Max und ich oft nach dem Theater noch einen Wein getrunken und über das Stück geredet haben. Nun stelle ich mich vors Theater. Es ist biestig kalt. Ich trage meinen Parka und eine dicke Wollstrumpfhose mit einem bunt gestreiften Muster. Dazu die gefütterten Stiefel. Schön und theaterbereit sehe ich nicht aus. Das ist mir egal. Ich komme mir vor wie eine Furie.

Es ist eine dreiviertel Stunde zu früh. Noch ist alles leer. Ich gehe ins Foyer und lasse mir ein Glas Weißwein geben. Außer mir halten sich nur wenige andere hier auf. Rocco legt sich auf den Steinboden. Langsam trudeln ein paar Menschen ein, junge Leute, sie streicheln Rocco, lächeln mich an, er erhebt sich sofort, nimmt Kontakt auf, freut sich über die Abwechslung.

Max ist üblicherweise sehr rechtzeitig im Theater. Er will das Ereignis genießen, Garderobe abgeben, ein Glas Wein trinken, die Blicke schweifen lassen. Er hasst es, auf den letzten Drücker zu kommen.

Was tu ich, wenn die beiden hereinkommen? Ich weiß es nicht. Ich habe keinen Plan. Ich gehe hin und begrüße sie. Und dann? Dann sage ich ihr, dass das mein Mann ist. Dass er sie wahrscheinlich ebenso belügt wie mich. Dann frage ich ihn, warum er nicht die Wahrheit gesagt hat, und was aus seiner Depression geworden ist. Mir wird abwechselnd heiß und kalt.

Das Foyer füllt sich. Hier könnten sie unbemerkt an mir vorbeihuschen. Wir stellen uns vors Theater. Es gibt zwei Eingänge, wie soll ich beide gleichzeitig im Auge behalten? Ich stelle mich in einem Abstand in die Mitte, der mir erlaubt, beide Eingänge zu beobachten. Das Theater ist gut besucht, die Menschen strömen hinein. Abwechselnd blicke ich nach rechts und links.

Kein Max. Allmählich lichtet sich der Andrang. Die Besucher kleckern nur noch, hastig, sie wollen das Stück nicht verpassen.

Dann ist es zwanzig Uhr. Ich kann es nicht glauben. Ich warte noch eine Viertelstunde, langsam gehe ich zum Auto zurück. Da ist ein seltsames Gefühl in mir. Als gäbe es etwas, das ich zu tun habe, ein Auftrag. Als hätte ich diesen gerade verfehlt. Meine innere Stimme hat mir noch nie etwas gesagt, was nicht stimmte. Ich habe oft nicht drauf gehört, aber das war stets falsch.

Während meiner Arbeit als Psychotherapeutin habe ich gelernt, dieser Stimme zu vertrauen. Sie sagt mir etwas über meine Klienten, das ich bewusst nicht wahrnehme, aber plötzlich weiß. Und wenn ich dann nachfrage, blitzt es zumeist überrascht in ihren Augen auf.

Ich kann jetzt nicht aufgeben. Es wäre, als würde ich mir selbst untreu werden. Ich muss rauskriegen, ob ich mich getäuscht und Max unrecht getan habe. In diesem Fall werde ich mich entschuldigen. Es ist jetzt zwanzig Uhr dreißig. Was ist schlimm daran, wenn ich zu ihm fahre und sage, ich habe mir Sorgen gemacht? Depression, das klingt schlimm.

Also fahre ich nach Rahlstedt. Um diese Zeit bin ich ungefähr vom Hauptbahnhof zwanzig Minuten unterwegs, werde noch vor neun Uhr da sein.

Ich fahre sehr, sehr aufmerksam. Meine Hände zittern, alles zittert innerlich. Ich erkenne mich nicht wieder. Weiß gar nicht mehr, wer diese aufgeregte, irgendwie verrückte Frau ist. Aber ich muss das tun, ich weiß, dass ich es mir schuldig bin. Und vielleicht auch Max.

Ich stehe vor unserem Haus, einem schönen Jugendstilhaus in Alt-Rahlstedt, das wir erst nach langer Suche gefunden haben. Es war nicht leicht, in Hamburg ein Zuhause für uns zu finden, das unseren Wünschen entsprach. In dieses Haus sind wir vor zehn Jahren mit einer Maklerin gegangen, haben die hohen Decken mit dem feinen Stuck, die Kassettentüren mit den bunten Glasfenstern, den Holzboden, die liebevoll und sorgfältig ausgestatteten Badezimmer und die großzügige Küche gesehen und waren beide sofort verliebt in das Haus.

Es ist stockduster. Nirgendwo ein Licht. Meine Hände zittern so sehr, dass ich den Schlüssel kaum ins Schloss bekomme. Das Licht im Treppenhaus geht von allein an. Alles ist still. Es ist unheimlich.

Leise, als wäre ich eine Einbrecherin, schleiche ich ins Wohnzimmer. Ich mache das Licht an, überall, es muss hier hell werden. Aber Max ist nicht da. Es sieht bewohnt aus, in der Küche steht eine angebrochene Rotweinflasche, eine kleine Espressotasse. Ist er wirklich im Theater? Eine Tasse Espresso, das ist sein Ritual, wenn er von der Arbeit kommt und danach zu einer kulturellen Veranstaltung aufbricht.

Ich lasse meinen Blick durch unser Wohnzimmer schweifen. Zwei asymmetrisch geschwungene Sofas in dunkelrotem Samt, benannt nach Gaudí, eine limitierte Auflage. Ich habe sie über ebay erstanden, fabrikneu hätten wir sie uns nicht leisten können. Das ganze Wohnzimmer ist durch mich eingerichtet, Max hat keinen Sinn für Licht, für Gemütlichkeit. Für ihn muss alles funktional oder exotisch sein.

Im ersten Stock sind unser Schlafzimmer und unsere Arbeitszimmer. Auch da ist alles dunkel. Ängstlich betrete ich das Schlafzimmer. Was, wenn er schon schläft und mich jetzt – zu Recht – als einen ungebetenen Eindringling empfindet? Aber er liegt dort nicht. Das Bett ist unordentlich aufgeworfen. Neben der Badewanne steht ein großer Becher, in dem er heute morgen offenbar während seines obligatorischen morgendlichen Bades einen Milchkaffee getrunken hat.

Kein Max weit und breit. In meinem Bauch ballt sich ein großer trauriger Klumpen zusammen. Er hat mich auf jeden Fall angelogen. Ist er im Theater? Wo ist er?

Ich gehe in sein Arbeitszimmer und weiß dabei, dass ich etwas Verbotenes tue. Das ist seine Intimsphäre, hier habe ich nicht einzudringen.

Auf seinem Schreibtisch, als sollte ich es sehen, liegt das Foto von einer Frau. Mein Herzschlag setzt aus und rast dann umso schneller los. Eine Frau in einem blauen weiten Anzug, eine Zigarette zwischen Fingern mit blau lackierten Nägeln. Ich starre auf den Anzug, das tragen Ärzte bei OPs. Die Frau zeigt ein breites, etwas spöttisches Lächeln. Ich halte das Bild mit spitzen Fingern direkt vor meine Augen. Vor dem Foto flimmert es. Das liegt nicht am Bild, das bewirkt meine Aufregung. Bekomme ich jetzt vielleicht einen Schlaganfall? Ich setze mich auf Max’ superergonomischen Schreibtischstuhl und presse die Hände vor meine Augen, bis mein Herzschlag sich einigermaßen beruhigt hat.

Nun kann ich das Foto besser erkennen. Es ist ein Farbfoto. Ich drehe es um. Auf der Rückseite steht: Für M., M.

Zwei schön geschwungene Ms. Heißt sie Maxime, denke ich in plötzlichem Galgenhumor. Würde passen, sie sieht auch aus wie ein Mann. Völlig entsetzt starre ich auf das Foto. Damit hätte ich nie gerechnet. Max hat Frauen über vierzig mit kurzen grauen Haaren verspottet. Silberzwiebel hat er sie genannt. Dies hier ist eine eindeutige Silberzwiebel. Sehr kurze Haare, man sieht, dass ein teurer Friseur an dieser Frisur sein Glück versucht hat. Es soll kess wirken. Es wirkt aber jungenhaft. Als hätte eine Frau, die das gebärfähige Alter überschritten hat, mit ihrem Frausein abgeschlossen. Ich gucke sie mir genauer an. Sie hat große Ohren, einen kräftigen Hals, kleine helle Augen und unter die Augen hat sie blauen Lidschatten so aufgetragen, dass sie übernächtigt aussieht. Aber es ist eindeutig Lidschatten. Oder?

Nein, diese Frau war immer schon ein Junge. Die hat keine Weiblichkeit schmerzlich abgelegt. Die hatte keine. Oder hat sich früh schon, ich würde mal sagen, mit der Pubertät, über nicht vorhandene weibliche Attribute mit anderen Fähigkeiten hinweg getröstet: Leistung in Intellekt und Sport? Aber vielleicht war alles auch ganz anders. Die Figur kann man in dem unförmigen Kittel nicht erkennen. Nur dünne Arme, die ab dem Ellbogen herausragen.

Ich lege das Foto wieder auf den Tisch und schaue mich suchend um. Jetzt ist es sowieso egal. Jetzt kann ich auch weiter spionieren. Da liegt eine Mappe. Ich öffne sie, und säße ich nicht schon auf dem Stuhl, würde ich jetzt garantiert in Ohnmacht fallen. Da ist jede Menge Korrespondenz mit Frauen. Meine Hände zittern, als ich die ausgedruckten E-Mails durchblättere: Eine Beate, eine Gudrun, eine Eva, eine Martina. Martina. M.

Max ist ein Buchhalter, was so etwas betrifft, das weiß ich aus der Zeit, als wir uns kennenlernten, ebenfalls übers Internet. Bei uns war es Parship. Dies hier scheint Elite-Partner zu sein. Ganz hinten in der Mappe liegt eine Liste untereinander angeordneter Daten der Frauen:

Beate, 42, Ärztin, eigene Praxis, Norderstedt, eine Tochter, lebt bei ihr.

Eva, 36, Heilpraktikerin, Gemeinschaftspraxis, Lüneburg, zwei Kinder, 6 und 12, leben bei ihr.

Gunda, 39, Lehrerin, Münster, Hund, Sohn, 18 J.

Martina, 42, Ärztin, Berlin, keine Kinder, kein Haustier.

Die ganze Welt bebt. Woran kann ich mich festhalten?

Die Korrespondenz beginnt mit Beate, Bea bald genannt, der Ärztin aus Norderstedt. Offenbar haben sie sich mehrfach getroffen, sind voneinander angetan, aber dann fährt sie nach Indien, und obwohl er ihr vorschlägt, er könne ja mitkommen, zieht sie es vor, mit einer Freundin einen Yoga-Ashram aufzusuchen. Danach geht der Kontakt hauptsächlich über Fotos weiter.

Die Korrespondenz mit der Heilpraktikerin aus Lüneburg ist irgendwie zäh. Sie schreibt von Problemen mit ihren Kindern, mit ihrem Ex-Mann, er antwortet verständnisvoll, aber immer kürzer.

Da, da sind die ersten Mails mit Martina, die er bald wechselnd Tina oder Marta nennt und schließlich bei Mara bleibt, das gefällt ihr offenbar. Es tut mir unendlich weh, diese Briefe zu lesen, die auf eine fast kuriose Weise zwischen Kollegen der Wissenschaft beginnen, über Veröffentlichungen in dem Bereich, in dem mein Mann als Ingenieur arbeitet, und über Veröffentlichungen über Versuche an Tieren, womit sie anscheinend zu tun hat. Doch bald wird es intimer, er berichtet ihr über sein bisheriges Liebesleben, und mir stockt der Atem, ich lese es nochmal, dann lese ich es laut: „Nach meiner Ehe, die nur vier Jahre dauerte und mehr als zwanzig Jahre vorbei ist, hatte ich wechselnde Beziehungen zu Frauen, die eher unverbindlich waren und die Dauer von zwei Jahren nicht überschritten. Jetzt möchte ich mich wieder auf eine tiefe Begegnung einlassen.“ Mir entfährt ein schwerer Seufzer. „Du bist seit zehn Jahren verheiratet, seit dreizehn Jahren sind wir ein Paar!“, flüstere ich.

Ich bringe es nicht über mich, die Mails zu lesen. Sie gehen täglich hin und her.

An einem Wochenende im Juli haben Max und ich ein verlängertes Wochenende in einem Schlosshotel in Mecklenburg-Vorpommern verbracht. Wir wollten dort über uns sprechen, einander wieder nahekommen. Wir haben uns gestritten, wir haben uns vertragen, wir haben eine Nacht verbracht, in der er mich lange Zeit gestreichelt hat, aber ich war noch nicht wieder in der Lage, mich ihm sexuell zu öffnen. Am nächsten Morgen, als ich vorsichtig sagte: „Ich finde, das war schön letzte Nacht“, antwortete er barsch: „Ich wollte Sex.“

Am letzten Abend hatten wir auf zwei Holzliegestühlen vor der Schlosswiese gelegen, nachdem wir vorher in der Sauna gewesen waren und im Schlossteich geschwommen hatten. Der Himmel war übersät von Sternen, und plötzlich fiel eine Sternschnuppe hinunter und dann noch eine. Er sagte: „Jetzt könnten da mal Pferde hineingaloppieren“, und im nächsten Augenblick erscholl Pferdegetrappel, und eine ganze Horde Pferde lief in das Gatter vor uns. Ein magischer Moment. Die ganze Zeit hatten wir uns an den Händen gehalten.

Aber auch in dieser Nacht war ich zu Sex nicht in der Lage gewesen.

Wir waren dort von Samstag bis Dienstag gewesen. Am Dienstagabend steht in der nächsten Mail: „Tut mir leid, wenn ich ein paar Tage nicht geschrieben habe. Es muss dir vorgekommen sein, als wäre ich untergetaucht. Aber meine Tochter ist überraschend gekommen. Und dann hat es eine scheußliche Begegnung mit meiner Ex gegeben. Ja, davon habe ich dir noch gar nichts erzählt. Es ist noch sehr frisch. Und es war sehr scheußlich.“

Was für ein Lügengebilde, in das er sich auch der Frau gegenüber verstrickt, denke ich plötzlich klar und ruhig. Als Psychologin weiß ich, dass es manchmal diese Entwicklungen vom Zufall zum Charakter gibt. Man weiß aus einschlägiger Literatur zum Beispiel vom Mörder, dass der erste Mord noch etwas ist, das eine Persönlichkeit aufrüttelt. Wenn dann jedoch dieser Mord gelungen ist, keiner es durchschaut hat und man damit durchgekommen ist, fällt der nächste Mord leichter. Allmählich ist es, als wären zwei Porträts übereinandergelegt, die des Menschen vor dem Mord und die des Menschen, der mordet. Morden ist Teil der Persönlichkeit geworden.

Mord ist ein sehr radikales Beispiel. So ist es beispielsweise bei Kindern, die stehlen. Oder bei Lügnern. Ich schiebe den Gedanken weg. Ich will nicht, dass mein Mann ein notorischer Lügner ist.

All die zärtlichen Worte auf diesen Seiten ertrage ich nicht. Mein Maxerl, schreibt sie. Und er: Meine Doktora.

Am liebsten möchte ich den Ordner zuklappen, aber ich weiß, dass ich noch etwas wissen muss. Da ist es. Er schreibt ihr nach ihrem ersten Sex, der direkt während ihrer allerersten Begegnung stattgefunden hat. „Die erste Zigarette“, schreibt er, „die ersten Worte, alles so leicht, so als wäre es immer schon so gewesen.“ Und wenig später schreibt er: „Ich liebe Dich. Ich habe nicht geglaubt, dass es jemals noch so tief gehen wird.“ Er schreibt es nachts um ein Uhr, ich blicke auf das Datum. Habe ich da schon schlafend in unserem Bett gelegen? Oder habe ich da in der Praxis übernachtet? Ich schließe die Augen. In meinem Bauch fährt ein Feuerschwert auf und ab. Es brennt höllisch.

Ein Geräusch. Das ist es, wovor ich die ganze Zeit Angst hatte. Dass Max plötzlich vor mir steht und mich bei der Überschreitung persönlicher Grenzen ertappt. Seine Frau eine Schnüfflerin in seinen persönlichen Unterlagen. Ich weiß, wie wütend er werden kann. Ich habe Angst. Doch da höre ich, dass es mein Handy ist, das im Vorraum in meiner Tasche liegt und jetzt anzeigt, dass ich eine SMS bekommen habe.

Ich klappe die Mappe zu, schiebe das Gummiband vor, lege sie wieder dorthin, wo sie gelegen hat. Rück- oder Vorderseite? Egal. Ich werfe einen letzten Blick auf das Foto und schüttle fassungslos den Kopf.

Die Nachricht kommt von ihm. Bevor ich vom Theater aufgebrochen bin, habe ich ihm geschrieben: „Ich finde es sehr seltsam, dass du auf keinem Kanal erreichbar bist, ich mache mir Sorgen. Geht es dir immer noch so schlecht? Bitte melde dich!“

„Liebe Kristien, es tut mir leid, dass du mich nicht erreicht hast. Ich habe gestern meinen Rechner in der Firma vergessen. Ich liege schon im Bett. Freue mich, wenn wir uns morgen sehen. Dein Max“

Ich schaue auf die Uhr. Es ist einundzwanzig Uhr fünfundvierzig. „Die Physiker“ ist ein Einakter. Vielleicht ist seine Freundin gerade auf der Toilette, und er kann schnell die Zeit nutzen, um mir eine solche Nachricht zu schicken. Eine wilde Wut überkommt mich.

Ich gehe ins Badezimmer, zücke meinen Lippenstift und schreibe an den Spiegel: Lügner! Betrüger!

Beide Worte füllen den ganzen Spiegel.

Ich gehe nach unten, wo Rocco auf mich wartet.

Ich rufe Max an. Er geht nicht ran. Ich spreche auf seine Mailbox. Und nun endlich kann ich weinen und schreien. „Wie kannst du mir das antun, du bist so gemein, du lügst und lügst und betrügst und betrügst, warum tust du das, du bringst mich um, ich hasse dich. Wie kannst du so etwas tun …“

Erschöpft breche ich schließlich auf dem Sofa zusammen.

Soll ich hier ins Bett gehen? Mich einfach hineinlegen und schauen, was passiert, wenn er morgen kommt, denn heute Nacht wird er fortbleiben, so viel steht fest. Die werden sich ein Hotel nehmen, wahrscheinlich.

Ich erhebe mich schleppend. Dieser Abend war so entsetzlich zehrend, von mir ist kaum noch etwas übrig. Noch mehr überstehe ich nicht. Jetzt muss ich nach Hause, in meine Praxis, in mein eigenes Bett.

Mörderische Familie

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