Читать книгу Mörderische Familie - Elke Vesper - Страница 8
27. NOVEMBER
ОглавлениеSchweißnass wache ich auf. Dabei ist mein Schlafzimmer eiskalt. Seit ich in meiner Praxis übernachte, schlafe ich bei offenem Fenster, etwas, das Max auf den Tod nicht ausstehen konnte. Im Winter war es ihm zu kalt, im Sommer zu laut. Die Vögel, der entfernte Verkehrslärm. Also habe ich mich ihm angepasst, wie in so vielem, und bei geschlossenem Fenster geschlafen. Jetzt decke ich mich bis zur Nase zu. Üblicherweise schlafe ich gut und friere nicht. Heute Nacht aber habe ich geschwitzt.
Ich hatte Schwierigkeiten einzuschlafen. Mein Trick, abends eine halbe Stunde noch einen Roman zu lesen, der mich von all meinen persönlichen Problemen ablenkt, hat nicht funktioniert. Dabei fesselt mich „Garp und wie er die Welt sah“ sehr, obwohl ich ihn schon zum dritten Mal lese. Kaum habe ich aber mit müden Augen das Buch beiseite gelegt, wurde ich von Ängsten überschwemmt. Vor meiner Zukunft ohne Max. Vor nicht wieder gut zu machenden Fehlern. Davor, Anne nicht richtig diagnostiziert zu haben. Ein Fehler, der einen Menschen das Leben gekostet hat? Aber auch Angst, Anne im Stich zu lassen. Wie mag es ihr dort gehen? Sexualdelikt? Welches Sexualdelikt könnte Anne an ihrem Bruder begangen haben?
Anne ist schwerstmissbraucht von ihrem Vater. Zehn Jahre lang war sie Objekt seiner sadistischen Fantasien. Es begann an ihrem vierten Geburtstag. Er hatte ihr eine Puppe geschenkt und kam in der Nacht zu ihr. Sie hatte schon geschlafen. Er sagte, für die Puppe solle sie jetzt ein bisschen nett zu ihm sein. Am nächsten Morgen dachte sie, sie hätte das nur geträumt.
Ich kann immer noch nicht daran denken, ohne dass mir übel wird.
Anne ist doch keine Sexualstraftäterin!
Ich schwitze. Rocco kommt an mein Bett und leckt meine schweißnasse Hand, die aus der Bettdecke herausragt. Ich muss etwas tun. Aber ich kann die Augen noch nicht richtig öffnen. Also winde ich mich aus dem Bett.
Nachdem ich Rocco sein Futter gegeben habe, sitze ich mit einem Becher Tee wieder im Bett, das Fenster ist nun geschlossen, dahinter ein Bild, für das man nur Grautöne bräuchte, um es zu malen. Grauer Himmel, graues Haus, graue Fensterlöcher, schwarzgraue Baumruinen. Dieser Novembertag lockt nicht nach draußen. Auch in mir ist alles grau. Anne lässt mir keine Ruhe.
•
Ich nehme mir Annes Akte vor. Sie ist nicht so dick, wie man angesichts der vielen Jahre vermuten könnte. Anfangs längere Notizen, Zeichnungen, die sie angefertigt hat, viele von ihr beschriebene Seiten. Die Zeichnungen wirken wie von einem sechsjährigen Kind. Darauf sind Strichmännchen, unzusammenhängende Szenen. Immer wieder ein Phallus, in unterschiedlicher Größe. Immer wieder ein Riese und ein kleines Mädchen. Durch diese Zeichnungen hat sich Anne offenbart. Die Worte kamen erst viel später. Es war bei Lebensgefahr verboten gewesen, dass sie jemandem erzählte, was ihr Vater in der Nacht mit ihr tat.
Einmal hat sie es als Kind trotzdem gewagt, ungefähr sechs Jahre alt, da waren eine ihrer vielen Tanten mütterlicherseits und ihre Mutter in der Küche und wuschen das Geschirr ab. Sie sagte: „Vadder mokt Sachen mit mi, hei deit mi weh.“ Sie erinnerte sich nicht mehr, ob die Frauen gefragt hätten, wo, oder ob sie von allein auf ihre Scheide wies. „Dor.“
Auf jeden Fall widmeten die beiden Frauen sich nach kurzem Innehalten wieder emsig dem Abwasch, und die Tante sagte: „Dat mokt sei all. Dat geit vorbi.“ Ihre Mutter hatte nichts gesagt.
In den Nächten danach war er besonders grob gewesen, sie hatte gelernt, zu diesem Zufluchtsort zu gehen, wo es hell war und sie nichts mehr spürte, weil sie sich nicht mehr in ihrem Körper befand. Viel später allerdings, nach ihrem letzten Klinikaufenthalt, sagte sie erschüttert: „Ich glaube, ich bin gar nicht freiwillig dahin gegangen, ich glaube, es war so was wie eine Nahtoderfahrung. Er setzte mir ja immer diese Maske auf. Dahinter konnte ich keine Geräusche machen, aber ich glaube, ich konnte auch nicht gut atmen. Ich glaube, ich bin manchmal fast weg gewesen.“
Meine Beklemmung kommt wieder, wenn ich in den Papieren blättere. Ich habe dem schwer standgehalten, was sie beim Erinnern durchlitt. Meine und ihre große Sorge damals war, dass sie von ihren Erinnerungen und Gefühlen überflutet würde, dass das Trauma sich wiederholte. Immer habe ich darauf geachtet, dass sie sich nicht zu sehr assoziierte, dass sie das Ganze aus Distanz betrachtete, dass sie sich körperlich bewusst machte, wie sie auf meinem Sofa saß. Dass sie erwachsen war. In der Hypnotherapie gibt es eine Technik für so einen Fall: Man setzt den Klienten in seiner Vorstellung in einen Kinoraum und dann noch in den Raum dahinter, den Glaskasten oben, in dem früher die Rollen abgespult wurden. Dort behält der Klient jederzeit die Kontrolle, kann den Film stoppen, rückwärts, in Zeitlupe oder in verstärkter Geschwindigkeit laufen lassen.
In meinen Unterlagen befinden sich zwei Berichte von psychosomatischen Kliniken. In der ersten war sie vor ungefähr neun Jahren. Damals ging es vor allem um Migräneanfälle, häufige Übelkeit, starke Rückenschmerzen und nächtliche Panikattacken. Beim zweiten Klinikaufenthalt ging es um Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Panikattacken und Suizidgefahr. Anne war durch Mobbing einer feindseligen Kollegin in das frühere Trauma geglitten. Sie fühlte sich verletzt und von den anderen Kollegen im Stich gelassen.
Zu diesem Zeitpunkt kam sie wieder zu mir, nachdem sie vorher drei Jahre lang allein zurechtgekommen war. Drei Jahre, in denen sie gut für sich gesorgt hatte, regelmäßig zum Yoga ging, sogar Bauchtanzkurse besuchte, um sich mit ihrem Bauch „anzufreunden“, wie sie es nannte. „Und wenn Gefühle hochkommen, höre ich einfach auf.“ Sie hatte auch einen Aquarellmalkurs besucht, nachdem sie in der ersten Kur ihre Freude am Aquarellmalen entdeckt hatte. Nun brach alles wieder auf.
Gemeinsam mit ihrer Hausärztin entschied ich, dass sie möglichst schnell in eine Klinik musste, sie kam mir unberechenbar und suizidgefährdet vor, sie wirkte wie ein gejagtes Tier. Zwei Wochen, nachdem sie mich aufgesucht hatte, wurde sie in einer Klinik aufgenommen, die auf Depression und Angststörungen spezialisiert ist. Dort blieb sie zehn Wochen lang.
In dieser Klinik hat sie auch zu ihrem Missbrauch gearbeitet. Sie ist dort zweimal von Flashbacks überflutet worden, aber sie hat es überlebt, wie sie stolz sagte. Der Klinikbericht sprach von Stabilisierung, von langsamer Rückeingliederung in den Arbeitsprozess, von notwendiger weiterer psychotherapeutischer Begleitung.
Ich blättere die Unterlagen durch, von einem drückenden Schuldgefühl geplagt. Habe ich irgendetwas übersehen? Habe ich vielleicht aufgrund meiner Empathie und Betroffenheit meine Distanz verloren?
Wie konnte es bloß geschehen, dass Anne ihren Bruder getötet hat?
Die Tochter ihres Bruders, Sabine, war für Anne mehr als nur eine Nichte. Aufgrund ihres Traumas hatte Anne sich nie einem Mann anvertrauen können. Sie hat keine Kinder. Sabine jedoch hat sie geliebt wie eine Tochter. Sie hat diesem fast zehnjährigen Mädchen doch nicht den Vater weggenommen! Sabine hat eine Mutter, Gerlinde, Johannes’ Frau. Die ist nun Witwe! Anne hat feministische Anschauungen vertreten, Frauensolidarität. Die hat doch kein Mädchen zur Halbwaise, keine Frau zur Witwe gemacht!
Ich kann es einfach nicht glauben. Aber mir kommen immer wieder ihre Worte aus der letzten Sitzung in den Kopf: „Johannes hat sich mit mir einen Todfeind gemacht.“ Sie hat bekräftigend mit dem Kopf genickt und wiederholt: „Jaaa, Todfeind!“ Aber sie hat dabei gelächelt, und ich bin nicht im Geringsten auf die Idee gekommen, dass sie damit gemeint hat, sie wolle ihn umbringen.
Sie hat die Tat gestanden. Warum also quäle ich mich so, verdammt?
Es kommt immer wieder vor, dass Menschen in Extremsituationen Dinge tun, die sie sich vorher in schlimmen Fantasien ausgemalt haben. Dennoch kann ich es so nicht stehen lassen. Ich muss in Erfahrung bringen, was passiert ist. Es muss doch so was wie eine Mordkommission geben, das liest man immer in Krimis und sieht es auch im Fernsehen. Psychisch kranke Sexualstraftäter landen in Hamburg in Ochsenzoll, der forensischen Psychiatrie. Johannes, ihr Bruder, wohnte allerdings in einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein. Brunk, steht in der Überschrift des Artikels.
Ich muss wissen, was geschehen ist.
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Bislang hatte ich nichts mit der Kriminalpolizei zu tun. Meine Vergehen spielen sich im Bereich dessen ab, was die Kasse Hamburg mir mit fünfundzwanzig oder fünfzehn Euro berechnet. Falschparken. Vor Kurzem wurde ich sogar abgeschleppt und musste dreihundertfünfzig Euro Strafe zahlen. Meine Praxis, die jetzt auch meine Wohnung ist, liegt in Eimsbüttel. Dort herrschte immer schon Parkraumknappheit, neuerdings ist das ins Groteske ausgewachsen.
Meine Praxis liegt parallel zur Osterstraße. Dort liegt ein Café neben dem nächsten Restaurant, abgewechselt mit kleinen Boutiquen, einem Dritte-Welt-Laden, einer unabhängigen Buchhandlung. Hier gibt es die „Kleine Konditorei“ mit dem leckersten Backblechkuchen der Welt und endlosen Schlangen bis auf die Straße hinaus am Samstag und Sonntagmorgen, weil alle unbedingt dort Brötchen kaufen wollen, obwohl es in der Osterstraße an Bäckereien ebenso wenig mangelt wie an Friseuren. Aber es mangelt an Parkplätzen.
Meine Gedanken gleiten hierhin und dorthin. Gleich muss ich arbeiten. Vorher muss ich mit Rocco gehen. Mir bricht der Schweiß aus. Das kenne ich schon. Es begann mit neunundvierzig. Ich weiß es noch: Der erste Schweißausbruch führte dazu, dass ich zu meinem Hausarzt ging. Ich habe nie geschwitzt. Und dann so eine plötzliche Überflutung meines Körpers. Ich befürchtete eine schwere Krankheit, Tuberkulose mindestens. Mein Hausarzt Herr Gretesmann, so heißt er wirklich, hat mich nach ausgiebiger Untersuchung freundlich und, wie mir schien, ein wenig spöttisch oder gar hämisch angelächelt und gesagt: „Liebe Frau Blau, Sie sind unheilbar gesund. Ihre Schweißausbrüche haben nur etwas damit zu tun, dass Sie jetzt ins Klimakterium kommen.“ Süffisantes Lächeln. „Das ist altersgemäß.“ Da habe ich beschlossen, den Arzt zu wechseln. Was ich bis heute nicht getan habe, weil ich eigentlich keinen Hausarzt brauche. Ich bin, wie er so überaus witzig formulierte, unheilbar gesund. Für den Rest ist meine Gynäkologin zuständig. Die will mir Hormone verschreiben, wogegen ich mich bisher noch standhaft gewehrt habe. Ich kann diese Schweißausbrüche auch akzeptieren und durchstehen, das Komplizierte daran ist für mich, dass es so unberechenbar kommt und sich dann wirklich wie ein Ausbruch schwerer Krankheit anfühlt.
Wenn ich wüsste, okay, Klimakterium, das heißt, ich habe alle zwei Stunden einen schweren Schweißausbruch, und danach ist es wieder gut, könnte ich damit umgehen. Dann würde ich meine Termine entsprechend legen, und meine Mitmenschen vorwarnen, dass es um vierzehn Uhr beginne, um vierzehn Uhr fünfzehn wieder vorbei sei. Aber so ist es nicht. Stattdessen bleibe ich manches Mal drei Tage lang verschont, und plötzlich – mitten in einer therapeutischen Sitzung – merke ich, wie mein Gesicht heiß wird, und ich sitze der Klientin oder dem Klienten mit feuerrotem Kopf gegenüber, und dann bekomme ich den zwanghaften Drang, mich auszuziehen. Das geht selbstverständlich nicht, weil eine Psychotherapeutin keine Stripteaseshow veranstaltet.
Oft ist es wie jetzt: Mir bricht der Schweiß aus, und ich weiß nicht, wie ich diese Anwandlung interpretieren soll. Bin ich jetzt gerade gestresst, weil ich meinen Tag zu voll knalle mit irgendwelchen Problemen, nun auch noch mit einem obskuren Mord, habe ich Angst vor einer Begegnung mit der Polizei, weil es unbewusste Schuld in mir wachruft, wie sagt man so schön: Der Mörder steckt in jedem von uns, oder bin ich mit meinen Gedanken in Wirklichkeit bei Max und möchte gerade weinen, weil er mich so übelst verraten hat?
Ich kann diese Fragen nicht mehr beantworten, weil der Schweiß aus meinen Poren bricht, als würde eine Schleuse überlaufen. Im Nu ist meine Unterwäsche klitschnass, ich bekomme Luftnot, greife nach der nächstliegenden Akte und fächle mir Luft zu. Es ist doch unmöglich, dass das auf irgendwelche Hormonumstellungen zurückgeht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich keine geheime Krankheit habe. Ich ziehe mich splitternackt aus, gehe unter die Dusche und habe den Eindruck, als würde das lauwarme Wasser auf meiner Haut zischen.
Um elf Uhr stehen meine ersten Klienten vor der Tür. Die Wohnung ist picobello aufgeräumt. Niemand soll merken, dass ich hier auch wohne.
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Um zwölf Uhr fünfundvierzig, die erste Sitzung von eineinhalb Stunden ist vorbei, die Klienten verabschiedet, ich will mir gerade etwas zu essen machen, höre ich die Wohnungsklingel. Scharf fährt es durch mich hindurch. Habe ich in meinem psychischen Durcheinander einen Termin vergessen? Das ist mir in den vergangenen Wochen zweimal passiert. Zweimal zu viel.
Ich frage in die Gegensprechanlage, wer da sei. Als Antwort kommt ein schwerer Schnaufer, dann brummelt eine tiefe Männerstimme etwas, was ich nicht verstehe. Das ist mir unheimlich. Ich laufe zum Balkon und beuge mich übers Geländer, sodass ich sehen kann, wer unten steht.
„Hallo“, rufe ich, „wer ist da?“
Eine Gestalt löst sich von der Tür, macht zwei schwere Schritte die Treppe hinab und wendet den Kopf nach oben. Ein alter ausgemergelter Mann, dem der Anzug um die Gestalt schlottert. Ein Obdachloser, denke ich, aber dann sagt der Mann ein Wort. Ein Zauberwort. Er sagt es weniger, als dass er es rauskotzt, es klingt wie das Bellen eines gefährlichen Hundes.
„Wolfgang Petersen, Annes Bruder. Bitte lassen Sie mich rein.“ Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.
Ich zucke zusammen. Wolfgang. Annes älterer Bruder. Während ich zur Tür gehe, schießen durch meinen Kopf Bilder, die ich mir nach Annes Beschreibung von Wolfgang gemacht habe. Oder die ich in Fotoalben gesehen habe. Fotos von Annes Konfirmation. Da war sie vierzehn und er achtzehn. Ein smarter, gut aussehender junger Mann im Anzug, der auf allen Fotos ihr leicht zugewandt steht, als wolle er sie beschützen. Dabei hatte er sie beinahe erhängt, als sie gerade zwei Jahre alt war. Sie hatte bereits Schlieren vor den Augen gehabt und keine Luft mehr bekommen, als ihr Vater auf dem Dachboden auftauchte, wo sie am Strick hing, und sie freimachte. Von da an war ihr Vater ihr Lebensretter gewesen.
Diese Geschichte hatte Anne mir bereits in der zweiten Therapiestunde erzählt. Wolfgang hatte sie gefragt, ob sie gerne mal nach Hamburg reisen wollte, was Anne bejaht hatte. Natürlich wollte sie in diese große Stadt, von der alle schwärmten. Also stieg sie auf einen Stuhl und steckte ihren Kopf in die Schlinge, so wie es der große Bruder von ihr verlangte. Dann zog er den Stuhl weg und sagte: „Los geht die Reise!“ Sie war federleicht gewesen, vielleicht hatte Wolfgang ihren Kopf auch so in die Schlinge gelegt, dass ihr Genick nicht brechen konnte, auf jeden Fall hatte der Strick sie gewürgt und nur beinahe stranguliert.
Anne hat in der Therapie viel von ihrem Bruder erzählt. Ein geliebter, bewunderter Bruder, intelligent, schön. Mit neunzehn war er ausgezogen, gemeinsam mit einer Freundin, die studierte wie er.
Ich öffne die Tür. Ein alter Mann steht da, schwer atmend, bleich, mit Augen, die trotz der tiefen schlammfarbenen Höhlen einen intensiven Glanz ausstrahlen. Einen fiebrigen Glanz. Ich strecke ihm die Hand entgegen. „Kristien Blau, kommen Sie rein.“
Ich führe ihn in die Küche. Mit ihm in mein Therapiezimmer zu gehen und ihn dort auf die Klientencouch zu setzen, kommt mir unpassend vor. Also setzt er sich auf einen meiner Küchenstühle, deren farbenfroher Bezug Patchwork imitiert. Ich biete ihm ein Glas Wasser an, das er durstig hinunterstürzt.
Die Ellbogen auf den Küchentisch gestützt, betrachte ich ihn, wie ich es gewohnt bin: eingehend, genau, vorurteilslos. Ich lese in Gesichtern, Körperhaltungen, Kleidung, Gestik, Mimik. Das ist mein Job. Die Menschen wollen, dass ich sie sehe. Aber ich vergesse manchmal, dass nicht alle Menschen gesehen werden wollen und dass dieser Blick auch missdeutet werden kann.
Viele Menschen denken, Psychologen könnten bis in die Seele blicken, Gedanken lesen, das Schlechte in ihrem Gegenüber durchschauen. Das stimmt nicht. Aber viele Psychologen sind aufmerksame Betrachter. Ich zumindest habe schon während meiner ersten Ausbildung, der zur Tanztherapeutin, gelernt, Körperhaltungen zu lesen. Es ist ja inzwischen kein Geheimnis mehr, dass wir mit unserer Körperhaltung Stimmungen ausdrücken. Einige Forschungsarbeiten beschäftigen sich damit, und wirklich: Wenn wir die Schultern hängen lassen, die Mundwinkel senken und all die äußeren Erscheinungsformen von Trauer oder Depressivität an den Tag legen, verändert sich auch unsere Stimmung. Und umgekehrt: Wenn wir die Schultern senken und straffen, den Kopf heben und einen wachen unternehmungslustigen Blick bemühen, ändert sie sich ebenfalls. Man kann sich denken, dass solche Camouflage nicht lange währt und wir wieder in den unbewussten Ausdruck unserer wirklichen Gemütslage zurückfallen. In Gruppen lasse ich gleichwohl als Aufwärmübung während des Spazierens durch den Raum die Teilnehmer die Arme begeistert in die Höhe werfen und „Oh Wonne!“ rufen. Jeder weiß, dass das albern ist, also kommt zur Verstärkung noch ein amüsiertes Lächeln oder gar Lachen über sich selbst und über die Therapeutin mit ihrer absurden Aufgabe hinzu.
Wolfgang Petersen könnte diese alberne Übung dringend gebrauchen, so gebrochen, wie er aussieht. Anne hat mir von ihm erzählt, gesehen habe ich nur die Fotos des jungen smarten Mannes. Ab zwanzig mit Bart und langen Haaren.
Dieser Mann, der vor mir sitzt, hat mit dem auf den Fotos nicht die geringste Ähnlichkeit. Er ist ungefähr in meinem Alter, aber er wirkt wie mindestens siebzig, wenn nicht älter. Seine Wangen sind eingefallen, die Lippen leicht lila verfärbt, die blassblauen Augen liegen in tiefen Höhlen wie in Morast. Er bewegt seinen Mund, als kaue er auf der Innenseite seiner Lippen. Seine fast weißen Hände sind von dicken blauen Adern durchzogen. Er faltet sie, als wolle er sie festhalten.
Ich weiß, dass er schwerkrank ist. „Mein Vater hat ihn gebrochen“, sagte Anne manchmal. Wolfgang hatte anfangs eine nässende und eiternde Zyste am After, die jedoch jeder Behandlung widerstand und sich dann so ausgewachsen hatte, dass er mehrfach operiert werden musste und heute einen zweiten Darmausgang hat, wo seine Exkremente in einer Art Plastiktüte aufgefangen werden.
Er hat inzwischen einen Nierentumor, der angeblich gutartig ist, dennoch wächst und wächst. Er ist nicht mein Klient, und ich schiebe das Grauen über die Gleichgültigkeit und Unfähigkeit seiner Ärzte während der Stunden mit Anne meist fort. Anne berichtet über ihn, und ich spreche mit ihr über ihre emotionale Reaktion. Sein Schicksal erscheint mir immer wieder ungeheuerlich, Hartz IV-Empfänger scheinen in unserer Gesellschaft auch von Ärzten als Menschen betrachtet zu werden, um deren Gesundheit es sich nicht zu kämpfen lohnt.
Jetzt sitzt er vor mir und hält sich an seinen eigenen Händen fest. Was für ein Drama, denke ich, und es schnürt mir die Kehle ab. Wie konnte aus einem so vielversprechenden Mann ein solches Wrack werden!
„Ich musste einfach nach Hamburg kommen“, sagt er nach einer Zeit, in der ich ihn angeschaut und geschwiegen habe. „Ich wusste nicht, mit wem ich reden könnte. Zu Ihnen hatte Anne Vertrauen.“ Er lächelt spöttisch. „Hatte? Sie lebt ja noch. Tot ist Johannes. “
Er hebt den Blick, der angestrengt auf den Tisch gerichtet war, und sieht mich gequält an. „Was ist da geschehen, Kristien?“ Errötend wirft er mir einen beschämten Blick zu. „Entschuldigung. Wenn Anne und ich über Sie gesprochen haben, hat sie immer Kristien gesagt, es war gar nicht leicht für mich, Ihren Nachnamen rauszukriegen.“
Erstaunt sage ich: „Sie müssen sich nicht entschuldigen. Aber wenn Sie nur meinen Vornamen kannten, woher haben Sie dann die Adresse?“
Er grinst. Und hinter dem Drama seines Lebens blitzt plötzlich die Intelligenz des jungen Mannes auf, von dem Anne gesagt hat, der hätte eine richtige Karriere machen können, so wie dem in der Schule alles zugefallen ist.
„Internet macht’s möglich“, sagt er triumphierend. „Kristien und psychologische Praxis und Eimsbüttel, schon hatte ich Sie. Und Ihre Website hat genau das gezeigt, was ich von Ihnen wusste.“
Er hat recht. Es wird nicht schwer gewesen sein. Kein besonders hoher IQ war notwendig. Ich bin fast etwas enttäuscht. Ich wüsste gern, ob Annes Einschätzung mit der Realität übereinstimmt, dass ihr Bruder, wenn ihr Vater ihn nicht systematisch kleingemacht hätte, wirklich mit einer so brillanten Intelligenz gesegnet ist, oder ob das nur ihrem Wunschdenken entspricht.
Der Vater ist klein und schmächtig. Ich habe ihn nicht nur auf Fotos gesehen, sondern auch in natura. Er hatte zu seinem Sohn hochblicken müssen.
„Ich möchte Anne helfen“, Wolfgang seufzt. „Die hat nie und nimmer Johannes umgebracht.“ Seine Stimme wird laut, und ich wundere mich, welch wütende Kraft darin steckt: „Nie und nimmer. Das kann sie gar nicht.“
Ich weiß, dass Anne von Zorn überwältigt werden kann. In meinen Gruppen hat sie zuweilen, überraschend, Wut gezeigt. Vor fünf Jahren hat sie aufgehört, Alkohol zu trinken, weil sie selbst fand, dass sie dann unkontrolliert ausfallend werden konnte. „Alkohol, Gewalt und sexueller Missbrauch, das sind die Übel meiner Familie“, hatte sie spöttisch bemerkt. „Ich kann ja wenigstens den Alkohol kontrollieren, und was das andere betrifft, kommt Willi mir auch nicht mehr über die Schwelle.“
Er ist ihr dennoch zu nah gekommen, hat immer wieder ihre Grenze überschritten, doch daran will ich jetzt nicht denken.
Ich mustere Wolfgang und versuche, zu verstehen, was er von mir will.
Da sagt er es auch schon: „Ich bin gekommen, um Sie zu bitten, uns zu helfen. Anne und mir.“
Anne und ihm? Welche Hilfe braucht er? Ich verkneife mir die Frage, bleibe still und höre zu. Ich weiß, dass er unendlich viel Hilfe bräuchte. Anne hat die Vermutung geäußert, dass seine Analfistel ein Ausdruck dessen ist, dass ihr Vater auch ihren großen Bruder vergewaltigt hat. Bei ihr hat er begonnen, als sie vier Jahre alt war. Was hat er die Jahre davor getan?
Was Anne sicher weiß, ist, dass Willi ihren Bruder immer wieder halb totgeschlagen hat. „Er wollte ihn brechen“, sagte sie. „Er hat es nicht ausgehalten, dass sein Sohn stärker und schöner und vor allem viel, viel klüger war als er.“ Willi war nicht nur sexuell gewalttätig, er liebte es auch, Macht zu spüren, wenn er seine Kinder schlug. Mit einem Gürtel, mit einem Stock, mit der Hand. Nackt. Bekleidet. Wolfgang hat Anne einmal gestanden, er verstehe es selbst nicht, aber er finde es erregend, wenn seine Freundin ihm wehtue. Die gelernte Wahrnehmung von Schmerz als Ausdruck von Zuwendung.
Wie soll ich helfen?
Eigentlich hatte Wolfgang Ingenieur werden wollen, eigentlich hatte er den Hof des Vaters als ältester Sohn übernehmen wollen, eigentlich interessierte er sich für Maschinen und Technik. Aber Willi hatte sich geweigert, sein Studium zu finanzieren, wie er vorher schon unterbunden hatte, dass Wolfgang aufs Gymnasium ging. Mittlere Reife, mehr kam ihm nicht ins Haus. Also besuchte Wolfgang danach die Fachoberschule für Maschinenbau, um im Anschluss daran Ingenieurswesen zu studieren. Er beantragte BAföG, aber das erhielt er nicht, weil sein Vater sich weigerte, die Formulare auszufüllen. „Wenn Sie sich einverstanden erklären, dass wir uns das Geld von Ihrem Vater zurückholen, erledigen wir alles für Sie“, sagte die Frau im BAföG-Amt freundlich. Wolfgang nahm die Papiere mit, schämte sich entsetzlich, für seinen Vater, für seine Familie, für seine Existenz. Und begann, Taxi zu fahren.
Vier Semester hielt er durch. Dann verließ seine Freundin ihn. Sie hatten einander kaum mehr gesehen, tags arbeitete sie, nachts fuhr er Taxi.
Anne hatte sich gut mit ihr verstanden, auch sie erlitt bei der Trennung einen Verlust. Aber sie konnte Rieke verstehen. Die gestand ihr verschämt ein, dass Wolfgang sich sexuelle „Sachen“ wünschte, auf die sie nicht die geringste Lust hatte. Das am wenigsten Befremdliche war noch sein Genuss, wenn er ihre Füße küssen durfte, was in ihr ein Gefühl von Einsamkeit auslöste, denn er war dabei körperlich und seelisch weit entfernt, und ihre Füße waren nicht ihre erogensten Zonen.
Ich schaue Wolfgang an. Es wirkt, als hätte er sich herausgeputzt wie für die Rolle des Losers in einer Theateraufführung. Seine Haare sind zu lang. Sie waren einmal wellig, das habe ich auf den Fotos gesehen, jetzt sind sie schütter. Ungepflegt sieht er aus, ein in die Jahre gekommener Hippie, der sich nicht oft genug die Haare wäscht. Und den Rest vielleicht auch nicht.
Er sucht die Demütigung! Erschrocken über die Härte, mit der ich das denke, frage ich: „Wie soll ich Ihnen helfen?“ Meine Stimme klingt müde. Wolfgang scheint diese Müdigkeit anzuspornen. Er beugt sich vor und lässt plötzlich hinter seiner schlaffen und kraftlosen Erscheinung einen Willen spüren, dass ich unwillkürlich aufmerke. „Sie sind Psychologin, Sie haben einen Doktortitel, Sie sind eine reife Frau, Ihnen schenkt man eher Glauben als uns.“
„Was soll man mir denn glauben?“, stammle ich gerade noch, dann stürzt das Unheil über mich herein. Voller Scham merke ich, dass mein Gesicht tomatenrot wird, meine Kleidung saugt den Schweiß auf, der aus mir herausbricht, als sei ich ein Berg, aus dem Quellen hervorschießen. „Entschuldigen Sie“, sage ich. Meine Stimme klingt peinlich zitterig. Auch meine Knie sind nicht ganz stabil. Ich wanke hinaus. Im Schlafzimmer werde ich den Anfall abwarten und mich dann kurz umziehen. Wie entsetzlich demütigend ist das bloß!
Als ich zurückkomme, hat Wolfgang sich ein Glas Wasser aus meiner Leitung eingeschenkt. Er hat seinen olivfarbenen Parker über die Lehne des Küchenstuhls gehängt. Er trägt einen schiefergrauen Anzug und einen weinroten Schlips. Er steht vor der Balkontür und blickt sinnend auf den Hinterhof. Einen Augenblick lang erkenne ich den jungen smarten Mann von Annes Fotos. Er ist immer noch groß, seine Schultern sind breit, er ist schlank und hat lange Arme und Beine. Er hat eine überraschend gerade Haltung. Als ich in die Küche trete, wendet er sich mir zu. Seine hellen Augen lächeln. Er sagt es nicht, aber ich lese es in seinen Augen. Wechseljahre.
Ich trete die Flucht nach vorn an. „Schön, dass Sie abgelegt haben. Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe nicht viel Zeit, gleich geht es hier bei mir weiter. Jetzt ist gerade meine Mittagspause. Sagen Sie mir bitte, wie ich Ihnen helfen soll.“
Ich lasse ein großes Glas aus der Wasserleitung einlaufen und kippe es in einem Zug hinunter, bevor ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen lasse. Diese Anfälle bewirken kaum stillbaren Durst und sehr weiche Beine. Er setzt sich ebenfalls. Nun sieht er wieder aus wie vorher: ein gebrochener Mann, fast Penner, der Kleidung aus der Kleidersammlung trägt.
Aber seine Stimme ist anders, ruhiger, gelassener, männlicher. „Sie wissen, dass Johannes von Willi als Alleinerbe des Hofes und der Ländereien eingesetzt wurde. In einer Anwandlung von Ehrlichkeit hat er es Anne gesagt. Anne leitete danach juristische Schritte ein und erfuhr so, dass in der Vereinbarung zwischen Willi und Johannes steht, dass sie und ich jeweils 50 000 Euro bekommen, sobald Willi stirbt. Anne war so zornig, dass sie gegen Johannes prozessieren wollte, damit ihr Pflichtanteil gesichert und ins Grundbuch eingetragen wird.“
Er hält inne und sieht mich prüfend an. Ich nicke. Ja, das weiß ich alles. Ich weiß auch mehr. Ich weiß, wie unglaublich schwer es ihr gefallen ist, diesen juristischen Schritt gegen ihren Bruder einzuleiten. Man prozessiert nicht gegen Familienangehörige, über dieses Tabu haben wir mehrere Sitzungen lang gesprochen, bis sie schließlich strahlend zu mir kam und sagte: „Ich habe es getan. Ich habe das Tabu gebrochen.“ Sie kicherte wie ein kleines Mädchen und fügte hinzu: „Ich habe noch ein Tabu gebrochen: Ich habe einen ganzen Weihnachtskalender auf einmal geplündert.“
Und ich weiß, dass Wolfgang sie bei der Anwältin nicht unterstützt hat. Sie hat sich von ihm im Stich gelassen gefühlt. Sie hat versucht, es zu erklären. „Das kann schwierig für ihn werden. Wenn ein Hartz IV-Empfänger 50 000 Euro hat, zahlt das Amt nicht mehr. Vielleicht will er das Geld gar nicht.“
Nach einer gedankenschweren Pause fährt Wolfgang fort: „Ich weiß, dass Anne sehr zornig auf Johannes war, aber warum um alles in der Welt soll sie ihn ermordet haben, und dann noch mit irgendwelchen sexuellen Quälereien? Das ergibt keinen Sinn.“ Wieder sackt er in sich zusammen. Die Klarheit, die eben noch in seinen Augen gelegen hat, die Festigkeit seiner Stimme, die Breite der Schultern, alles fällt in einer Sekunde in sich zusammen, und übrig bleibt ein Mensch, der zu dem unteren Drittel unserer Gesellschaft gehört, jenen, die von Ärzten und sonstigen Menschen mit fester Arbeit und akademischer Qualifikation von oben und möglichst gar nicht betrachtet werden. Invisible?
Mir schießen plötzlich Fotos von Marie-Christine Woehrl in den Sinn; sie hat Opfer fotografiert, die von Bränden oder Säureangriffen für ihr Leben verunstaltet sind. Auf einem Vortrag über dieses Werk sagte sie, die Idee dazu sei ihr auf einer Party gekommen, als die Gastgeberin sie beiseite genommen und gebeten habe, sich um einen bald erscheinenden Gast zu kümmern, einen Mann, dessen Gesicht durch einen Motorradunfall verunstaltet sei. Marie-Christine sagte, sie hätte sich sofort bereiterklärt, aber als der Mann erschien, habe sie begriffen, wie schwer es war, ihn anzuschauen. „Ich hatte so etwas noch nie erlebt“, sagte sie. „Als er in den Raum trat, schauten alle hin, und eine Sekunde später war es, als wäre er gar nicht da. Als wäre er unsichtbar.“
So heißt auch ihr Fotoband: Invisible.
Viele seelische Schäden sind mindestens genauso prägend und schrecklich wie diese sichtbaren Verunstaltungen. Und auch von diesen Schäden schauen die Menschen weg. Sie halten es nicht aus.
Dafür sind Psychologen da. Sie schauen hin, auch wenn es schwer zu ertragen ist. Sie finden eine Sprache, auch wenn alle anderen verstummen.
Ich stütze mein Kinn auf meine gefalteten Hände und sehe Wolfgang nachdenklich an. Er hat das Fahrgeld von Kiel hierher bezahlt. Er hat seinen Anzug angezogen und meine Adresse herausgefunden. Er hat hier geklingelt und sich dem Gespräch mit mir gestellt. Das alles muss ihm sehr wichtig sein. Aber irgendetwas hat er mir nicht erzählt. Ich verstehe, dass er sich Sorgen um seine Schwester macht, wer täte das nicht, dennoch gibt es mehr, das spüre ich deutlich. Irgendetwas verheimlicht er mir.
„Gibt es etwas, was Sie mir sagen möchten?“, frage ich. Ich weiß schon, dass er mit Nein antworten wird. Wie auch anders? Sonst hätte er es ja längst erzählt.
Da sagt Wolfgang zu meiner Überraschung: „Ja, ich bin hierher gefahren, weil ich dachte, dass ich das loswerden muss.“ Ich werde wach. Richtig wach. Ich blicke ihn durchdringend und abwartend an, aber nicht so, dass er Angst vor mir bekommen könnte. Ich lächle und senke den Kopf ein wenig. Als er immer noch schweigt, sage ich auffordernd: „Und?“
Er holt tief Luft. „Anne und ich haben uns in der letzten Zeit immer wieder ausgemalt, wie wir Johannes und Willi umbringen könnten. Das war gewissermaßen eine Kompensation unserer Ohnmacht.“
Oh, denke ich, du kennst dich in psychologischer Terminologie aus. Ich warte ab, bis er seine Sprechpause beendet hat. Das gehört zu meiner Arbeit, ich kann die Spannung von langen Gesprächspausen aushalten.
Da geschieht es. Er beugt sich weit über meinen Küchentisch, legt die Hände offen zwischen uns wie zur Demonstration, dass er nichts zu verbergen hat, sieht mir beschwörend in die Augen und raunt: „Das waren schlimme Fantasien, tut mir leid, aber wir sind beide nicht mit Samthandschuhen angefasst worden. Wir sind Gewalt gewohnt. Und Willi hat uns beiden verdammt wehgetan, und Johannes …“, er stockt, seine Gefühle überwältigen ihn, er schluckt, seine Augen werden feucht, seine Gesichtsfarbe verändert sich vom Blassen zum Rötlichen. „Es tut mir trotzdem leid, dass er tot ist. Er ist, war …, ist … ja irgendwie mein Bruder.“ Er fasst sich wieder, schließt die Hände wie zum Gebet und sagt: „Er hat uns beide gewaltig betrogen, wir mussten ja damit rechnen, dass er auch die 50 000 für jeden von uns noch beiseite schaffen würde, der ist ja raffiniert, wir haben uns überlegt, dass wir ihn abmurksen müssen, dann sind wir die einzigen Erben. Willi wird ja nicht ewig leben, der ist siebenundachtzig Jahre alt, der ist angeblich krank, obwohl er aussieht wie das blühende Leben, also, wir haben uns überlegt, Johannes ins Jenseits zu schicken und ihm dabei noch ein bisschen wehzutun“, er räuspert sich, „ordentlich wehzutun.“ Er zieht seine Arme zurück, lehnt sich an die Stuhllehne, ist nun wieder entfernt.
Aus dieser Distanz sieht er mich an. In seinem Blick liegt jetzt so etwas wie Überlegenheit. Diesen Blick habe ich schon bei seinem Vater gesehen, als der damals eine halbe Stunde in meiner Praxis war. Eine halbe Stunde, an die ich nicht gern zurückdenke. Ein Blick von oben herab, ein leicht zurückgelehnter Kopf, ein gerecktes Kinn. Willi ist klein, da wirkt dieser Blick angestrengt, Wolfgang ist groß, dennoch liegt Mühe um überlegene Distanz darin.
„Ist Ihnen klar, dass Sie Ihre Schwester gerade sehr belasten?“, frage ich. Und füge hinzu: „Ich bin keine Richterin und auch sonst keine juristische Größe. Warum erzählen Sie mir das? Sie müssten zur Polizei gehen.“
Er lächelt. „Ich will Anne nicht belasten …“ Er schweigt, ich auch. Er blickt mich an, als ginge es um das Kinderspiel: Wer am längsten gucken kann …
„Was wollen Sie dann?“, frage ich nach einer Weile. „Wofür müssen Sie mir erzählen, dass Anne und Sie sich Mordfantasien hingegeben haben, nachdem sie wohl Ihren Bruder ermordet hat?“
„Glauben Sie das?“, fragt er. „Glauben Sie, dass Anne Johannes ermordet hat und dann noch so bestialisch?“
Bestialisch?, denke ich. Wie kommst du auf bestialisch? Was weißt du über den Mord? Jetzt lege ich den Kopf in den Nacken und mustere ihn. „Warum sind Sie zu mir gekommen, Herr Petersen?“, frage ich, und meine Stimme überrascht mich selbst, so kalt ist sie.
„Keine Ahnung“, murmelt er. Leise wie bei einer Beichte, als spräche er zu sich selbst, sagt er: „Es ist scheußlich, dass sie weg ist. Sie ist seit ewigen Zeiten da, in meinem Leben, und sie hat mich immer geliebt. Sie hat mich früher bewundert, das hat sich irgendwann verkehrt. Sie ist zu Ihnen gegangen und hat sogar Willi konfrontiert und überlistet, dass er auch zu Ihnen gekommen ist, sie hat allen erzählt, dass er sie vergewaltigt und missbraucht hat, sie hat das ausgehalten, sie ist daran nicht zugrunde gegangen, das habe ich bewundert. Das könnte ich nie. Und überhaupt! Sie hat eine Arbeit, sie verdient Geld, sie gibt sogar mir immer mal wieder was, sie lädt mich zum Essen ein, ich kann sie immer anrufen, wenn ich bei Ärzten bin, die mich behandeln wie den letzten Dreck, wie geistig unterbelichtet, dann ruf ich sie an, und sie weiß, dass ich nicht geistig unterbemittelt bin, sondern einfach Pech im Leben hatte …“
Er vergräbt den Kopf in beiden Händen. Ich höre zu, schaue ihn an, jetzt ist er gerade vollkommen echt, das ist keine Show. Er blickt wieder hoch. „Ich musste zu irgendjemandem gehen, der wie ein Teil von Anne ist. Sie kommt so lange schon zu Ihnen, sie erzählt so viel von Ihnen, Sie sind wie jemand, der ihr das Leben gerettet hat, ach, wie jemand, der ihr geholfen hat, überhaupt zu leben, und jetzt ist sie weg, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil wir uns immer ausgemalt haben, wie wir die beiden abmurksen können, und jetzt hat sie es vielleicht getan. Ganz alleine.“ Die letzten Worte presst er heraus. Gequält.
Aber ich kann ihm die Schwester nicht ersetzen. Ich kann gar nichts für ihn tun. Als Therapeutin muss ich manchmal unangenehme Wahrheiten aussprechen, und so tue ich es auch jetzt: „Ich fürchte, dass ich nichts für Sie tun kann. Ich würde auch gerne etwas für Ihre Schwester tun, aber ich fürchte, auch da habe ich keine Möglichkeit.“
„Doch!“, widerspricht er heftig. „Für Anne können Sie etwas tun, und ehrlich gesagt, ich finde, Sie sind dazu sogar verpflichtet. Haben Sie mal ausgerechnet, wie viel Geld Anne im Laufe der Jahre zu Ihnen getragen hat? Das ist bestimmt mehr als ein Kleinwagen. Lassen Sie uns mal ausrechnen: zehn Jahre mindestens und ungefähr alle zwei Wochen achtzig Euro, anfangs häufiger, später seltener. Das sind …“ Er denkt viel zu kurz nach für das präzise Ergebnis, das dann herausschießt: „Tausendachthundert pro Jahr, achtzehntausend in zehn Jahren. Und dann noch die Gruppen undsoweiter dazu. Von achtzehntausend hätte Anne sich ein Auto kaufen können, das man einhändig fährt.“ Ich widerstehe dem Drang zu widersprechen. Es gab zwei, drei Jahre, in denen sie nicht zu mir gekommen ist, anfangs war mein Honorar niedriger als achtzig Euro. Das ist alles Unfug. Er hat recht. Anne hat sehr viel Geld an mich gezahlt, jetzt kann ich nicht einfach so tun, als ginge mich das alles nichts an.
Viel wichtiger ist: Sie hat mir ihr Vertrauen geschenkt. Sie hat mir von ihrer Befürchtung berichtet, sie könnte sich vor einen Zug werfen. So kam sie zu mir. „Manchmal wenn ich auf einem Bahnsteig stehe und der Zug fährt ein, habe ich das Gefühl, ich müsste mich vor den Zug werfen. Der Bahnsteig schwankt dann unter meinen Füßen, und ich denke, ich werde hinunterfallen. Ich habe Angst, dass ich es eines Tages tu.“
Das ist alles lange vorbei. Die Arbeit mit Anne war hart, die härteste meines therapeutischen Lebens. Manchmal habe ich gedacht, ich halte es nicht aus. Wochenlang hatten wir einen Kotzeimer im Zimmer stehen, weil sie immer, wenn sie etwas über ihren Vater preisgab oder gar wagte, einen Anflug von Wut zu empfinden, würgen musste und meinte, sie müsste sich übergeben. Damals ging es noch gar nicht um den sexuellen Missbrauch. Damals ging es nur um seine Gewalt, die Schläge, ihre Angst vor ihm.
Ich habe keine Zeit mehr, mich mit Wolfgang zu beschäftigen. Rocco steht schwanzwedelnd neben mir und stupst mich an. Gleich gehe ich mit ihm, dann ruhe ich mich kurz aus, bevor ich die Unterlagen zu den Klienten hervorhole, die ab sechzehn Uhr kommen. Bis zwanzig Uhr muss ich mich auf andere Menschen fokussieren als auf Anne oder Wolfgang. Ich stehe auf und sage: „Tut mir leid, ich muss einen Hundespaziergang machen, und dann geht es hier weiter.“
Er bleibt sitzen. „Sie können mich doch nicht einfach wegschicken. Ich bin aus Kiel extra hierhergekommen. Das geht doch nicht.“
Ich sehe Wut in seinen Augen glimmen. Das ist eine sehr alte Wut, die schwelt schon lange vor sich hin. Eine Nanosekunde lang habe ich Angst vor ihm.
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Nächster Hundespaziergang, zweiundzwanzig Uhr. Es umgibt mich eine trockene Kälte, der Himmel ist sternenklar. Wenn ich keinen Hund hätte, würde ich jetzt im Bett liegen und mich wahrscheinlich wälzen, übervoll von Menschengeschichten. Es fühlt sich an, als würde Wolfgang mir im Nacken sitzen.
Wir spazieren durch die kleine Grünanlage an der Apostelkirche, gehen die Sillemstraße zurück, an Odysseus Restaurant vorbei, heute Abend steht der Kellner nicht vor der Tür, um zu rauchen. Im Weinladen sitzen noch zwei Nachzügler. Little Buddha hat schon geschlossen.
Nun stehen wir vor dem Haus, in dem ich seit dem 17. November wohne. Es fühlt sich immer wieder seltsam an, dass dies mein Zuhause sein soll. Unwillkürlich blicke ich mich um. Könnte es nicht sein, dass Max jetzt zu mir kommt, mich in den Arm nimmt und sagt: Komm nach Hause, Süße, da, wo du hingehörst.
Aber ich kann den Schlüssel im Schloss drehen, die Stufen zum ersten Stock hochgehen, der einzige, der bei mir ist, immer bei mir, ist Rocco. Ich wohne im ersten Stock eines Hauses, das Anfang des vergangenen Jahrhunderts erbaut worden ist. Wohne ich? Eher verstecke ich mich wohl. Vor Max. Vor meinem Schmerz. Vor einer Welt, in der alles falsch geworden ist. Trotz allem: Sobald ich die Tür hinter mir schließe, fühle ich mich geborgen.
Ebenso wie Altona war Eimsbüttel zu der Zeit, als dieses Haus gebaut wurde, ein Arbeiterviertel. Die kleinen Wohnungen haben „Arbeiterstuck“. In den hiesigen Dreizimmerwohnungen lebten vor dem Krieg große Familien, nach dem Krieg bot jedes der Zimmer einer Familie ein Zuhause, heute wandelt sich das Viertel in eines für junge, gut verdienende Menschen.
Die Wohnung hat nach vorn ein großes Zimmer, das durch einen Durchbruch aus zwei Zimmern entstanden ist. Nach hinten hinaus liegt die Küche und das kleine Schlafzimmer. Es war für mich als Praxis perfekt. Das Schlafzimmer hatte ich als Wartezimmer eingerichtet, nach vorne liegen mein Beratungs- und mein Arbeitszimmer, wo ich im Zweifelsfall auch im kleinen Rahmen so etwas wie Tanztherapie, besser Bewegungsarbeit, leisten kann. Es war eine großzügige Praxis, in der ich meine Pausen genoss. Manchmal, wenn ich sehr lange gearbeitet hatte, machte ich mir auf dem Schlafsofa, das auch mein Therapiesofa ist, mein Bett und schlief hier. Max konnte das nicht leiden. Er fühlte sich von mir allein gelassen. Das verstand ich. Aber ich fühlte mich von ihm auch oft alleingelassen. Ohne ihn war ich manchmal weniger allein.
Jetzt ist meine Praxis nicht mehr großzügig, und es ist mir sehr peinlich, wenn meine Klienten wahrnehmen, dass ich hier neuerdings wohne. Das kommt mir verdammt unprofessionell vor. Was soll ich ihnen auch sagen: Mein Mann hat mich übelst belogen und betrogen, gleichwohl hänge ich noch an ihm, bin aber ausgezogen, weil ich es nicht ertragen kann, mit ihm unter einem Dach zu leben, hoffe dennoch, alles wird gut?
Ich bin Paartherapeutin!
Ich gehe in die Küche, bereite mir einen Entspannungstee, den ich neben das Bett stelle. Nun brauche ich noch ein Buch. Den Irving habe ich zu Ende gelesen. Vielleicht sollte ich geliebte Bücher doch nicht dreimal lesen.
Meine Augen schweifen über mein Regal. Ich suche nach etwas, in dem ich mich wiederfinden kann. „Der glücklose Therapeut“ von Noam Shpancer, das ist es. Ich lese, bis mir die Augen zufallen. So halte ich es, seit ich hier alleine schlafe. Bis nachts um drei geht es meistens gut. Dann aber holt mich alles ein.
Heute Nacht bleibt es nicht bei meiner Panik, was aus mir ohne Max werden soll, heute Nacht sitzt Wolfgang neben mir am Bett und sagt vorwurfsvoll: „Einen Teil dieser Wohnung hat meine Schwester mitfinanziert, und jetzt willst du deine Hände in Unschuld waschen? An Annes Händen klebt Blut und Sperma und Schuld, und du willst so tun, als hättest du damit nichts zu schaffen? Ihr seid doch alle gleich, Ärzte, Psychos, Heilpraktiker. Ihr kassiert, und dann macht Ihr Feierabend. Und wenn was schiefgeht, dann seid Ihr es nicht gewesen. Dann war es das Schicksal, die Krankheit, die Umstände, die anderen. Ihr müsst eure Privatsphäre schützen? Pack!“
Ich sehe auch Anne vor mir, diese ungewöhnlich schöne Frau, zeitweilig zu dünn, dann wieder perfekt schlank, mit langen muskulösen Beinen und einem sehr kräftigen Arm. Ihre Gesichtshaut schimmert wie Elfenbein, und ihre Haare sind blond und leicht gewellt wie die von Marilyn Monroe. Im Gegensatz zu der schminkt Anne sich allerdings nie. NIE. Sie vermeidet alles, um nicht „nuttig“ auszusehen, will auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie wolle Männer locken. Anne hat die gleichen aquamarinfarbenen Augen wie ihr Bruder. Echter Aquamarin, nicht wässrig babyblau wie synthetischer. Wenn sie sie schminken würde, wären ihre Augen spektakulär, so gehen sie in der allgemeinen Blässe manchmal unter. Im Gegensatz zu ihrem engelhaften Äußeren bewegt sie sich eher wie ein Mann. Anne hat Fußball gespielt und ist Motorrad gefahren. Bis ich sie kennenlernte, wusste ich nicht, was alles mit einem Arm möglich ist.
„Anne, wo bist du?“, frage ich in mein kaltes dunkles Zimmer.