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Am 5. Juni stand ich um drei Uhr vor dem Postamt in Seewang, um Fräulein Posiegel in Empfang zu nehmen. Es war dies eine Höflichkeit, die ich unserem ersten Gast schuldig zu sein glaubte. Johannes hatte das Ansinnen, Fräulein Posiegel mit August abzuholen, mit der unangebrachten Bemerkung zurückgewiesen, er verspüre keine Lust, Chauffeur in Sophienlust zu spielen. Wir waren im Zorn voneinander geschieden; ich konnte nicht umhin, seiner mit Groll zu gedenken, während ich, gemeinsam mit Xaver Windschagl und seinem Handwagen, auf den Autobus wartete.

In der Tür der Gemischtwarenhandlung lehnte gemächlich Herr Übelacker. Auch die spitze Nase des ältlichen Fräulein Wimmer tauchte zwischen Bonbongläsern und hochgeschichteten Schokoladetafeln auf. Es hatte sich herumgesprochen, daß wir unseren ersten Gast erwarteten.

Fahrplanmäßig um 15 Uhr 10 donnerte der rote Autobus heran. Es entstiegen ihm nur zwei Fahrgäste. Der eine war mir als der Molkereibesitzer Pischetsrieder bekannt; es gehörte nicht viel dazu, herauszufinden, daß der andere Fräulein Posiegel war. Ich näherte mich klopfenden Herzens der hageren Gestalt im grauen Staubmantel. „Fräulein Posiegel?“

Die alte Dame, die mit Feldherrnblick den Transport ihres Gepäcks vom Dach des Autobus herab auf die Straße überwachte, drehte sich überrascht um. Ich sah in zwei hellblaue Augen von durchdringender Klarheit. „Frau Berthold?“ sagte eine sonore Stimme. „Wie reizend von Ihnen, mich abzuholen!“

Nachdem der Koffer in Xaver Windschagls Handwagen verstaut war, fragte ich Fräulein Posiegel, ob es ihr nichts ausmache, die zehn Minuten Weges nach Sophienlust zu Fuß zurückzulegen. Fräulein Posiegel lachte — es klang wie das rauhe Lachen eines alten Generals. Während wir auf der sonnigen Landstraße dahinschritten, teilte sie mir mit, daß sie, ihren siebzig Jahren zum Trotz, noch ausgezeichnet zu Fuß sei und die Gewohnheit habe, bei jedem Wetter spazieren zu gehen.

„Man darf sich nur nicht gehen lassen“, rief sie aus, „sonst gerät man zum alten Eisen, ehe man sich’s versieht!“ Ich stimmte zu, nicht allein aus Höflichkeit; Fräulein Posiegel machte in der Tat einen erstaunlich rüstigen Eindruck, niemand hätte sie für eine Siebzigerin gehalten.

An der Haustür empfing uns Rosa im schwarzen Kleid und weißen Häubchen. Im Hintergrund verfolgte Hinz mit Interesse unseren Einzug. Ich warf ihm einen drohenden Blick zu. Da er sich erbittert geweigert hatte, Fräulein Posiegel zu Ehren ein sauberes Hemd anzuziehen, war ihm anbefohlen worden, auf keinen Fall in Erscheinung zu treten.

In der Diele blieb Fräulein Posiegel wie angewurzelt stehen. Sie schien mit Behagen den kühlen Moderduft zu atmen, ihr Blick streifte das Bildnis des ironischen Vorfahren und blieb an den Geweihen hängen. „Entzückend, die Hürschgeweihe!“ rief sie begeistert aus. Auf der Treppe zum ersten Stock berichtete Fräulein Posiegel, sie sei in einem Forsthaus aufgewachsen. Seit ihrer Kindheit hatte sie nie wieder „Hürschgeweihe“ in so reicher Anzahl angetroffen.

Ihre Freude war groß, als sie auch in der „Arena“ eines über dem Waschtisch entdeckte. Gottseidank fand die „Arena“ Fräulein Posiegels vollen Beifall. Sie trat auf den Balkon hinaus, der See erglänzte in wahrhaft himmlischer Bläue, von weißen Segeln fröhlich belebt, am Himmel trieben weiße Wölkchen wie eine Lämmerherde dahin — Fräulein Posiegel drückte mir bewegt die Hand. Sie nannte Sophienlust ein „hümmlisches Fleckchen Erde“ und uns „Auserwählte des Schicksals“, weil wir es bewohnen durften.

Zum Abendessen erschien Johannes. Fräulein Posiegel hatte den ganzen Nachmittag mit mir auf der Terrasse gesessen; ich hatte erfahren, daß sie, ehemals Lehrerin an einer „Höheren Töchterschule“, nun ihren Lebensabend in Potsdam verbrachte, im Besitz einer Rente, die ihr ein behagliches Dasein gestattete. Ich war in ihren Bekanntenkreis eingeweiht worden, in dem Superintendent Schlüters eine Hauptrolle zu spielen schienen, und wußte, daß sie ihre kleine Wohnung beruhigt hatte verlassen können, weil Frau Wirsing, die Zugehefrau, ein wachsames Auge darauf haben würde. Um diese Kenntnisse bereichert, entfloh ich in die Wirtschaftsräume, als Johannes erschien, und überließ ihm mit einem Gefühl der Erleichterung unseren ersten Gast.

Im Fortgehen hörte ich Fräulein Posiegel fragen, ob Johannes Jäger sei. „Diese Hürschgeweihe! Sie müssen wissen, mein lieber Vater —“ Ich konnte mich eines schadenfrohen Lächelns nicht erwehren. Johannes, der nie den Mund auftat, nun war die Reihe an ihm!

Sommergäste in Sophienlust

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