Читать книгу Sommergäste in Sophienlust - Ell Wendt - Страница 6
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ОглавлениеAm nächsten Tage fuhren wir hinaus nach Seewang a. See. Der sechste März gab dem fünften an Unfreundlichkeit nichts nach. Ein kalter Regen schlug gegen die Windschutzscheibe und zwang Johannes, den Scheibenwischer in Tätigkeit zu setzen, eine Maßnahme, zu der wir uns ungern entschlossen, denn der Scheibenwischer hatte die Gepflogenheit, sich festzuhaken und unsere Fahrt mit dem hartnäckigen Tack-Tack eines Maschinengewehrs zu begleiten. Einer von uns mußte dann aussteigen, um ihn zu seiner Pflicht zurückzuführen.
Nachdem ich zum dritten Male ausgestiegen war, wandte ich mich mit der Frage an Johannes, ob er es für möglich halte, daß wir uns einen neuen Wagen leisten könnten, falls wir über Erwarten zahlreiche Gäste bekämen. Johannes schnob verächtlich durch die Nase. Er war stark von August in Anspruch genommen, der auf der holperigen Straße am Seeufer einer kundigen Hand bedurfte. Seewang war von der Stadt in vierzig Minuten mit dem Auto zu erreichen. August benötigte eine Stunde, um die Strecke zu bewältigen. Wir fuhren mit Getöse in den kleinen Ort ein und hielten an, um einen Einheimischen nach der Wohnung des Schreiners Xaver Windschagl zu fragen, der die Schlüssel zum Hause in Verwahrung hatte.
Wir waren nie zuvor in Sophienlust gewesen, da wir zu einer Zeit nach M. zogen, als der Onkel schon seinen ständigen Wohnsitz in L. hatte. Es war uns nur bekannt, daß das Haus etwa zehn Minuten vom Ort entfernt, in stiller Abgeschiedenheit am Seeufer lag.
Xaver Windschagl war nicht zu Hause; statt seiner erbot sich seine Gattin Rosina, uns nach Sophienlust zu begleiten. Sie war eine rüstige Frau in den Vierzigern, deren Dirndlgewand viel Molliges umschloß; während der kurzen Fahrt beklagte sie wortreich sowohl Onkel Theodors Tod als auch Sophienlust, dem die verschiedenen Mieter arg zugesetzt hätten.
„Ein so ein herrliches Haus“, seufzte Frau Windschagl, als wir von der Landstraße abbogen und nach einer kurzen steilen Abfahrt durch ein hölzernes Gatter, das ehemals grün gewesen sein mochte, das Landhaus erreichten.
Wir verließen August und schauten uns beklommen um. Sophienlust war genau das, was man sich um die Jahrhundertwende unter einem Landhaus vorgestellt hatte. Zweistöckig, mit weißem Verputz und roten Sandsteineinfassungen an den Fenstern, mit trutzigen Giebeln und einem massiven runden Turm, der jedem Schloß zur Zierde gereicht hätte und zum Überfluß von einem winzigen Türmchen gekrönt wurde, lag das Haus wie ein Alptraum aus der Ankersteinbaukastenzeit vor uns.
Rundbogenfenster schauten uns an, deren oberes Drittel grün und obendrein mit Seerosenornamentik geschmückt war; hier und da gab es kleine hölzerne Balkons, sie waren der Fassade wie Vogelnester angeklebt. Sophienlust mochte vor dreißig Jahren ein pompöses Bauwerk gewesen sein; heute standen wir, Kinder einer sachlichen und zweckbetonten Zeit, mit frommem Schauder davor.
„Allerhand, was?“ sagte ich kleinlaut zu Johannes, während Frau Windschagl die Haustür aufschloß. Johannes sagte gar nichts.
Nun standen wir in der großen Diele. Die Luft hier drinnen hatte eine verzweifelte Ähnlichkeit mit dem kühlen und atemraubenden Hauch, der einem aus Grüften entgegenweht. An den Wänden war der, weiße Verputz abgebröckelt; ein lebensgroßes Gemälde, irgendeinen Vorfahren aus Onkel Theodors Familie darstellend, schien ironisch so viel verschollene Romantik zu belächeln.
Wir durchschritten die Räume stumm und andächtig wie ein Museum. Onkel Theodor hatte es mit dem Altdeutschen gehalten: wir fanden dunkel getäfelte Wände und Butzenscheiben im Erker des Speisezimmers; wir fanden ein Büfett von unwahrscheinlichen Ausmaßen, mit Zinnen und Türmchen verziert. Es gab viel Zinn auf Wandbrettern und Truhen, kernige Wandsprüche in Brandmalerei, Stühle, deren Ornamentik sich schmerzhaft in den Rücken bohren mußte, und Geweihe! Vor allen Dingen Geweihe!
„Ich wußte gar nicht, daß der Onkel Jäger war“, sagte Johannes verwundert.
In Sophienlust sei der gnädige Herr niemals auf die Jagd gegangen, warf Frau Windschagl ein. Ich erkundigte mich leise bei Johannes, ob man Hirschgeweihe kaufen könne, einfach so im Laden, wie Zinn und Wandsprüche.
„Unsinn“, sagte Johannes ärgerlich und verharrte mit gerunzelter Stirn in Tante Sophiens Wohnzimmer.
Hier feierte der Jugendstil Orgien! Wiederum waren es Seerosen, die sich auf dem verschossenen graugrünen Plüsch der Möbel wanden; sie wiederholten sich auf dem Fries, mit dem die olivenfarbene Tapete abschloß, und kehrten in kunstvoller Holzarbeit auf einer Vitrine wieder, die, ehemals gewiß voll zierlicher Nippes, uns nun aus blinden Glasscheiben anstarrte. Über dem Sofa hing in schwerem Goldrahmen ein Reigen bacchantischer Mädchen in griechischen Gewändern, mit Rosenkränzen im Haar.
Tante Sophiens Wohnzimmer war der erste Raum im Hause, in dem es keine Hirschgeweihe gab. Aber man wurde dessen nicht recht froh.
„Laß uns einen Augenblick hinausschauen“, bat Johannes und trat ans Fenster. Vor uns lag, nur durch eine Wiese mit einem großen Lindenbaum getrennt, der See in grausilberner Weite. Hinter Regenschleiern ahnte man am anderen Ufer die zarten Umrisse sanft geschwungener bewaldeter Hügel. Es war ein Bild von großer geruhsamer Schönheit. Der Druck, der mein Herz umklammert hielt, seitdem wir das Haus betreten hatten, begann sich zu lösen.
Während wir die geschwungene Treppe zum ersten Stock hinaufstiegen, sagte ich zu Johannes: „Wir werden natürlich etwas hineinstecken müssen.“
Johannes sagte nichts; er ging, von unheildrohendem Schweigen umhüllt, durch die Räume. Es waren lauter Schlafzimmer. Wer Onkel Theodors Hang zur Einsamkeit nicht kannte, mußte den Eindruck gewinnen, daß er einer ausschweifenden Gastlichkeit gehuldigt hatte. Betten bekamen wir auf jeden Fall genug. Auch sie wiesen eine verwirrende Fülle kunstvoll gedrechselter Kugeln und zackiger Muschelaufsätze auf, und über Waschtischen und Kommoden hingen wiederum Geweihe.
„Wenn wir die Wände hell anstreichen lassen, wird es gleich freundlicher aussehen“, sagte ich tröstend zu Johannes.
Er schüttelte nur trübe den Kopf. Männer haben keine Phantasie. Johannes’ Blick haftete am trübselig Gegenwärtigeh, ohne die Möglichkeit, es kraft seiner Vorstellungsgabe in ein freundlich Zukünftiges zu verwandeln.
Zuletzt führte uns Frau Windschagl in den Turm, der unverhofft ein rundes Stübchen barg. Hier hatte Onkel Theodors Liebe zu verschnörkelten Möbeln und Hirschgeweihen haltgemacht; die Wände waren weiß gekalkt, und die Leere des kleinen Raumes legte sich besänftigend auf unsere Nerven. In Gedanken stellte ich helle Möbel hinein und versah die Fenster mit Vorhängen aus buntem Chintz.
„Dies wird unser schönstes Gastzimmer werden!“ rief ich frohlockend. Aber Johannes goß Wasser in den Wein meiner Begeisterung. Er behauptete, der Wind werde durch alle Fugen blasen und den jeweiligen Bewohner mit unheilbarem Rheumatismus schlagen. Ich schalt Johannes einen unverbesserlichen Pessimisten und wandte mich mit der Frage an Frau Windschagl, ob sie Lust verspüre, gegebenenfalls die Rolle einer Zugeherin in Sophienlust zu übernehmen.
„O mei“, verwunderte sich die Brave, „a Pension wollen S’ machen da heraußen?“
„Nicht ganz“, verbesserte ich, „wir werden hier wohnen und Gäste aufnehmen, zahlende Gäste.“
„I sog’s ja, a Pension“, beharrte Frau Windschagl und äußerte Zweifel an der Rentabilität eines derartigen Unternehmens. Ich zog es vor, das Gespräch nach einem Blick auf Johannes abzubrechen. Er sah genau so aus, als stimme er Frau Windschagl aus vollem Herzen zu.
Nachdem wir bei einem Gang durch den Park noch ein verfallenes Gartenhäuschen mit bunten Fenstern entdeckt hatten, das die Reste einer tönernen Zwergenfamilie und ein ebenfalls tönernes Reh mit abgebrochenen Vorderläufen barg, verabschiedeten wir uns erschüttert von Frau Windschagl. Wir bestiegen August den Starken und fuhren unter einem gewaltigen Aufwand an Lärm davon.
Auf der Landstraße tat Johannes endlich den Mund auf. Was dabei herauskam, klang nicht sehr ermutigend. Er nannte Sophienlust eine alte Bruchbude, die es verdiene, vom Erdboden zu verschwinden.
„Wie undankbar du bist“, schalt ich, „wenn das der gute Onkel hörte! Natürlich muß im Hause dies und jenes gerichtet werden.“
„Dies und jenes!“ höhnte Johannes. „Tausende wären nötig, um dieses Raubritterschloß in einen menschenwürdigen Zustand zu versetzen.“
Ich mußte lachen; die Vorstellung von Onkel Theodor als Raubritter entbehrte nicht der Komik. „Mit heller Farbe und Cretonne ist schon viel getan“, nahm ich das Gespräch wieder auf.
„Vor allen Dingen müßten Türen, und Fensterrahmen gestrichen werden“, sagte Johannes, dessen Sinn stets in erster Linie auf das Praktische gerichtet war, „und glaubst du etwa, daß unsere Gäste beim Anblick des Badezimmers jubeln werden?“ Nein, das glaubte ich keineswegs! Das Badezimmer war in der Tat ein dunkler Punkt. Es enthielt nichts außer einer verbeulten Blechwanne auf hohen Füßen und einem alten Ofen, der mit Holz zu heizen und schief wie der Turm von Pisa war. Auf Badekultur hatten unsere Altvorderen offenbar keinen Wert gelegt!
„Man müßte einen Waschtisch anbringen“, erwog ich nachdenklich.
„Man müßte, man müßte“, spottete Johannes.
„Mit deinem Pessimismus um jeden Preis kommen wir auch nicht weiter“, sagte ich böse.
Wir waren auf dem besten Wege, in Streit zu geraten. Eine Weile fuhren wir schweigend dahin. August schnob die Straße entlang wie ein Drachen; es war ein Wunder, daß er nicht auch Feuer spie.
„Nun, wir werden sehen, was sich tun läßt“, lenkte Johannes endlich ein.
Wir ließen das Innenarchitektonische vorläufig ruhen und wandten uns der Frage zu, ob Sophienlust gegebenenfalls umzutaufen sei. Es gab allerlei, was dagegen sprach, in erster Linie die Tatsache, daß das Haus unter dem Namen in der Gegend bekannt war. Außerdem hatte der Name etwas von lavendelduftender Altertümlichkeit. Er erinnerte mich an ein altes Schlößchen; es war in einem wundervollen Park gelegen, verwunschen wie Dornröschen, und hatte Sibyllenort geheißen.
„Wie werden sich unsere Gäste freuen, wenn sie sich etwas Ähnliches unter Sophienlust vorgestellt haben und dann der Wirklichkeit ins Auge sehen müssen“, bemerkte Johannes und steuerte August durch die Gefahren des städtischen Verkehrs unserer Wohnung zu.