Читать книгу Theorie und Praxis des Generalstreiks in der modernen Arbeiterbewegung Inauguraldissertation - Elsbeth Georgi - Страница 19
§ 8. Die Klassenstreikidee im englischen Chartismus.
ОглавлениеIn den 1830er Jahren tauchte in England mehrfach der Plan eines "Universalstreiks" auf.[150] Doch der Gedanke, die allgemeine Arbeitseinstellung auch in den Dienst politischer Forderungen zu stellen, ist nicht in den englischen Arbeitermassen, sondern in den Köpfen bürgerlicher Chartistenführer entstanden. Es soll ihnen dabei der Auszug auf den heiligen Berg vorgeschwebt und sie zur Bezeichnung ihres projektierten Streiks als "heilige" Woche veranlaßt haben;[151] sonach wäre also auch unser moderner Klassenstreik durch ein geistiges Band mit der Antike verknüpft.
[150] So forderte Fielden, angeregt durch die energische Propaganda der "Gesellschaft für nationale Wiedergeburt" (von Owen im Dez. 1833 gegründet), die Textilarbeiter von Lancashire zu einem "Universalstreik" zur Erlangung des 8-St.-Tages auf. Ein derartiger Versuch, unter Führung der Baumwollspinner, scheiterte (vgl. S. & B. Webb, "Geschichte des britischen Trade-Unionismus", p. 102, 103, 124, 125). — 1834 trat die "grand national consolidated trades union" ins Leben, und "es war die eingestandene Politik der Föderation, einen Generalstreik aller Lohnarbeiter des ganzen Landes ins Werk zu setzen" (S. & B. Webb, a. a. O. p. 104-106).
[151] Vgl. Bernstein, "Der Streik als politisches Kampfmittel", p. 960.
Die Klassenstreikidee, die im Frühling 1838 im Chartismus erschien, ging von der Birminghamer "political union" aus und wurde ganz besonders von Atwood propagiert.[152] Würde das Parlament "wahnsinnig genug" sein, um die Petition[153] zu verachten, so wolle er das Volk "zu einem feierlichen, heiligen, allgemeinen Ausstand aufrufen, nicht des Arbeiters gegen den Herrn, sondern einem Ausstand aller gegen den gemeinsamen Feind!", "then the working men with such of the middle class as might be disposed to favour their views,[154] should proclaim a solemn and sacred strike from every kind of labour. Not a hand was to be raised to work, but every heart, every head, and every arm was to be directed to the furtherance of the people's cause, until victory smiled upon their efforts".[155] Denn durch "a national strike for one week, during which time not a hammer was to be wielded, nor an anvil sounded, nor a shuttle moved, throughout the country", könne das Volk auf das Unterhaus "exercise ... a little gentle compulsion".[156] — Atwood war Gegner von Gewalttätigkeiten, bekämpfte also auch die Gruppe der "physischen Gewalt" im Chartismus. Wenn er trotzdem ein Mittel empfahl, das unweigerlich zur Revolution führen mußte, so war er sich entweder dieser Konsequenz nicht bewußt,[157] oder — und dies erscheint als das Wahrscheinlichere — er durfte diese Konsequenz außer Acht lassen, weil er gar nicht die Absicht hatte, die holy week wirklich zu inszenieren. Denn Atwood kannte sehr genau die Voraussetzungen ihrer siegreichen Durchführung und wußte, daß, wenn diese Voraussetzungen einmal erfüllt wären, die Chartisten auch ohne Streik siegen konnten. Aber die Vorbereitung eines solchen Ausstandes konnte nach seiner Ansicht die moralische Kraft des Volkes stärken und hierdurch gerade "die wilden und verbrecherischen Verirrungen physischer Kraft" erdrücken;[158] vielleicht glaubte er auch, daß das Parlament vor der Streikdrohung kapitulieren und die Charte gewähren würde, wodurch sich die Frage der heiligen Woche ja ohne weiteres erledigt hätte.
[152] Vgl. Gonner, "The Early History of Chartism", p. 636. — Atwood sprach für den Kl-Str. anläßlich der von der Birminghamer "political union" am 21. u. 28. Mai 1838 veranstalteten Meetings, an denen sich 150 000, resp. 200 000 Demonstranten beteiligten und ihm zujubelten (Birminghamer Journal, 26./5. 1838, cit. bei Tildsley, "Die Entstehung und die Grundsätze der Chartistenbewegung", p. 36, 37); am 16. Aug. 1838 setzte er in der Demonstrationsversammlung im Midland "die heilige Frist von einer Woche fest, wenn das Unterhaus die Petition nicht annähme" (Tildsley, a. a. O. p. 38); ähnlich sprach er auch auf dem großen Birminghamer Meeting 1838.
[153] Mit den 5 chartistischen Forderungen.
[154] Es sollte also nicht eine reine Lohnarbeiterbewegung werden.
[155] Gammage, "History of the Chartist Movement".
[156] Diese Worte machten großen Eindruck auf die Zuhörer (vgl. Gammage, a. a. O. p. 43).
[157] Gammage a. a. O.
[158] Tildsley, a. a. O. p. 48, 49.
Dieser friedfertige Charakter des "national holiday" verschwand aber, als im Winter 1838/39 die Führung der Chartistensache mehr und mehr auf den extremen Flügel überging. Aus der demonstrativen "heiligen Woche" wurde ein "heiliger Monat" mit Pressionscharakter;[159] die linksstehenden Konventsmitglieder, die ihr eigenes revolutionäres Empfinden in die Massen projizierten, rechneten sogar stark mit seiner baldigen Verwirklichung. Immerhin befragte der Konvent das Volk in einem Manifest noch direkt nach seiner Kampfbereitschaft, ob es bei ev. Ablehnung der Charte "ulterior means", z. B. "an universal cessation of labour" anzuwenden geneigt sein würde.[160] Die sogenannten Simultaneous Meetings (Monstre-Versammlungen im ganzen Lande vom Mai-Juli 1839), bereiteten unter dem Einfluß der extremen Chartistenführer dem Manifest eine begeisterte Aufnahme.[161] Schließlich glaubte der ganze Konvent, "a holiday, or sacred month would be found to be the only effectual remedy for the sufferings of the people",[162] "that, until they had a sacred holiday they would never have universal suffrage".[163] Die Bedächtigeren freilich verlangten doch noch zuerst einen Versuch mit den übrigen Mitteln, oder mindestens eine Vorbereitung des heiligen Monats (z. B. Einsetzung einer Kommission zur Ausarbeitung des besten Aktionsplans, "to select a few trades whose cessation from labour would cause all other trades to leave off work"; Errichtung eines Streikfonds, dessen Größe zugleich einen Gradmesser für die Streikbereitschaft der großen Massen abgeben könne), und hintertrieben die sofortige Fixierung eines Termins für seinen Anfang; doch vermochten auch sie den "voreiligen und törichten Beschluß", daß der Konvent, bei Ablehnung der Charte, am 13. Juli zusammenkommen müsse, um den definitiven Tag des Streikbeginns festzusetzen,[164] nicht zu verhindern. — Am 12. Juli wurde die Charte wirklich vom Unterhaus abgelehnt, und am folgenden Tage proklamierte der nur schwach besuchte Nationalkonvent, aller Warnungen unerachtet, den 12. August als Eröffnungstag des heiligen Monats.[165] Nun endlich aber kehrte dem Konvent die Einsicht in die realen Machtverhältnisse zurück, endlich kam er zur Erkenntnis, warum das Unterhaus sich durch die Streikdrohung nicht hatte einschüchtern lassen: war es doch ganz unmöglich, den heiligen Monat in irgendwie erheblichem Umfang zu verwirklichen; gerade unter der Majorität der wichtigsten Distrikte fehlte, bei aller Begeisterung für die Charte, doch jede Stimmung für den Ausstand;[166] nur die schlechtest gestellten Arbeiter traten für ihn ein, während die Gewerkvereine ihn durchweg ablehnten.[167] Daher erklärte sich der Konvent schon am 16. Juli für inkompetent, Zeit und Umstände eines nationalen Generalstreiks festzusetzen, und überließ dem Volke selbst die Entscheidung.[168] Die Kommission, der die Befragung desselben aufgetragen worden war, riet dringend, den Streikplan aufzugeben, und die ausschlaggebenden Konventsmitglieder pflichteten ihr bei.[169] Am 6. Aug. vervollständigte der Konvent seinen Rückzug durch die ausdrückliche Warnung vor dem heiligen Monat; alles, was von dem stolzen Plane übrig blieb, war die Empfehlung einer "grand national moral demonstration" (2-3tägige Arbeitsruhe vom 12. Aug. an,[170] die auch zu Stande kam); die Bewegung für den national holiday war vorläufig beendet.
[159] Von einer Beteiligung der Mittelklassen war nicht mehr die Rede.
[160] Gammage, p. 109; auch Tildsley, p. 46.
[161] Wenigstens sagen dies die Berichte der Konventsmitglieder beim Wiederzusammentritt des Konvents am 1. Juli 1839 in Birmingham; vgl. Gonner, a. a. O. p. 640.