Читать книгу Theorie und Praxis des Generalstreiks in der modernen Arbeiterbewegung Inauguraldissertation - Elsbeth Georgi - Страница 8
§ 2. Eigenschaften des Klassenstreiks.
Оглавлениеa) Größe.
Die Ausdehnung des Klassenstreiks wird nach oben begrifflich durch die Gesamtheit der Lohnarbeiter begrenzt. Ein totaler Streik, d. h. ein Streik aller Arbeiter, aller Gewerbe, allüberall, ein Stillstehen "aller Räder" im mathematischen Sinne, wie es den ersten anarchistischen Generalstreikpropagandisten vorschweben mochte, wird heute von keiner Seite mehr als Erfordernis irgend einer Klassenstreik-Spezies betrachtet,[13] sondern es wird nur von gewissen Gesichtspunkten aus eine relative Allgemeinheit verlangt. Die untere Grenze des Klassenstreiks liegt nämlich (räumlich) bei derjenigen Arbeitergruppe, deren Streik in einer gegebenen Zeit, und (zeitlich) bei demjenigen Zeitraum, während dessen der Streik einer gegebenen Arbeitergruppe genügt, um eine bedeutende gesellschaftliche Wirkung zu erzielen. Demzufolge weist die Ausdehnung des Klassenstreiks zahlreiche Variationen auf.
[13] Girardin forderte seinerzeit für seine grève universelle die Beteiligung "de toutes les professions manuelles dans tous les pays civilisés" (cit. bei Weill, "Histoire du Mouvement social en France", p. 34).
Die räumliche Ausdehnung kann in gewerblicher oder geographischer Richtung liegen.
1. Bei der gewerblichen Ausdehnung des Klassenstreiks handelt es sich vor allem um die Bedeutung der beteiligten Gewerbe; diese richtet sich einerseits rein quantitativ nach der Anzahl der zugehörigen Lohnarbeiter, andererseits qualitativ nach dem Grad ihrer sozialen Unentbehrlichkeit. Je weniger die Gesamtwirtschaft und das Gesamtleben auf die Funktion einer bestimmten Gewerbegruppe angewiesen ist, eine umso größere quantitative Ausdehnung ist zum Zustandekommen eines Klassenstreiks erforderlich; je größer aber die qualitative Bedeutung einer Gewerbegruppe, eine umso geringere Teilnehmerzahl genügt zur Herbeiführung des Klassenstreiks.[14] Die qualitative Ausdehnung läßt sich positiv umschreiben, z. B. Beteiligung derjenigen Gewerbe, die das ganze Produktionssystem und das ganze Verkehrsleben stützen,[15] die das ganze soziale Leben unterhalten: also Streik nicht nur im Transportgewerbe und den Kraftlieferungsbetrieben (Kohle, Gas, Elektrizität), sondern auch bei der Lebensmittellieferung (ausnahmsweise nur wird auch die Beteiligung der Landarbeiter gefordert)[16] und in den sogenannten öffentlichen Diensten. Sie läßt sich auch negativ bestimmen, z. B. werden unter Umständen "die wesentlichen Erfordernisse des öffentlichen Lebens, die Produktionszweige von unbedingter allgemeiner Notwendigkeit" vom Ausstand ausgenommen;[17] doch zeigt sich hierbei das Bestreben, "keine Masche im Gewebe der Solidarität unnötig" zu zerschneiden.[18] Die wenigsten gehen so weit, wie Turati, der Licht, Brot, Trinkwasser, Sanitätsdienst, Post und Telegraph, Tagespresse usw. respektiert wünscht (da "die Aufhebung dieser Institutionen ... den höheren Forderungen der Zivilisation" widerstreite, auch dem Ziel des Streiks durch Verstärkung der "reaktionären Strömungen" schade.[19] Die prinzipiellen Streikeinschränkungen richten sich im allgemeinen nach dem Zwecke des Streiks.[20] Natürlich werden regelmäßig Ausnahmen zu gunsten der Nahrungsmittelversorgung der Arbeiter selbst gemacht.
[14] Vgl. Roland-Holst, "G-str. und Sozd.", p. 6; Cohnstaedt, "Generalstreik, Massenstreik und Sozialdemokratie" p. 748.
[15] So z. B. Briand (Prot. int. Kongr. Amsterdam 04, p. 28); Prot. Parteitg. Wien 1894, p. 54; Jaurès, "Aus Theorie und Praxis", p. 98, 99; ders. in der "Petite République", 29. Aug. 01 (cit. bei Umrath, p. 18); so schon Lovett (vgl. Gammage, History of the Chartist Movement, p. 127); auch der "Weckruf" vom 28. Mai 04, Nr. 7, 2. Jahrg., im Leitart. "Der Generalstreik".
[16] So durch Herbert-Stettin (Prot. Parteitg. Mannheim 06, p. 285); vgl. auch Marchioni, "Massenstreik und Landarbeiter".
[17] Turati, "Lehren und Folgen des Generalstreiks in Italien", p. 867.
[18] Olberg; Roland-Holst, a. a. O. p. 132.
[19] Das Weitererscheinen der Presse wünscht auch Branting, ("Die Generalstreikprobe in Schweden", p. 420ff.); Olberg ("Der italienische Generalstreik", p. 23) aber erblickt hierin eine ungerechtfertigte Ausnahme von der allgemeinen Arbeitsruhe; übrigens tritt sie für Aufrechterhaltung der Krankenpflege und der Nahrungsmittelversorgung der Hospitäler ein.
[20] Vgl. Bernstein, "Ist der politische Streik in Deutschland möglich?", p. 32.
Außer nach der Bedeutung der beteiligten Gewerbe kann der Umfang des Klassenstreiks auch nach ihrer Betriebsform differieren; im allgemeinen handelt es sich um die Beteiligung der Groß- und Mittelbetriebe; die des Kleinbetriebes ist selten und wird auch kaum gefordert.
2. Die geographische Ausdehnung des Klassenstreiks hängt einerseits quantitativ von der Größe des Streikgebiets ab. Hiernach unterscheidet man lokale, regionale, nationale und internationale Klassenstreiks; je kleiner das Streikgebiet, umso größer im allgemeinen die gewerbliche Ausdehnung. Ausstand möglichst aller Lohnarbeiter an einem einzelnen Platze, das ist der typische Umfang des romanisch-anarchistischen Generalstreiks, des sogenannten Solidaritäts- und Sympathiestreiks, der übrigens stets die Tendenz nach Erweiterung bis zum Weltstreik zeigt, sich auch nicht selten zum regionalen Ausstand (sogenannte "grève généralisée") verallgemeinert. — Gewöhnlich wird Ausdehnung über ein von vornherein beträchtliches Wirtschaftsgebiet gewünscht, das umso größer sein muß, je mehr auf gewerbliche Vollzähligkeit verzichtet wird. — Andererseits hängt die geographische Ausdehnung qualitativ von der sozialen Bedeutung des Streikgebietes ab; denn der Ausstand kann an allen Plätzen des Streikgebietes ausbrechen, sich unterschiedslos über Stadt und Land erstrecken, oder aber sich auf industrielle Zentren, vor allem auf die großen Städte beschränken.[21]
[21] Vgl. hierüber Prot. Parteitg. Wien 1894, Schuhmeier, p. 67, Resel, p. 70 ff.; ferner Lafargue, Enquête p. 67.
Zwei Ausnahmefälle, übrigens ohne praktische Bedeutung, bildet die räumliche Umgrenzung eines Klassenstreiks einerseits nach dem Konsumtionskreis (nur die Arbeit für die "herrschenden Klassen",[22] oder für die mobilisierte Armee [so Nieuwenhuis] soll unterbrochen werden), oder andererseits nach der Zahl der einem Armeeverband (sei es im aktiven Dienst, sei es als Reservisten) angehörigen Proletarier.
[22] "Weckruf" vom Dez. 04, Nr. 14 (cit. vom Sekretariat des Schweiz. Gewerbevereins, "Begleiterscheinungen bei Streiks", p. 11 ff.).
Die zeitliche Ausdehnung muß über die Dauer der gewöhnlichen Demonstration hinausgehen. Gleichzeitigkeit und Kontinuität sind nicht unbedingt erforderlich; der Streik kann vielmehr "intermittieren", "in Unterbrechungen und Pausen arbeiten",[23] und zwar sowohl geographisch intermittieren (wie in Rußland), als auch gewerblich intermittieren (wie in Marseille).
[23] Vgl. Göhre, "Sturmzeichen"; ferner Roland-Holst, a. a. O. p. 104 ff. und dieselbe "Der politische Massenstreik in der russischen Revolution", p. 215.
b) Form.
Wie jeder Streik bedeutet der Klassenstreik nicht nur eine rein passive Arbeitsruhe, sondern auch eine ostentative Arbeitsverweigerung. Die Form des Klassenstreiks hängt also von der Ausgestaltung der Arbeitsverweigerung ab.
Bei friedlicher Form gelangt die Arbeitsverweigerung nur durch die sich auf der Straße zeigende Masse der Feiernden zum Ausdruck, die sich prinzipiell in den Schranken der Gesetzlichkeit, "in den Grenzen der Mäßigung, Gesittung und Vernunft" halten oder doch halten wollen.[24]
[24] Vgl. Turati, a. a. O.; Bernstein, a. a. O. p. 36; Eckstein, "Was bedeutet der Generalstreik", p. 358; systematische Anwendung des Streikrechts, nicht verhüllte Gewalt, fordert Jaurès, "Aus Theorie und Praxis", p. 99 ff., gewaltlose Demonstration Bernstein ("Pol. M-str. und pol. Lage", p. 40).
Bei gewaltsamer Form zeigt sich die Arbeitsverweigerung in absichtlicher Verletzung des Rechtszustandes, in absichtlicher Vollführung von Akten der physischen Gewalt. Die "bewaffnete Hand",[25] "Feuer und Schwert",[26] der "ökonomische Furor"[27] sind hierbei die normalen Attribute des Klassenstreiks.
[25] Vgl. "Der Generalstreik", Leitart. des "Weckruf" vom 28. Mai 04.
[26] "Und arbeiten wir überhaupt nie mehr für die Ausbeuter! Brennen wir sie von dem Lande weg, auf dem wir leben wollen" (Conrad Froehlich, "Der Weg zur Freiheit", p. 10).
[27] Beim Generalstreik in Triest: Demolieren von Gebäuden, Umstürzen von Gaslaternen, Einschlagen von Fensterscheiben, Ermordung eines Polizeikommissärs, vgl. "Weckruf" Nr. 7, April 1905; ähnlich auch "Weckruf" Nr. 14, Dez. 04 (beide cit. vom Sekretariat des Schweiz. Gewerbevereins, a. a. O. p. 11, 12).
Eine dritte Richtung schließt "rohe Gewalt" zwar aus,[28] doch soll sich im übrigen hierbei die Form der Arbeitsverweigerung nach den besonderen Umständen richten. Rechtsverletzungen werden weder gesucht noch gemieden, spielen überhaupt eine ganz sekundäre Rolle. Das Proletariat dürfe sich nämlich "nicht blenden lassen durch das Wörtchen Gesetzlichkeit",[29] brauche in der Notwehr "die Gesetze des Klassenstaats" nicht mehr zu respektieren,[30] sondern "wenn die herrschenden Klassen den Boden der Gesetzlichkeit zertrümmern", dann sei das Proletariat "im Recht, zu sagen: ich stelle mich auf den granitenen Boden meiner Macht".[31]