Читать книгу Der Club der Unzertrennlichen - Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 12

NOVEMBER 1997

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Das Testament war zwei Jahre alt.

Es war vor Solveigs Umzug nach Skörping in Nordjütland verfasst worden, wo sie ihren Traumposten als Ärztin an einer Privatklinik gefunden hatte.

Einen guten Monat nach der Beerdigung fanden sie sich alle in einer Anwaltskanzlei in der Vestergade ein. Sie saßen in zwei Gruppen zusammen. Solveigs Eltern nebeneinander vor dem Schreibtisch. Die Freundinnen etwas zurückgezogen in weicheren Sesseln um einen Couchtisch. Dort standen Tee und Kaffee, und Mette füllte die Plastikbecher und reichte sie herum.

»Ich kann es nicht verstehen. Ich habe sie in finanziellen Fragen immer beraten, und sie hat kein Wort von einem Testament gesagt«, sagte Leo Aastrand mit einer Mischung aus Kummer und Irritation in der Stimme.

Solveigs Vater hatte immer schon Autorität ausgestrahlt, überlegte Isabel. So, wie er dort saß, groß und schlank in seinem Tweedjackett und mit der rahmenlosen Brille auf der Nase, erinnerte er sie unwillkürlich an einen englischen Landedelmann. Er war einwandfrei daran gewöhnt, dass ihm zugehört wurde, und sie ging davon aus, dass das für seine Arbeitskollegen und für seine Frau galt. Die Freundinnen wussten alle, das er für Solveig eine Art Vorbild gewesen war.

Auf jeden Fall hatte sie häufig von seinen Leistungen auf dem Pferderücken und dem Tennisplatz erzählt, von seinem fachlichen Können ganz zu schweigen.

Er nahm den Becher wortlos entgegen, wie aus der Hand einer bezahlten Serviererin. Ohne seinen gequälten Gesichtsausdruck hätte man ihn für den Anwalt halten können, und nicht den verhuschten Wicht, der sich in seinem Sessel auf der anderen Schreibtischseite zurückgelehnt hatte.

Der Anwalt Erling Meinert sah ungefähr so aus wie das, was die Mädchen früher auf der Grundschule als »Kneifarsch« bezeichnet hätten. Er erinnerte Isabel an den Mozart in Milos Formans Film, mit seinen unbezähmbaren Struwwelhaaren und seinen ruhelosen Bewegungen, doch er hatte auch scharfe Augen, die jedes Detail in seiner Umgebung registrierten.

»Ich kann natürlich versichern, dass das Testament gültig ist. Ihre Tochter hat sich bereits 1995 an mich gewandt, um ihre Situation zu diskutieren«, sagte er und drehte seinen Schreibtischstuhl ein wenig zur Seite, was eher wie eine schlechte Gewohnheit aussah als wie eine bewusste Handlung.

Isabel hatte Solveigs Eltern nie sonderlich gut leiden mögen, obwohl sie nicht behaupten konnte, sie zu kennen. Natürlich hatte es Solveig rein finanziell an nichts gefehlt. Mit materiellen Gütern war sie so richtiggehend voll gestopft worden, und ihre Freundinnen hatten häufiger die guten Weine aus Leo Aastrands Keller genossen, wenn Solveig sie zum Essen eingeladen hatte. Aber die Beziehungen in dieser Familie waren ihr nie als besonders herzlich erschienen, trotz der ganz speziellen Beziehung zwischen Solveig und ihrem Vater.

»Aber Solveig hatte doch schon einen Anwalt, den unserer Familie«, sagte Leo Aastrand und fügte rasch hinzu: »Ja, Verzeihung, ich wollte damit nicht sagen . . . Sie müssen verstehen, sie war ja nicht unvermögend.«

Solveigs Mutter, eine eher unauffällige Frau mit hellen Dauerwellen und bleichgrünem Kostüm beugte sich in ihrem Sessel vorsichtig ein wenig vor.

»Mein Vater hatte einen Fonds für sie eingerichtet, über den sie an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag verfügen konnte«, flüsterte sie.

Der Anwalt nickte.

»Das ist mir bekannt, Frau Aastrand. Solveig hat mir fast alles erzählt, glaube ich.«

»Aber warum?« Ihr Vater ließ nicht locker. »Warum hat sie nicht mit uns darüber gesprochen?«

Das Geld stammte von der Mutter, das wusste Isabel. Solveigs Mutter hatte von ihrem Vater, einem erfolgreichen Kunststoffhersteller, ein kleines Vermögen geerbt. Ansonsten war es die übliche Geschichte von Arzt und Sprechstundenhilfe gewesen, die so eng zusammenarbeiteten, dass es in ihrer Beziehung plötzlich um ganz andere Dinge gegangen war.

Der Anwalt setzte sich gerade.

»Vielleicht sollten wir mit dem offiziellen Teil der Besprechung anfangen«, regte er an. »Sind alle anwesend?«

Er leierte die Namen herunter, und alle nickten. Dann öffnete er einen Ordner, der vor ihm auf dem Schreibtisch gelegen hatte.

»Die Verstorbene hat mit meiner Hilfe ihr Testament zu Gunsten der heute hier anwesenden Personen aufgestellt.«

Erling Meinert schaute wieder auf und betrachtete die kleine Versammlung. Isabel folgte seinem Blick. Solveigs Eltern saßen angespannt dicht nebeneinander. Leo Aastrand starrte vor sich hin. Mette und Pernille schauten den Anwalt an wie zwei Musterschülerinnen einen Lehrer.

»Ich werde mich kurz fassen. Die Hinterlassenschaft der Verstorbenen ist noch nicht taxiert worden, hat aber, durch das Reihenhaus in Aalborg und diverse Aktien und Obligationen sowie eine Lebensversicherung, einen Wert von an die zweieinhalb Millionen Kronen. Dazu kommen Einrichtungsund andere Gegenstände sowie diverse elektrische Apparate, Computer, Stereoanlage und so weiter.« Meinert sagte dann:

»Solveig Aastrand hat – auf meinen Rat hin – das mögliche Erbe in Prozente eingeteilt. Es verteilt sich wie folgt: Leo und Bodil Aastrand bekommen zusammen fünfundzwanzig Prozent, was vor Abzug der Steuern ungefähr eine Summe von sechshundertdreiunddreißigtausend Kronen ausmacht. Der Rest, nämlich fünfundsiebzig Prozent der Hinterlassenschaft, fällt zu gleichen Teilen an Pernille Gram, Isabel Lund Jepsen und Mette Severinsen.«

Isabel spürte eine Hand, die ihre packte. Pernille stieß einen leichten Klagelaut aus. Mettes Schultern zogen sich zu einem unterdrückten Schluchzen zusammen. Dann fand auch ihre Hand Isabels, und wortlos starrten sie erst den Anwalt und dann einander an.

Solveigs Eltern saßen wie erstarrt in ihren Sesseln.

Erling Meinert schloss den Ordner.

»Wenn es Fragen gibt, dann schießen Sie los«, sagte er geradeheraus, was besser zu ihm passte als die förmliche Anwaltssprache.

Das gab Isabel den Mut, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen.

»Hast du Solveig gut gekannt?«, fragte sie. Sie brachte es nicht über sich, einen Mann, der jünger als sie selber war, zu siezen.

Der Anwalt ließ sich in seinem hochrückigen Drehsessel zurücksinken und verschränkte die Hände in seinem Nacken.

»Wie gesagt, Solveig hat mich 1995 erstmals aufgesucht. Ich möchte nicht behaupten, sie gut gekannt zu haben. Aber ich hatte den Eindruck einer sehr entschiedenen Frau, die genau wusste, was sie wollte. Wenn wir über die juristische Seite der Angelegenheit sprachen.«

»Gibt es einen Grund zu der Annahme, dass sie . . . dass sie geahnt haben kann, was passieren würde?«

Der Anwalt schüttelte den Kopf und wollte antworten, doch Solveigs Vater kam ihm zuvor.

»Unsinn. Natürlich hat sie das nicht gewusst«, erklärte er mit schroffer Stimme.

»Jede junge Frau in ihrer finanziellen Situation hätte doch ein Testament gemacht. Das habe ich ihr ja selber eingeschärft. Was ich aber nicht verstehen kann, ist . . .«

Nun fiel Erling Meinert ihm ins Wort.

»Ich muss Herrn Aastrand Recht geben. Es ist ganz normal und vernünftig, ein Testament zu machen, wenn Vermögen vorhanden ist. Aber es stimmt auch, dass es ein früheres Testament gab, das durch das neue ungültig geworden ist. Warum sie das wollte, weiß ich nicht.«

»Und zu wessen Gunsten war das erste?«, fragte Pernille.

Der Anwalt lockerte seinen Schlips, der ohnehin ziemlich lose gehangen hatte.

»Es war ein klassisches Testament, durch das das Vermögen den nächsten Angehörigen zufällt«, sagte er.

Alles schwieg. Die Stille war so bedrückend, dass Isabel sich unruhig bewegte. Sie sprang auf und schenkte sich Kaffee nach.

»Ich würde gern eine Frage stellen. Eine Frage, die vermutlich nicht viel mit der Erbschaft zu tun hat«, sagte sie und sah zuerst Solveigs Eltern und dann den Anwalt an. »Weiß irgendwer, ob Solveig einen Freund hatte?«

In diesem Moment erhob sich Leo Aastrand, dessen Gesicht von einer Art stummen Frustration gezeichnet war. Als sie dem Beispiel ihres Mannes folgen wollte, geriet Solveigs Mutter ins Schwanken und griff nach seinem Arm. Isabel sah, wie er sie verstohlen abschüttelte, indem er seinen Arm plötzlich schlaff nach unten hängen ließ.

»Natürlich nicht«, sagt er dann wie zu einer Untergebenen, die eine dämliche Frage gestellt hatte. »Das hätten wir ja wohl gewusst.«

Bodil Aastrand nickte. »Natürlich hätten wir das gewusst. Solveig hat ihre Freunde doch immer mit nach Hause gebracht.«

»Freunde ja. Aber Liebhaber? Hat sie je einen Liebhaber mit nach Hause gebracht?« Isabel ließ sich nicht beirren, doch Solveigs Eltern gaben ihr keine Antwort, als sie dem Anwalt zunickten und dann das Lokal verließen.

Danach gingen sie durch die Straßen von Århus. Pernille hatte nur Zeit für ein schnelles Glas. Es war Donnerstag um halb zwei nachmittags, und sie hatte einen Termin mit einem Klienten, der wegen seines Alkoholproblems, das derzeit behandelt wurde, seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Mette musste um vier Uhr Malthe in der Krippe abholen. Nur Isabel hatte Zeit genug, sie hatte sich die ganze Woche frei genommen und sich in Pernilles Wohnung bereits häuslich eingerichtet.

»Das ist ja ein Vermögen«, sagte Isabel und wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Es war schwer, nicht mitten in aller Trauer begeistert zu sein, aber im tiefsten Herzen schämte sie sich ihrer Freude ein wenig. Vor ihrem inneren Auge sah sie schon einen neuen, blanken Steinwayflügel, der ihr gehören sollte. Sie versuchte die prickelnde Erwartung zu unterdrücken, ihre Finger auf die Tasten zu legen und einen wunderschönen Klang hervorzurufen.

Pernille schob ihr Fahrrad neben den anderen her. Auch sie hatte eine Zeit lang geschwiegen.

»Wisst ihr überhaupt, was das bedeutet?«, fragte sie endlich, als sie im Novembersonnenschein zu dritt durch die Vestergade und weiter zum Lille Torv und zum Store Torv wanderten. Die beiden Plätze sahen aus wie sehr nackte, gepflasterte Vorgärten, fand Isabel. Umweltfreundlich hin oder her, die Stadt hatte ihr früher, als Autos und Fahrräder mitten im Zentrum ein Chaos verursacht hatten, besser gefallen.

Mette wich einer somalischen Familie mit zwei Kinderwagen aus und lief hinter den anderen her.

»Das bedeutet, dass Solveig aus irgendeinem Grund ihre Eltern bestrafen wollte«, sagte sie, als sie die Freundinnen eingeholt hatte. »Oder dass sie uns aus irgendeinem Grund etwas Gutes tun wollte. Oder vielleicht auch beides.«

Wie Pferde, die sich an eine bestimmte Route gewöhnt haben, bogen sie fast automatisch in die Badstuegade ein. Plötzlich blieb Isabel stehen. Es war so lange her, aber es kam ihnen trotzdem wie gestern vor, dass sie in den Cafés des Studentenviertels ein und aus gegangen waren. Im Kindrodt, im Jorden, im Englen. Damals hatte sie genau gewusst, was ein Engelbrunch kostete und wie viel Brot beim Mittagstisch im Café Kindrodt serviert wurde, von den Preisen für Fassbier und Cappuccino ganz zu schweigen.

»Das ändert sich wirklich nie«, sagte sie und wusste, dass sie sich wie eine Auslandsdänin auf Heimaturlaub anhörte. In Wirklichkeit lag ihr letzter Besuch hier wohl nur zwei Jahre zurück. Sie hatte aus vielen verschiedenen Gründen einen Bogen um Århus gemacht.

»Ein wenig schon«, korrigierte Pernille, die noch immer mitten in der Stadt wohnte. »Die Cafés unten am Fluss machen den alten inzwischen ganz schön Konkurrenz. Aber bei den Preisen haben die das ja auch nicht besser verdient«, fügte sie hinzu.

»Lasst uns nicht länger um die Sache herumreden«, sagte Mette. »Wir können doch im Carlton einen Kaffee trinken und über alles sprechen.«

Sie holten sich Tee und Kaffee, setzten sich an den kleinen runden Tisch und musterten einander forschend. Mette brach als Erste das Schweigen.

»Ich glaube, Solveig hätte gewollt, dass wir uns über das Geld freuen. Das ist nicht verboten. Und es ist nicht unmöglich, zu trauern und sich gleichzeitig zu freuen.«

Ihre Worte schienen eine Blockade beseitigt zu haben. Sofort redeten alle drei wild durcheinander los. Bekannten, dass die Erbschaft eine große Hilfe sein werde und versprachen einander, sie in Solveigs Sinn zu verwenden.

»Und was ist mit Solveig? Und was ist mit ihrem Liebhaber, wenn sie denn einen hatte?«

Diese Frage hatte Mette gestellt. Sie fügte hinzu:

»Können wir diese Sache einfach so auf sich beruh en lassen und ansonsten ihr Geld ausgeben und vergessen, warum sie gestorben ist? Können wir das?«

Sie begegnete den Blicken der anderen. Isabel konnte es ihnen ansehen, und sie wusste es auch selber. Das konnten sie nicht. Sie trugen Verantwortung.

»Wir sollten lieber versuchen, ihn zu finden«, sagte sie leise und spürte, wie ein Wirbelwind aus unterschiedlichen Gefühlen sich durch den Schock, den sie in der Anwaltskanzlei bei der Verlesung des Testaments erlitten hatte, zu Wort meldete. Sie hatten diese Erbschaft nicht verdient, fand sie. Sie hatten nicht genug getan, hatten sich nicht gut genug um Solveig gekümmert. Als sie diese Gedanken ausgesprochen hatte, sah sie, dass die anderen ebenso empfanden.

»Ich weiß nicht, warum wir sie uns nie vorgeknöpft und dann versucht haben, etwas für sie zu tun«, gab Pernille zu. »Aber sie schien immer total abzublocken, wenn wir ein seltenes Mal versucht haben, ihren Panzer aus Nachdenklichkeit und Hilfsbereitschaft zu durchdringen. Und außerdem . . . ich glaube irgendwie, es hat ihr geholfen, anderen zu helfen. Ich glaube, das hat sie froh gemacht und ihre anderen Sorgen vergessen lassen.«

Mette fügte hinzu:

»Wir müssen ja zugeben, dass sie das wirklich gut gemacht hat. Sie hat so viel für uns getan. Immer hat sie uns auf irgendeine geheimnisvolle Weise Liebhaber besorgt. Aber sie selber scheint nie einen richtigen gehabt zu haben.«

Isabel musterte mit neckendem Lächeln eine nach der anderen.

»Solveig hätte eine Kontaktagentur aufmachen sollen.« »Aber lange gut gegangen ist es ja nicht immer«, meinte Mette, und Isabel wusste genau, woran sie dabei dachte.

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