Читать книгу Der Club der Unzertrennlichen - Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 4
PROLOG
ÅRHUS, OKTOBER 1997
ОглавлениеOhne Furcht vor finstrer Nacht,
geführt vom Sternenlicht,
mit Vater, dir, im treuen Pakt
fürchtet dein Kind sich nicht.
Es war ein gemischter Chor. Aus Brummern und Stimmen, die einen halben Ton daneben trafen; aus einem einzelnen, einigermaßen geschulten Sopran und zwei akzeptablen Altstimmen. Und denen, die wie üblich nur die Lippen bewegten.
Die Gemeinde drängte sich beim Singen um das Grab zusammen. Der Herbstwind peitschte den Regen von der Seite her in ihre Richtung und blies Jacken und Mäntel auf wie Ballons. Die wenigen Regenschirme, die die Umsichtigen mitgebracht hatten, troffen vor Nässe, während die anderen sich damit begnügen mussten, ihre Jackenkragen hochzuklappen und sich mit Taschentüchern das Wasser aus den Augen zu wischen.
Henning Nyborg schaute nach oben und ließ sich den Regen ins Gesicht prasseln. Bei jeder anderen Beisetzung hätte er sich über dieses Wetter geärgert und vielleicht hätte er unter seinem Pastorenkragen gefroren und sich nach seinem warmen Wohnzimmer und einer Tasse Kaffee gesehnt. Vielleicht hätte er sich sogar noch mehr auf den Ruhestand gefreut, den er in vierzehn Monaten antreten würde.
Doch an diesem Tag war alles anders. Es war kein Tag, an dem die Gedanken davonflogen. Es war ein trüber Tag, ein düsterer Tag, vor dem es kein Entrinnen gab. Er merkte, dass alle den Regen offenbar zu schätzen wussten. Als könnten dessen peitschende Schläge die Schuldgefühle davonschwemmen, die auf der ganzen Gemeinde lasteten.
Während des Liedes ließ er seinen Blick über die beiden Gruppen gleiten, die einander am Sarg gegenüberstanden. Die eine Gruppe bestand aus der Familie der Verstorbenen, Solveig Aastrand. Sie standen hocherhobenen Hauptes da, wenn auch mit vor Trauer versteinerten Gesichtern.
Verstohlen musterte er die drei Frauen auf der anderen Seite des offenen Grabes. Die Freundinnen.
Regennass und fröstelnd sangen sie, so gut sie konnten.
Sie mussten irgendwo in den Dreißigern sein, und er erkannte unter ihnen Pernille Gram, die er vor vielen Jahren im selben Jahr wie Solveig Aastrand hier in der Kirche von Tilst konfirmiert hatte.
Eine Stimme klang lauter und klarer als die anderen, eine verbissene Standhaftigkeit schien sie zu tragen und zu verhindern, dass sie im Weinen brach. Einen langen Moment ruhten seine Blicke auf der Besitzerin dieser Stimme. Sie war nicht sonderlich groß, und ihre Figur wäre manchen Männern vielleicht als zu kräftig erschienen, aber nach ihren sanften Kurven würden sich doch die meisten umschauen. Nach Kurven, die an diesem Tag unter einem wenig kleidsamen marineblauen Kostüm nur zu ahnen waren. Sie war eindeutig die Uneleganteste von den dreien, aber dennoch zog etwas an ihr die Blicke auf sich. Dunkle, ausdrucksvolle Augen unter kurzen, blonden Struwwelhaaren verliehen ihr eine intensive Ausstrahlung. Als der Choral beendet war, brach sie in ein leises Schluchzen aus. Ihre Nachbarin, die mit ihrem rätselhaften, ovalen Gesicht Ähnlichkeit mit einem Gemälde von Modigliani hatte, legte tröstend den Arm um sie. Diese Nachbarin war eine elegante Erscheinung. Mittelgroß und gertenschlank in ihrer langen, schwarzen Jacke und den schlichten, engen Hosen. Eine perfekt geschnittene Pagenfrisur gab ihr ein verfeinertes, fast orientalisches Aussehen.
Pernille Gram, die Dritte im Bunde, stand ein wenig von den beiden entfernt, so, als sei ihre langgliedrige Gestalt ihr peinlich. Auch damals, im Konfirmationsalter, hatte Pernille etwas Unbeholfenes, Giraffenhaftes gehabt, und auch an diesem Tag waren die kurze Jacke und der lange, enge Rock, der sie wie ein Rohr umschloss, ihr keine Hilfe. Selbst aus der Entfernung konnte er hinter ihrer Brille die geröteten Augen erkennen.
Pastor Nyborg seufzte unhörbar. Nicht zum ersten Mal in seinem langen Pastorenleben musste er eine Selbstmörderin begraben. Es bedeutete immer einen schmerzlichen Schock für ihn, aber noch nie hatte er sich so ohnmächtig gefühlt wie angesichts dieses einsamen Sarges und der vom Regen gepeitschten Blumen.
Die Feierlichkeiten endeten am Grab. Henning Nyborg schloss sich der Familie an und verabschiedete sich am Kirchentor. Ihm war aufgefallen, dass die drei Freundinnen noch immer am Grab verharrten, und er nahm an, dass sie erst jetzt vortreten und Blumen oder vielleicht irgendeine persönliche Erinnerung auf den Sargdeckel fallen lassen wollten.
Er selber ging in die Kirche und blieb eine Weile vor dem Altar stehen. Wie auf eine plötzliche Eingebung hin faltete er die Hände und murmelte ein Vaterunser. Er hörte ein leises Echo, das ihm die Worte zurückwarf: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.« Doch das Gefühl der Vergebung schien sich nicht wirklich einstellen zu wollen.
Dann spürte er, wie sein Magen unter dem Talar knurrte, und der Hunger vermischte sich mit dem Gefühl der Ohnmacht. Er dachte an seine Frau, die nach Kopenhagen gefahren war, um die gemeinsame Tochter zu besuchen. Schon am Vortag hatte er die letzten Bratheringe aus der Dose verzehrt, und neue Eier zu kaufen, hatte er auch vergessen.
Er ging in die Sakristei, zog seinen Straßenanzug an und brauchte eine Viertelstunde, um sich mit dem Organisten über die Choräle für den sonntäglichen Gottesdienst zu einigen. Danach verließ er die Kirche und ging mit zielstrebigen Schritten über den Parkplatz auf das Gasthaus zu.
Die drei Freundinnen waren ins Gespräch vertieft und achteten nicht auf ihn. Er selbst hatte zwar Pernille Gram wiedererkannt, wusste aber aus Erfahrung, dass er ohne seinen Talar normalerweise nicht bemerkt wurde.
Das Gasthaus war in gemütliche Essnischen eingeteilt, und von seinem Stammtisch aus hatte er die Kirche im Blickfeld. Der Tisch stand zufällig neben der Nische, in der die drei Freundinnen saßen, und für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sich anderswo niederzulassen. Doch Gewohnheit und, wie er zugeben musste, eine gewisse Neugier führten ihn dann an den angestammten Platz. Von dort aus konnte er durch das Flechtwerk der Nischenwände die Gesichter der Frauen sehen, nur nicht jenes von Pernille, die ihm den Rücken kehrte.
Er hörte, wie die drei eine Runde Tuborg Classic bestellten, doch in diesem Lokal gab es nur Ceres vom Fass.
»Sollen wir Solveig wirklich mit diesem faden Zeug hinunterspülen?«, fragte die Frau mit der Singstimme. Wenn sie nicht sang, hatte sie einen jütischen Akzent mit einem Hauch Kopenhagenerisch, und im Moment hörte sie sich aufgesetzt munter an.
»Das trinken eben die Eingeborenen, Isabel. Hast du das in deinem Hauptstadtexil vergessen?«, fragte Pernille. Schon damals, zur Konfirmationszeit, hatte sie eine leicht schrille, lehrerinnenhafte Stimme gehabt. Der Pastor hatte immer angenommen, dass sie dahinter ein übersensibles Gemüt verbarg.
Das Bier wurde gebracht, und über der rotkarierten Tischdecke wurde gebührend angestoßen.
»Solveig«, sagte Isabel leise.
»Solveig«, murmelten die anderen und tranken schweigend.
»Ich kann es noch immer nicht fassen«, sagte die Frau mit dem Modigliani-Gesicht. Ihre Stimme klang wie ein zarter Zweig, der jeden Moment brechen konnte. »Ich war richtig verlegen, als ihre Mutter angerufen hat. Ich hatte Solveig doch seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen.«
»Da bist du nicht die Einzige, wenn dir das ein Trost ist, Mette.«
Das hatte Pernille gesagt.
»Keine von uns hat sich besonders oft gemeldet. Ich jedenfalls nicht. Seit Solveig nach Skörping gezogen ist, haben wir uns fast nicht mehr getroffen.«
Er konnte sehen, wie Mettes Körper sich zu einer Art Verteidigungshaltung versteifte. Sie schien ihre Trauer dadurch beherrschen zu wollen, dass sie sich wütend anhörte.
»Wir hatten doch alle mit unseren eigenen Angelegenheiten genug zu tun.«
Isabel mit der Singstimme hielt mit beiden Händen ihren Bierkrug fest.
»Ich weiß ja nicht, wie es euch geht. Aber ich fühle mich einfach total mies. Ich glaube, das wäre niemals passiert, wenn wir da gewesen wären.«
Sie schaute die anderen an, und für einen Moment glaubte der Pastor, ihr Blick habe auch ihn gestreift. Ein offener Blick, der keine Gefühle verbergen konnte. In diesem Blick lag eine Unschuld, dachte er und verwarf dieses Wort dann doch. Es passte einfach nicht zu einer erwachsenen Frau von Mitte dreißig.
»Wo ist bloß die Zeit geblieben?«, fragte die Frau. »Warum haben wir nicht besser zusammengehalten? Was hat uns dermaßen beschäftigt, dass es wichtiger war als alte Freundschaften?«
»Kinder«, erklärte Mette. »Wenn etwas ein unternehmungslustiges Leben erfolgreich beenden kann, dann kleine Kinder.«
»Große Kinder nehmen auch Zeit in Anspruch«, warf Pernille dazwischen, während Isabel lächelte.
»Diese Entschuldigung kann ich aber nicht anführen.«
Mette ließ ihren Blick von der einen zur anderen wandern.
»Brauchen wir denn wirklich Entschuldigungen? Ist es nicht ganz natürlich, dass Freundschaften auseinander gleiten und dann später wieder aufgenommen werden?«
»In einigen Fällen vielleicht. Bei uns aber nicht. Uns hätte das niemals passieren dürfen«, erklärte Pernille und fugte nach einer Pause hinzu:
»Bin ich hier die Einzige, die Hunger hat?«
Sie bestellten belegte Brote, und Henning Nyborg fiel ein, dass auch er sich ein verspätetes Mittagessen gönnen sollte. Er hob den Arm, um der Kellnerin zuzuwinken, und freute sich, als seine drei Brote gebracht wurden. Gestärkt vom Imbiss und vom Bier lauschte er dann schamlos weiter, während jede der drei Frauen die anderen auf den neuesten Stand brachte, was ihr Leben anging. Er entnahm dem Gespräch, dass Isabel Pianistin war, in Kopenhagen lebte und die anderen seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Pernille und Mette wohnten beide in der Umgebung von Århus, doch ihre Beziehung war auf Grund von Geburten und beruflichen Verpflichtungen auf Sparflamme gehalten worden, und auch die beiden hatten einander schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Pernille hatte als Sozialarbeiterin viel zu tun, während Mette offenbar eben erst nach Beendigung des Mutterschaftsurlaubs ihre Stelle als Englischlehrerin an einem Gymnasium wieder aufgenommen hatte.
Später, als Teller und Bierkrüge leer waren, saßen die drei plötzlich wieder schweigend am Tisch.
»Wir hätten etwas unternehmen sollen«, murmelte Isabel. »Wir hätten es vielleicht verhindern können.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Wir können auch gleich zugeben, dass wir sie im Stich gelassen haben«, sagte Isabel dann mit harter Stimme. »Das will ich gern als Erste zugeben.«
Er hörte sich diese Geständnisse an. Es war die Rede von nicht erwiderten Kontaktversuchen. Von hektischen, unterbrochenen Telefongesprächen und dem Versprechen, zurückzurufen, wenn das Baby gefüttert und die Sonate zu Ende geübt wäre. Von Briefen, die in der Eile nicht beantwortet, sondern im Stapel der nicht so eiligen Post abgelegt worden waren. Bis selbst die kleinen Lebenszeichen per Telefon verstummt waren.
»Wisst ihr noch, wie anders das früher war?«, fragte Mette mit leiser Stimme. »Damals hatten wir Zeit füreinander.«
Isabel fügte hinzu:
»Damals waren Freundschaft und Freiheit das Wichtigste auf der Welt. Wichtiger als Karriere, Kinder, Paarbeziehungen und der ganz normale Egoismus.«
»Damals hätten wir alles füreinander getan«, sagte Mette.
Isabel machte den Anfang. Schweigend streckte sie die Hand aus und legte sie mitten auf den Tisch. Mette folgte ihrem Beispiel, dann, als Letzte, war auch Pernille dabei, und die drei rechten Hände hielten einander umfasst.
Diese Berührung schien den drei Frauen Kraft zu vermitteln. Eine besondere Energie schien plötzlich von der einen auf die andere überzugreifen. Pastor Nyborg merkte, wie er sich gerader hinsetzte und sich von den drei jetzt mit Bedeutung geladenen Stimmen einfangen ließ.
»Wisst ihr noch, wann wir zuletzt so zusammengesessen haben?«, fragte Mette.
Isabel nickte.
»Damals, als wir noch unsere Träume hatten. Als uns die ganze Welt offen stand und alles möglich war . . . Damals, als Freundschaft nicht nur ein Wort war.«
»Meine Güte, was waren wir jung.« Pernille lachte leicht angespannt.
»Und dumm?«, fragte Isabel.
Mette schüttelte den Kopf.
»Nur jung. Dumm sind wir erst mit dem Alter geworden.« Isabels Augen funkelten lebhaft.
»Wisst ihr noch? Wisst ihr noch, wie wir den ›Klub der Unzertrennlichen‹ gegründet haben? Wie wir als ›Freie Frauen‹ leben wollten?«