Читать книгу Der Club der Unzertrennlichen - Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 9

JANUAR 1981

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METTE

Irgendjemand weinte. Ein trockenes, krampfhaftes Schluchzen hallte im Zimmer wider und schwebte aus dem Fenster, das das ganze Jahr hindurch auf Kipp stand.

Mette öffnete die Augen. Und im selben Moment wusste sie, dass das Geräusch von ihr selber stammte. Das leise Schluchzen steckte ihr noch immer im Leib, es reichte bis hinunter in ihre Bauchkrämpfe. Und das Gefühl der Trauer war ebenso überwältigend wie in ihrem Traum.

Sie schauderte. Es war kalt. Sie fror am Hals und sehnte sich nach dem Kätzchen, das sich immer zufrieden unter ihrem Kinn aufrollte, wenn sie schlief. Wo mochte es stecken?

»Oliver!«

Leise rief sie durch ihre kleine Einzimmerwohnung, aber keine Antwort war zu hören. Das allein war schon seltsam, denn der Siamkater hatte sich von Anfang an durch sein »gutes Organ« ausgezeichnet, wie Isabels Großmutter immer sagte, wenn jemand für seine laute Stimme gelobt wurde. Sie benutzte diesen Ausdruck nicht für Katzen, sondern für den Hofreporter Poul Jorgensen aus dem Fernsehen, der immer Rücksicht auf das schlechte Gehör alter Damen nahm.

Mette schob die Decke beiseite, setzte die Füße auf den Flokati und stieg in ein Paar Lammfellpantoffeln. Voller Besorgnis schlüpfte sie dann in einen dicken Pullover und rief noch einmal nach ihrem Kater.

»Oliver, wo steckst du? Miez, Miez!«

Dann fiel ihr sein Versteck ein. Als sie ihn vier Monate zuvor bekommen hatte, war er plötzlich verschwunden gewesen. Später, nachdem Solveig und Pernille zum Suchen geholt worden waren, hatten sie ihn unter dem Sofapolster gefunden. Sie hatte dieses verdammte Möbelstück vorher schon einmal auf den Kopf gestellt, ohne den Kleinen entdeckt zu haben.

Sie fiel auf die Knie und schaute unter dem Sofa nach.

»Oliver«, rief sie leise. »Bist du da?«

Sie musste immer wieder rufen. Geduld war im Umgang mit Siamkatzen eine Tugend, das wusste sie von zu Hause, denn ihre Mutter war eine eifrige Katzenzüchterin. Ihre Katzen waren von ganz eigenem Wesen. Fremden gegenüber waren sie schüchtern und fast schon feindselig, hingen zum Ausgleich aber an ihrem Frauchen wie ein Hund.

Endlich war aus der Tiefe der Federn ein leises Piepsen zu hören.

»Jetzt komm schon«, lockte Mette.

Noch ein Piepsen. Danach ein etwas längeres Miau. Mette wartete. Sie spürte, dass hier etwas nicht stimmte. Endlich – nach einem langen, klagenden Selbstgespräch – kam der Kater zum Vorschein. Er schaute sie vorwurfsvoll an, als er sich auf drei Beinen über den Boden schleppte und das vierte jämmerlich hinter sich herzog.

Solveig stellte keine Fragen, obwohl es Sonntag und erst neun Uhr morgens war.

»Ich komme«, versicherte sie am Telefon. »Und ich bring uns ein paar von den fertigen Brötchen aus der Schweizer Bäckerei mit . . . ich kenne einen Tierarzt.«

Solveig kannte immer irgendjemanden, entweder aus ihren zahllosen Sportvereinen oder aus dem Kreis der Bekannten, die ihre Eltern wie die Satelliten umgaben. Wie gut sie diese Leute kannte, war eine andere Frage, aber Mette war doch dankbar für jede kleine Empfehlung an jemanden, der ihren Kater retten konnte.

Während sie auf Solveig wartete, saß sie bei dem Kater auf dem Boden und redete auf ihn ein wie auf einen Freund.

»Wo hast du dich heute Nacht bloß rumgetrieben, du Trottel? Hast du im Verkehr gespielt?«

Obwohl er einwandfrei Schmerzen hatte, schnurrte Oliver angesichts von so viel Aufmerksamkeit. Er schmiegte sich an Mettes nackte Beine, und sie legte sich zu ihm auf den Flokati und deckte sie beide mit ihrer Bettdecke zu.

Sie wurde von Solveigs ausdauerndem Klingeln geweckt.

»Und wo steckt der Patient?«

»Hier unten«, sagte Mette schlaftrunken. »Wir waren weggeknackt.«

Solveig warf im Vorübergehen eine Tüte mit Brötchen auf den Küchentisch. Dann sah sie sich Oliver an.

»War er heute Nacht draußen?«

»Das macht er so ungefähr jede Nacht. Wir haben doch die Katzentür.«

»Meine Fresse. Das darfst du? Du Glücksschwein! Du musst ja bei Mikkelsen einen dicken Stein im Brett haben.«

Mette zuckte mit den Schultern. Mikkelsen war der Vermieter, dem die beiden Wohnungen im ersten und zweiten Stock gehörten.

»Nach der Sache mit meinem Vater habe ich ihm wohl Leid getan.«

Solveig nickte verständnisvoll. »Natürlich. Aber trotzdem. Nicht viele Vermieter erlauben Haustiere. Wenn ich danach fragte, würde mein Vater einen Herzschlag erleiden.«

Das Haus, in dem Solveig wohnte, gehörte ihrem Vater. Neben seiner Arbeit als Arzt verdiente er sich als Immobilienmakler noch etwas dazu.

Mette holte den Katzenkorb aus dem Schrank. Vorsichtig schob sie Oliver durch die Tür.

»Und da hilft nicht einmal eine gute Portion altmodischer Nepotismus?«

»Nein, ganz schön mies, was?«, fragte Solveig über ihre Schulter, während sie in die Küche lief. »Ich mach uns schnell einen Tee, wenn dir das recht ist. Ich habe einen Wahnsinnshunger.«

Mette schaute in den Korb, Oliver hatte sich in eine Ecke verkrochen. Normalerweise hätte er lauthals gegen das Eingesperrtsein protestiert.

»Eine Viertelstunde können wir uns wohl leisten«, sagte sie unsicher.

»In zehn Minuten sind wir aus der Tür«, versprach Solveig aus der Küche, wo sie schon den Kessel gefüllt hatte. »Wir nehmen uns ein Taxi.«

Mette schaute dankbar zu, als der Tee serviert wurde und Solveig ihr ein Brötchen reichte. Sie hatte sofort gewusst, wen sie anrufen würde, und das nicht nur, weil Solveig einen Tierarzt kannte. Die beiden anderen wären natürlich ebenfalls verständnisvoll und hilfsbereit gewesen. Aber Isabel konnte Katzen nicht leiden, und Pernille war immer so mit ihren vielen politischen Aktivitäten beschäftigt. Außerdem hatte Solveig eine ganz besondere Eigenschaft. Sie wusste in jeder Lage, was zu tun war. Wie auch jetzt.

»Und wie sieht’s sonst so aus? Geht es dir jetzt besser?«, fragte Solveig, als sie mit dem Taxi zum Tierarzt fuhren.

Es gehörte nicht sehr viel dazu. Nur eine einfache, vorsichtige Frage, schon spürte sie, wie ihre Kehle sich zusammenschnürte. Schon lange, ehe ihr Vater an Krebs gestorben war, hatte dieses bedrückende Gefühl sie wie ein permanenter Schmerz begleitet. So permanent, dass Mette schon geglaubt hatte, sie werde es nie wieder loswerden. Erst in der letzten Zeit hatte es angefangen, seinen Griff zu lockern. Doch das nur, um sich dann wieder energisch zurückzumelden, wenn sie an ihren Kummer erinnert wurde.

»Ich habe letzte Nacht von ihm geträumt«, gestand sie. »Er war so lebendig. Und konnte laufen.«

Jetzt spürte sie, wie ihr wieder die Tränen kamen und ihre Kehle sich zu einem seltsamen, stummen Ächzen öffnete.

»Er konnte wirklich gehen. Kein Rollstuhl und kein Gehgerät. Nicht einmal ein blöder Stock!«

Solveig legte schweigend einen Arm um sie.

»Er war so stolz«, schluchzte Mette und spürte, dass sie ihre mühsam aufgebaute Fassung verlor. »Und jetzt sieh dir doch bloß diesen verdammten Kater an«, fügte sie dann unvermittelt hinzu.

»Bestimmt ist er angefahren worden«, sagte der Tierarzt und musterte sie mit freundlichem Blick.

Er war überhaupt ein freundlicher Mann. Er war auch am Sonntag für sie zu sprechen und sofort bereit, sich um Oliver und dessen gebrochene Pfote zu kümmern. Das Bein musste für sechs Wochen in Gips gelegt werden.

Der Tierarzt war noch jung. Hatte eben erst das Examen gemacht. Die Praxis in Højbjerg gehörte seinem Vater, und er wollte sie später weiterführen. Er kannte Solveig aus dem Tennisklub in Marselis. Ob Mette auch spiele?

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin keine Sportkanone.«

»Du siehst aber ganz so aus«, sagte er und maß bei Oliver Fieber.

Wieder spürte Mette seine Blicke und fühlte sich ratlos. Sie wusste nie, ob Männer flirten wollten, oder was sie vorhatten, immer kam sie sich dumm vor. Sie schaute zum Kater hinüber, der ganz still und in sich gekauert auf dem Tisch saß.

»Jetzt hält er doch immerhin den Mund«, sagte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte, falls sie ihm nicht erzählen wollte, dass er liebe Augen habe, dass sie ihn auch sympathisch finde, dass sie nur leider so schrecklich, schrecklich schüchtern sei.

Und dann rief er am nächsten Tag trotzdem an. Dabei klang er überhaupt nicht so, als habe sie ihn weggeekelt, was sonst oft vorkam.

Im Gegenteil, er bot an, ihr Oliver, der jetzt fix und fertig und eingegipst war, persönlich zu bringen.

Sie schaute auf die Uhr. Eine rasche Dusche würde sie wohl noch schaffen.

Als sie im Keller unter der Dusche stand, fragte sie sich ein weiteres Mal, warum es ihr immer die Sprache verschlug, sowie ein Mann Interesse zeigte. Es lag ja nicht einmal daran, dass sie hässlich oder dumm wäre. Pernille hatte einmal, ohne das böse zu meinen, gesagt, sie wirke auf Männer wie eine Eisjungfrau, jage ihnen Angst ein.

»Du siehst einfach zu gut aus. Du musst deinen Charme aufdrehen, damit sie kapieren, dass du aus Fleisch und Blut bist.«

Mette war verletzt gewesen. Vor allem, weil sie wusste, dass Pernille Recht hatte. Vor allem, was die Eisjungfrau anging. Das Problem war nur, dass Mette einfach nicht anders konnte. Jedes Mal kam sie sich vor wie vor einer unüberwindbaren Mauer, und dann kam sie nicht weiter.

Aber Liebschaften hatte es doch gegeben. Einige wenige Liebhaber hatten unbedingt bis zu ihr durchdringen wollen, ihr Ego hatte sie die Kälte, die Mette offenbar ausstrahlte, einfach ignorieren lassen. Aber das Problem war, dass sie in diesen Fällen gewählt worden war, statt selber ihre Entscheidung zu treffen.

Christian war nicht wie die anderen. Er hatte etwas auf freundliche Weise Drängendes, das sie ansprach, wie Tiere sie ansprachen. Er war so freundlich und lieb, dass er beschützt werden musste, so kam ihr das vor.

»Studierst du auch Medizin?«, fragte er höflich bei Tee und Kuchen.

Sie saßen im Wohnzimmer, und die Wintersonne wanderte in warmen Streifen über sie hin. Oliver lag in einem Sonnenflecken und sah mit seinem eingegipsten Bein absolut surrealistisch aus.

»Nein. Ich studiere Anglistik.«

»Und wirst du danach irgendwann am Gymnasium unterrichten?«, fragte er und griff nach seinem Teller mit der Sahnetorte.

Sie nickte.

»So wird es wohl kommen. Aber ich weiß gar nicht, ob ich Lust zum Unterrichten habe.«

Er blickte sie überrascht an.

»Aber warum studierst du dann Englisch?«

»Weil ich in diese Sprache verliebt bin«, antwortete sie ehrlich. »Das war immer schon so, frag mich nicht, warum.«

Er saß ganz still da und rührte in seiner Tasse. Oliver rappelte sich auf und humpelte in die Küche. Sie hörten sein Gipsbein auf den Boden schlagen.

»Der hört sich an wie Long John Silver«, lachte Mette.

Christian lächelte.

»Solveig hat mir erzählt, dass du deinen Vater verloren hast.«

So viel Freundlichkeit. Es war unerträglich. Das Glücksgefühl hatte ihren Kummer gerade ein wenig in den Hintergrund gedrängt, und nun kam er und wühlte alles wieder auf. Wieder spürte sie den schweren Stein auf ihrem Brustkasten.

»Herzliches Beileid«, sagte er plötzlich ein wenig ungeschickt. »Ich kann gut verstehen, wenn du nicht darüber sprechen möchtest. Aber vielleicht ist das ja der Grund, warum du so traurig aussiehst.«

Und da musste sie einfach lächeln. Sie war also nicht die Einzige, die auf steife, altmodische Ausdrucksweisen verfiel. »Herzliches Beileid«, so etwas sagten doch eigentlich eher ältere Leute.

»Ist schon gut«, sagte sie und spürte ein seltsames Flattern im Bauch. Als werde sie hochgehoben und zehn Meter über der Erdoberfläche wieder fallen gelassen.

Es kam ganz überraschend und es war absolut nicht geplant gewesen. Und das noch dazu an einem Montagnachmittag, an dem sie ihr Referat über Charles Dickens hätte beenden sollen und an dem Oliver mit großen blauen Augen und Gipsbein vor ihr saß und alles, was auf dem Sofa vor sich ging, im Auge behielt.

Aber Christian war so lieb und sagte zwischendurch immer genau das Richtige, was sehr wichtig war. Sie hätte bestimmt geschrien, wenn er zum Beispiel gesagt hätte, er habe »richtig Lust, jetzt mit dir zu bumsen«, denn auf bestimmte Wörter reagierte sie einfach allergisch. Er zog auch kein Kondom aus der Hosentasche, wie ein Magier, der ein Kaninchen aus dem Hut zaubert. Er war einfach nur ganz normal, unnormal wunderbar, und alles tat ihr so gut, sie hätte weinen mögen.

Als die Sonnenstrahlen so schräg fielen, dass die Sonnenflecken auf dem Boden ganz schmal wurden, nahmen sie ihr Gespräch wieder auf und holten sich eine frische Kanne Tee und Käsebrote.

»Da ist Tugend, da ist Anstand, da ist Weisheit und Verstand«, verkündete er mit salbungsvoller Stimme, als sie eine Kerze anzündete, um die Gemütlichkeit vollständig werden zu lassen.

»Was ist mit Solveig?«, fragte Mette vorsichtig.

»Was soll mit ihr sein?«

»Wart ihr mal zusammen?«

Sie hasste sich wegen dieser Frage, aber ihre Neugier siegte über ihre guten Manieren.

Er zuckte mit den Schultern.

»Sie ist ein nettes Mädchen. Und so ein richtiges Jungenmädchen.«

»Was verstehst du unter einem Jungenmädchen?«

Er streichelte sie mit einem Finger im Nacken.

»Ich meine nicht, dass ich glaube, sie steht auf Mädchen. Und ich bin auch nicht so eingebildet, dass ich mich für unwiderstehlich halte . . .«

»Aber?«

Er dachte sorgfältig nach, das konnte sie sehen.

»Wir hatten das, was man vielleicht als kurze Affäre bezeichnen könnte. Aber es gab ein Problem. Ein sexuelles Problem.«

Er schaute sie mit offenem, ehrlichem Gesicht an.

»Sie sagte, es sei nicht so, dass sie nicht wollte. Und manchmal hätten wir es auch fast geschafft. Aber sie konnte das einfach nicht.«

Mette spürte wieder den Klumpen in ihrer Brust, der ihre Tränen nach oben presste.

»Sag mir lieber nicht mehr.«

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