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SEPTEMBER 1980

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ISABEL

Mendelssohn würde sie noch umbringen!

Isabel schaute auf die Uhr. Noch mindestens zwei Stunden. Aber zum Glück würde sie die »Variations Sérieuses«, die sie jetzt pflichtschuldig seit anderthalb Stunden übte, bald beendet haben. In Wirklichkeit war das eine Zeitverschwendung, denn sie wusste genau, dass nicht Zeit, sondern Konzentration entscheidend war. Und ihre Konzentration war wie die einer Fünfjährigen, obwohl sie doch gerade ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte. Sie wollte viel lieber an den Abend mit den Freundinnen denken, der sie später erwartete.

Sie griff nach dem Metronom, zog es auf und stellte es auf »Allegro vivace«. Wie sie dieses Stück hasste! Die schwierigen Passagen wollten ihr einfach nicht gelingen. Die Fingerhaltung war unlogisch, und für einen Moment betrachtete sie ihre kurzen Finger, die in dem verzweifelten Versuch, den komplizierten Griff zu schaffen, über die Tasten flatterten. Sie dachte an Victor Wozniak, dem sie bei der Aufnahmeprüfung für das Konservatorium vorgespielt hatte. Als sie die Chopin-Etüde, wie sie glaubte, mit Bravour beendet hatte, hatte der polnische Klavierprofessor ihre Hand genommen und gemustert wie ein Studienobjekt im Biologieunterricht.

»Hmmm«, hatte er gesagt. »Ja, die Physis kann vielleicht zum Problem werden. Wie viel bekommen Sie in den Griff? Eine Oktave?« Er hatte ihre Finger vor seine eigene Hand gehalten, die mit Leichtigkeit eine Dezime schaffte.

Er hatte mit dieser Bemerkung ins Schwarze getroffen, denn mit gutem Willen und einer Portion Einbildungskraft schaffte sie wirklich gerade eine Oktave.

Aber die Aufnahmeprüfung hatte sie bestanden, und jetzt wollte sie ihnen verflixt noch mal zeigen, dass auch ein Winzling von einsfünfundsechzig und mit Wurstfingern es in einer Welt, in der alle im Namen der Kunst einander argwöhnisch bewachten, zu etwas bringen konnte. Die werden schon sehen, zum Henker, dachte sie und drückte das Pedal bis nach unten durch.

Doch wieder versagte ihre Konzentration, und ihre Gedanken flohen von der Musik zur abendlichen Zusammenkunft.

Gereizt warf sie Mendelssohn beiseite und fischte Beethoven hervor. Den hatte sie sich ganz bewusst aufgespart. Er war eine Art Leckerbissen nach der Plackerei mit Mendelssohn, sie war unsterblich in die Pathétique-Sonate verliebt, vor allem in den langsamen zweiten Satz.

»O Herz, o Schmerz«, murmelte sie, während sie sich zur Sonate weiterblätterte. Vorsichtig schlug sie die ersten Takte an. Es klang gut. Nach verlorener Liebe und zerbrochenen Illusionen. Aber sie konnte trotzdem die Tiefe, nach der sie suchte, nicht zu fassen bekommen.

Mitten in einem Crescendo wurde an die Tür geklopft.

»Ja!«

Die Tür wurde geöffnet, und ihre Großmutter schaute herein.

»Der Kaffee ist fertig, Bella. Kommst du nach oben?«

Isabel spielte weiter, nickte aber, während ihre Finger in einem angestrebten Legato über die Tasten glitten.

»Kennst du das hier?«

Die Großmutter lauschte einen Moment, dann legte sie den Kopf schräg und summte mit tiefer, rostiger Stimme das Thema mit.

Sie brauchte nur dem Duft von Kaffee und frisch gebackenem Brot aus dem Übungsraum im Keller bis hinauf in die kleine Wohnung ihrer Großmutter zu folgen, die die Nachbarwohnung zu ihrer eigenen war. Die Großmutter war schon vorgegangen, gazellendünn und fast ebenso adrett, und machte sich an dem Brot zu schaffen, das sie eben erst aus dem Ofen genommen hatte. Mit gewohnt schnellen Bewegungen packte sie drei Brote auf den Rost. Isabel beobachtete sie mit liebevollem Blick. Sie und ihre Großmutter waren jetzt seit einem halben Jahr Nachbarinnen, und das Zusammenleben übertraf alle Erwartungen.

Manchmal schämte sie sich der bangen Ahnungen, die sie damals gehegt hatte, als die einzige freie Wohnung neben der ihrer Großmutter gelegen hatte. Überempfindlich wie sie war, hatte sie damit gerechnet, dass die alte Frau in alles ihre Nase stecken werde. Aber bald hatte sich herausgestellt, dass sie ihre Großmutter einfach nur schlecht gekannt hatte. Immer diskret und niemals aufdringlich hatte diese eine Grenze zwischen Familienleben und Privatsphäre gezogen.

»Hm, das riecht aber gut. Darf ich mal probieren?«

»Das war eigentlich der Sinn der Sache.«

Die Großmutter schnitt zwei Scheiben Weißbrot ab und bestrich sie dick mit Butter.

»Deine Mutter hat angerufen.«

»Mm«, sagte Isabel mit vollem Mund. »Und was wollte sie?« Die Großmutter trug das Tablett ins Wohnzimmer. Isabel hörte die Tassen leise klirren.

»Du könntest ja zurückrufen und sie selber danach fragen.«

»Das mach ich später.«

»Das hast du auch gestern gesagt«, erwiderte die Großmutter und schenkte für beide rabenschwarzen Kaffee ein.

»Jetzt fang du nicht auch noch an. Ich ruf sie ja an. Wenn ich so weit bin.«

Die Großmutter streckte die Hand nach einem Stück Weißbrot aus und lächelte, so dass sich die Runzeln in ihrem Gesicht verdoppelten.

»Das weiß ich doch, kleine Bella.« Sie tippte mit dem Finger auf ein Buch, das, versehen mit einem Lesezeichen, auf dem Sofa lag.

»Kennst du den? Christian Kampmann?«

Isabel schluckte etwas schneller als geplant einen Mund voll glühend heißem Kaffee hinunter.

»Aber Oma. Der ist doch schwul!«

Die Großmutter machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Jaja, das kann schon möglich sein. Aber er ist so witzig . . . und frech.« Sie grinste viel sagend.

Isabel lachte laut.

»Du bist wirklich unbezahlbar. Was sagen sie denn in der Bücherei dazu, dass eine alte Dame von achtzig Jahren sich Schwulenromane ausleiht?«

»Was sollen sie schon sagen«, sagte die Großmutter gelassen. »Ich habe doch inzwischen alle anderen Bücher gelesen, und das psychologische Geschwafel habe ich satt.«

»Dann lieber ein paar offene Worte über knackige Hintern in strammen Hosen?«

Die Großmutter nippte an ihrem Kaffee.

»Du solltest deine Jugend genießen, Bella«, sagte sie ernst. »Als ich jung war, durften wir nichts. Heute dürft ihr machen, was ihr wollt.« Isabel verzog das Gesicht.

»Vielleicht ist das ja gerade das Problem.«

»Aber etwas verstehe ich trotzdem nicht«, sagte die Großmutter ungerührt. »Ich kann mir ja vorstellen, wie zwei Männer das machen. Aber wenn zwei Frauen zusammen ins Bett gehen . . . kannst du mir das erklären, Bella? Ich begreife einfach nicht, wie die das machen!«

Isabel wollte schon den Kopf in den Nacken legen und losprusten, doch dann sah sie, dass ihre Großmutter das ernst gemeint hatte.

»Ich gehe davon aus, dass sie sich gegenseitig zum Orgasmus bringen«, sagte sie nach einer Weile.

»Das ist mir schon klar. Aber wie?«

Isabel wusste nicht so recht, ob diese Wendung, die ihr Gespräch hier genommen hatte, ihr gefiel. »Ach, zum Henker«, sagte sie endlich. »Woher soll ich das wissen?«

Die Großmutter schnaubte skeptisch. »Na, das kann ja auch egal sein. Aber ich kann wirklich noch immer nicht verstehen . . .«

»Hast du ansonsten in letzter Zeit etwas Interessantes gelesen – außer Kampmann?«, fragte Isabel verzweifelt.

Die Großmutter strahlte.

»O ja, das musst du auch lesen . . . einen wunderbaren Krimi von einer Amerikanerin, ich kann den Namen nicht aussprechen. Darin gibt es alles. Gewalt, Sex, Romantik.«

Die Großmutter blickte sie mit unverhohlener Begeisterung an. Isabel verdrehte die Augen.

»Du hättest Schriftstellerin werden sollen. Dann wären wir jetzt Milliardärinnen!«

Sie schaltete ihr Fahrrad in einen anderen Gang und stellte sich auf die Pedale, als sie den Fattiggårdsbakken hochfuhr, vorbei am vertrauten Anblick von Dom und Reitstall. Århus lag eingetaucht im Licht der tief stehenden Septembersonne; klar und frisch, als habe die Stadt eben erst einen Regenschauer abgeschüttelt und wärme sich jetzt in den letzten Sonnenstrahlen des Tages. Nur der schwache Geruch der ewig aktiven Ölmühle störte die ansonsten fast perfekte Idylle ein wenig. Ihre Liebe zu dieser Stadt kannte fast keine Vorbehalte, Århus gehörte beinahe so sehr zu ihrem Leben wie FrühstückskafFee und Käsebrote und die fünf Stunden Üben jeden Tag.

Im Weiterfahren überlegte sie, wie dieser Abend wohl ausfallen würde. Vielleicht würden sie später in der Stadt enden. In der Skolegade oder der Vestergade 58.

Sie hatte lange vor dem Spiegel gestanden und nicht gewusst, was sie anziehen sollte. Am Ende hatte sie sich für ein ziemlich verhüllendes Kleid aus einem Secondhandladen und ein selbst gehäkeltes lila Tuch entschieden. Das Kleid war aus einer alten geblümten Schürze genäht worden, es war ein Relikt aus ihrer Gymnasialzeit. Die Person, die dieses Meisterwerk geschaffen hatte, hatte ein Oberteil aus zwei breiten, silbergrauen Veloursstreifen und ein Mittelteil aus einem handgestickten Kissenbezug hergestellt. Zwei hohe Stiefel ließen die Trägerin angemessen hart und romantisch zugleich aussehen. Isabel hatte sich vor dem Spiegel gedreht und gewendet, hatte mit ungeübter Hand ein wenig Make-up aufgetragen, hatte zwei Pickel mit brauner Creme getarnt und ansonsten resigniert ihre vierschrötige Gestalt gemustert. Eine Sylphide konnte sie wohl niemals werden, aber immerhin hatte sie schöne Augen. Und die dunklen Augenbrauen sahen unter ihren blonden Haaren schließlich interessant aus.

Mit einer Flasche Rioja in einer Plastiktüte auf dem Gepäckträger und mit einer mit Fransen versehenen Wildlederjacke über dem Kleid war sie zu allem bereit, was der Abend bereithalten mochte.

Sie hatte eben auf die Uhr geschaut, als Solveig ihre Tür in der Ålborggade aufriss. Lange, buttergelbe Haare umkränzten ein kerngesundes Gesicht mit sehr wenig Make-up und blaugrauen, fröhlich funkelnden Augen.

»Schön, dass du da bist. Pernille sehnt sich schon nach einem Publikum für ihre Predigt.«

»Worüber denn?«

Solveig verdrehte die Augen.

»Irgendein Greenpeace-Kram. Natürlich die pure Propaganda.«

Sie zwinkerte Isabel zu.

»Tu doch einfach so, als ob du ihr zuhörtest!«

Solveig ging auf Zehenspitzen vor ihr her durch den Flur. Ihr schwarzer ausgefranster Rock schlug ihr gegen die noch immer sommerbraunen Beine.

Isabel beneidete sie um die frisch renovierte Patrizierwohnung mit den hohen Decken. Solveigs Eltern hatten ihr Wohnung und Auto geschenkt, doch bei genauerem Nachdenken zog Isabel ihr Fahrrad und ihr Chaos in Åbyhøj vor. Sie zog auch ihre eigenen Eltern vor, auch wenn die geschieden waren.

Solveig betete ihren Vater an, aber Isabel hatte sich in seiner Gesellschaft immer unwohl gefühlt. Seine Art zeugte von einer Verachtung anderer Menschen, die ihr nicht zusagte. Leo Aastrand mochte ein tüchtiger Sportarzt sein, aber er war auch ein Machtmensch. Macht über seine eigene Tochter hat er auf jeden Fall, dachte Isabel oft.

Pernille saß mit hochgezogenen Beinen auf dem Sofa.

»Bitte sehr. Ein Stück Zuhörerin, während ich mich an die Lasagne mache«, verkündete Solveig.

Sie wollte noch mehr sagen, doch dann hielt sie inne und schnupperte in der Luft herum.

»Es riecht angebrannt . . .«

Solveig stürzte davon, und Isabel hörte sie schimpfen und in der Küche herumhantieren, während der Gestank von verbranntem Käse die Wohnung füllte.

»Was hast du da für ein Projekt am Laufen?«

Isabel ließ sich in einen Sessel fallen und war bereit, sich Pernilles üblichen Vortrag anzuhören. Pernille, die in ihrer Freizeit im Greenpeace-Laden arbeitete, machte sich sofort über ihr Opfer her.

»Uns fehlen noch Leute, die am Mittwoch in der Fußgängerzone Plaketten zur Unterstützung der Antiwalfangaktionen verkaufen«, sagte sie sofort. »Und da habe ich an euch gedacht.«

Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Deshalb sagte Isabel einfach:

»Ja, und?«

»Was hast du am Mittwoch vor?«, fragte Pernille mit dem listigen Blick der Fanatikerin.

Isabel dachte nach und hoffte, ihr werde ein wichtiger Termin einfallen. Denn sie war schon längst als schlechteste Lügnerin aller Zeiten entlarvt.

»Da muss ich erst in meinem Terminkalender nachsehen . . . und der liegt natürlich bei mir zu Hause.«

Sie merkte, dass Pernille eine scharfe, belehrende Bemerkung machen wollte. Doch in dem Moment ging die Türklingel, und Solveig rief aus der Küche:

»Würde eine von euch aufmachen?«

Draußen stand Mette, mit feinem, blassem Teint. Die glückliche Mette, die niemals Pickel bekam und niemals Bierhefe essen oder ihr Gesicht mit Clearasil waschen musste. Sie umarmten einander, wie sich das gehörte.

Mette befreite sich von ihrem Fjällräven-Rucksack und ihrem Anorak. Dann rümpfte sie die Nase.

»Hier riecht ’s ja angebrannt.«

»Das kommt aus der Küche. Aber ich glaube, jetzt ist alles unter Kontrolle.«

Mette lächelte nachsichtig, und Isabel dachte wie immer, dass Mette und nicht sie selber aussah wie eine angehende weltberühmte Pianistin. Mettes zartes Aussehen hätte sich auf einer Plattenhülle gut gemacht. Außerdem hatte sie Stil. Obwohl sie studierte und kaum Geld hatte, kaufte sie doch immer klassische, wenn auch wenige Dinge. Hier einen Gürtel, dort ein Paar Schuhe, und damit sah sie aus wie eine diskrete Million.

»Kontrolle! Das will ich sehen, ehe ich es glaube«, verkündete Mette und schaute in die Küche.

Der Wein war fast ausgetrunken, die Lasagne vollständig verspeist. Sie stritten sich um den letzten Rest Birnentorte aus dem Café »Karolines Køkken.« Gerede und Gelächter erfüllten den Raum.

Isabel ließ ihren Blick durch die Runde wandern. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie auch ohne jene Juninacht in ihrer Schulzeit, in der ihre Lebensbahnen so gründlich miteinander verflochten worden waren, noch so eng zusammenhalten würden. Ohne die Nacht, die keine von ihnen vergessen konnte, obwohl sie nie erwähnt wurde; sie war gewissermaßen in eine Abstellkammer verwiesen worden, in der alles versteckt wird, was man nicht zeigen mag.

Sie waren so unterschiedlich.

Pernille, die politisch Bewusste, wollte die Welt retten und hatte deshalb zu allem eine Meinung. Sie war eine ernste Person, doch hinter dem Ernst und der darunter verborgenen Sensibilität lag doch eine gute Portion Humor, was den Umgang mit ihr erträglich werden ließ.

Vor allem Solveig konnte Pernilles Humor wecken. Die beiden waren schon seit der Grundschule befreundet, und Isabel dachte oft, die zwei Freundinnen seien wie Feuer und Wasser. Pernille war das Feuer, die Intensivere, Angespanntere von beiden, die immer wieder gegen allerlei Ungerechtigkeiten in den Krieg zog, Solveig dagegen goss Öl auf die Wogen und stellte die Ruhe wieder her.

Mette war am schwersten zu durchschauen. Die Männer schienen Angst vor ihrer eigentümlichen Schönheit zu haben, und sie lernte einfach nicht den richtigen Umgang mit dem anderen Geschlecht, zeigte eine Verzagtheit und eine Unbeholfenheit, die zu ihrem Aussehen nicht passten. Isabel überlegte sich oft, dass Mette vielleicht einen Mann brauche, der etwas älter wäre als sie. So, wie sie Mette kannte, würde diese sicher auch nicht protestieren, wenn dieser Mann etwas Geld hätte.

In diesem Moment musterte Mette die anderen. Der Wein brachte ihre Augen zum Strahlen und hatte ihre Mutlosigkeit vertrieben. Sogar ihre ansonsten dünne und zaghafte Stimme hatte jetzt an Kraft gewonnen.

»Spürt ihr das nicht auch?«, fragte sie. »Geht es uns nicht einfach fantastisch gut?«

»Redest du hier vom Essen?«, fragte Solveig hoffnungsvoll.

Mette lächelte.

»Davon natürlich auch. Vom Essen, vom Wein, vom ganzen Abend . . . von der Zukunft und . . .« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Von der Freiheit«, sagte sie triumphierend. »Wir haben unsere Freiheit. Ist das nicht fantastisch? Was sollen wir mit der vielen Freiheit anfangen?«

Die anderen tauschten Blicke, als hätten sie eine Offenbarung erlebt. Auch der Wein trug dazu bei, dass Mettes Worte ihnen plötzlich wie Goldstücke vorkamen.

Sie hatte ja Recht. Genau darum ging es, dachte Isabel. Um das Gefühl von Freiheit.

»Wir können alles selber entscheiden«, sagte Mette jetzt. »Von unserer Haarfarbe bis zu der Frage, was wir werden wollen, wenn wir groß sind. Niemand bestimmt über uns.«

»Nicht einmal die Liebhaber. Denn im Moment haben wir ja keine«, kommentierte Solveig, die offenbar von Mettes Eifer mitgerissen worden war. »Wir haben nur einander.«

Das stimmte. Eine Woge der Dankbarkeit durchflutete Isabel. Die Begeisterung der anderen wirkte ansteckend. Hier, an diesem warmen Septemberabend, schien die Luft mit Verheißungen geladen zu sein, und zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie, dass etwas mit den Flügeln schlug und hinauswollte. Die Lebensfreude. Die Freude und die Freiheit, die den meisten anderen als Selbstverständlichkeit erschienen.

Mette strahlte, und ein eifriges Lächeln umspielte ihren Mund. Sie ließ sich im Sessel zurücksinken und schaute eine nach der anderen an.

»Ist euch eigentlich klar, dass wir allesamt freie Frauen sind? . . . In jeglicher Hinsicht«, fügte sie hinzu.

Solveig sang mit leiser Stimme:

»Und kein Band hält mich gefesselt . . .«

»Nein, ich meine das wirklich. Wir fangen doch erst an . . . alle Möglichkeiten stehen uns offen.« Mettes Stimme wurde immer mitreißender und wärmer. »Und für nichts ist es zu spät. Wir haben noch immer die Möglichkeit, eine richtige oder eine andere Wahl zu treffen. Solveig kann noch immer von Medizin auf Sinologie überwechseln. Wenn sie das will. Isabel, du kannst eine Popgruppe gründen und reich und berühmt werden.«

Solveig griff diesen Faden auf:

»Und Pernille kann auch noch umsatteln und zu den Rechtspopulisten gehen.«

»Theoretisch«, murmelte Pernille. »Sehr theoretisch.«

»Alles ist möglich. Ist das nicht fantastisch?«, fragte Mette begeistert, und Isabel kam sich sehr lebendig und wach vor. Es stimmte ja, die Freiheit lag vor ihnen und alle Möglichkeiten waren offen. Kein Band hielt sie gefesselt. Sie waren einzigartig. Etwas ganz Besonderes.

Sie kamen überein: dass sie diese Freiheit niemals verlieren würden, sie würden sie füreinander hüten. Dass diese Freiheit immer ihr Kennzeichen sein sollte, und dass sie unzertrennlich bleiben würden.

Pernille, die über organisatorisches Geschick verfügte, sagte:

»Saugut. Wir gründen einen Verein zur Bewahrung von Freiheit und Freundschaft. Jetzt fehlt uns nur noch der Name!«

Und in diesem Moment wusste Isabel, wie der Verein heißen sollte, und was ihr in ihrem Leben bisher gefehlt hatte. Das berauschende Gefühl von Gemeinschaft, die Erkenntnis, dass sie unzertrennlich waren und dass sie und nur sie allein über ihre Zukunft bestimmten.

»Der Club der Unzertrennlichen«, sagte sie feierlich.

»Amen«, psalmodierte Mette.

Solveig legte feierlich ihre Hand mitten auf den runden Tisch.

»Der Club der Unzertrennlichen. Gegründet von Freien Frauen.«

Mettes Hand legte sich mit festem Griff auf Solveigs. Pernilles folgte. Isabel dachte an ihre Großmutter und hörte das Echo von deren brüchiger Stimme: »Du musst deine Jugend genießen, Bella.«

Und sie legte ihre rechte Hand auf die Hände der anderen.

Der Club der Unzertrennlichen - Skandinavien-Krimi

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