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DEZEMBER 1980

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PERNILLE

Luxusbad, Lakritze und Illustrierte.

Das war das Rezept für einen entspannenden Donnerstagvormittag, und Pernille und Solveig hatten sich wie immer vor den roten, gefängnisartigen Mauern der Badeanstalt Spanien verabredet.

Ab und zu kamen noch andere Freundinnen dazu, aber die beiden bildeten den harten Kern der Luxustiere. Das war schon so, seit Pernille als Pionierin die ganz spezielle Kombination von Schwimmen, Dampfbad und Sauna getestet hatte und zu der Erkenntnis gekommen war, dass sich Freundinnengeplauder aufs Feinste mit Körperertüchtigung und der Illusion von Gesundheit verbinden ließ. Illusion, weü ihr Aufenthalt in Spanien in der Regel von mehreren Tüten Lakritze begleitet wurde. Schokolade war unmöglich, das hatten sie versucht, die schmolz einfach nur.

Während sie auf Solveig wartete – die immer mit akademischer Verspätung eintraf – kaufte Pernille eine Illustrierte und setzte sich auf die Treppe, die zum Eingang hinaufführte. In der Regel freute sie sich auf die wöchentlichen Treffen, aber an diesem Tag ging ihr etwas die ganze Zeit durch den Kopf und wollte ihr keine Ruhe lassen: ihre Mutter, oder, genauer gesagt, die Geliebte ihrer Mutter, Ruth.

Sie streckte ein langes Bein zur untersten Treppenstufe aus und betrachtete die selbst gestrickten Socken in den neuen Gesundheitsschuhen, die sie sich eben geleistet hatte. Für einen Moment dachte sie über die seltsame Tatsache nach, dass Sockenstricken zu ihren absoluten Lieblingsbeschäftigungen zählte. Eigentlich hätten ganz andere Dinge die Hitliste anführen müssen, zum Beispiel die Lektüre der Diskussionsseiten in der Zeitung Information oder der Verkauf von Plaketten am Greenpeace-Stand in der Fußgängerzone. Aber egal. Auch Sockenstricken war doch ein kleiner Beitrag zum Umweltschutz, denn die Wolle stammte von den Schafen ihrer Mutter, sie hatte sie selber gefärbt, gesponnen und zu Garnsträngen aufgewickelt, und jedes Mal, wenn sie ein Paar Socken verschenkte, wurden anderswo Rohstoffe gespart, und der Umwelt wurden die giftigen Farbstoffe erspart, die in der Industrie verwendet wurden. Natürlich ließe sich theoretisch einwenden, dass sie durch ihr Stricken den Frauen an den Strickmaschinen die Arbeit wegnahm. Aber das wäre nun wirklich arg theoretisch gewesen . . .

»Musst du mal wieder die Probleme aller Welt lösen?«

Sie schaute auf. Solveig stand lächelnd vor ihr, in ihrem Anorak und mit dem Rucksack auf dem Rücken. Die Fahrt mit dem Rad hatte ihre Wangen gerötet, und ihre blonden Haare klebten schweißnass an ihrer Stirn.

Sie gingen die Treppe hoch und begrüßten einige der Schwulen, die sie jedes Mal hier in Spanien trafen.

»Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich in deren Abteilung nicht zu tief nach der Seife bücken«, pflegte Solveig dann immer zu sagen.

Anfangs hatte die Anwesenheit der Schwulen ihr Probleme gemacht, während Pernille diese kaum registriert hatte. So weit sie sich zurückerinnern konnte, hatte ihre Mutter immer Lesben und Schwule in allen Größen und Altersklassen ins Haus geschleppt.

»Also? Was macht dir solches Kopfzerbrechen?«

Solveig konnte ihre Freundin immer durchschauen. Sie kannten einander so gut. Schon seit dem Tag in der dritten Klasse der Lisbjergschule, an dem Solveig als die Neue in der Klasse vorgestellt worden war. Die anderen Bauerngören hatten die Neue mit den wohlhabenden Eltern, die immer nach dem letzten Schrei gekleidet war, sofort argwöhnisch beäugt. Pernille dagegen hatte zu Hause gelernt, dass niemand ausgeschlossen werden durfte, und obwohl ihre Mutter dabei vielleicht nicht gerade an reiche Oberarzttöchter gedacht hatte, wurde Solveig schon bald in das kleine reetgedeckte Haus in Skejby mitgeschleppt.

»Meine Mutter«, teilte Pernille mit Grabesstimme mit.

»Was ist mit ihr?«, fragte Solveig.

»Ruth ist eingezogen.«

»Uakk! Und was sagt dein Vater dazu?«

Pernille zuckte mit den Schultern.

»Nichts, glaube ich. Der ist doch ein Schlappschwanz. Das wissen wir ja.«

Sie lugte zu Solveig hinüber, und die lächelte bekümmert.

»Armer Niller!«

Pernille nickte zustimmend.

»Aber wenn es denn schon sein muss, dann ist es gut, dass es dich trifft«, neckte Solveig, als sie sich im Umkleideraum auszogen.

Pernille stellte sich unter die Dusche und seifte ihren Körper mit einem der Wegwerfschwämme ein, die zum allgemeinen Gebrauch in einem großen Korb lagen. Die benutzten landeten in einem anderen Korb, und beide prägten sich genau ein, welche wo lagen, um sich nicht an den benutzten Schwämmen fremder Leute zu vergreifen.

»Wieso das denn?«

»Weil du so tolerant bist«, keuchte Solveig unter der kalten Dusche. Sie duschte immer kalt.

»Ich bin gar nicht tolerant, wenn es um meine Mutter geht.«

»Betrachte es als Herausforderung. Damit wird dein Charakter auf die Probe gestellt«, erklärte Solveig und streifte ihren lila Badeanzug über.

»Du findest vielleicht, ich hätte es verdient, dass meine Mutter mit ihrer lesbischen Freundin in demselben Haus zusammenlebt, in dem mein Vater noch immer wohnt und in dem Peter und ich aufgewachsen sind? Findest du das?«

Sie wusste genau, dass sie sich unnötig aufregte. Aber manchmal konnte sie einfach nicht anders. Sie wusste, dass sie alles zu wörtlich nahm, und sie wusste auch, dass die Röte jetzt von ihrem Hals her nach oben wanderte.

Solveig lachte nur und schlug mit ihrem Handtuch nach ihr.

»Manchmal bist du einfach nur blöd, du Dussel. Natürlich hast du das nicht verdient. Habe ich das vielleicht behauptet?«

»Du hast es angedeutet.«

»Nichts da. Wer zuerst im Wasser ist!«

Sie rannten los, so gut sich das auf dem glatten Boden machen ließ, doch wie immer erstarrte Pernille vor dem Sprung ins Becken. Solveig dagegen sprang sofort los und tauchte wie ein Fisch zum Boden. Sie war eine Wasserratte; sie war überhaupt eine begeisterte Sportlerin.

Pernille hielt einen Zeh ins Wasser und fröstelte.

»Na los. Mach schnell. Spring, verdammt!«

Sie holte tief Luft. Und dann wurde sie vom kalten, scharfen Chlorwasser umschlungen.

Sie schwammen wie immer fünfzehn Bahnen. Das war nicht viel, aber Kleinvieh macht auch Mist, und es war trotz allem ein Luxusbad. Während das eisblaue Wasser bei jedem Zug ihrer Körperfülle wich und Solveig wie aus einer Kanone geschossen dahinjagte, dachte Pernille an ihre Mutter.

Vor langer Zeit war sie einmal eine ganz normale Mutter gewesen. Eine, die dafür gesorgt hatte, dass Pernille und Peter Pausenbrote mit in die Schule nahmen, die putzte und sonntags Brathähnchen servierte. Doch eines Tages, als Pernille gerade elf war, hatte sie dann erklärt, sie wolle sich jetzt selbst verwirklichen. Von diesem Tag an war das Leben zu Hause auf den Kopf gestellt worden, und das Brathähnchen hatte Linsenpastete und Möhrensuppe weichen müssen. Das Abonnement der Århus Stiftstidende war gekündigt worden, jetzt wurde nur noch die Information gelesen, und Pernilles Mutter war nie mehr zu Hause, weil sie sich allen möglichen Aktionsgruppen angeschlossen hatte, in denen alles zwischen Ozonloch und Selbstentwicklung diskutiert wurde. Pernille wurde in Frauenlager mitgenommen, wo ihre Mutter an einem denkwürdigen Johannisabend eine Offenbarung erlebt und ihre lesbische Identität entdeckt hatte. Pernille konnte sich noch genau an den Abend erinnern, an dem ihre Mutter ihr diese Neuigkeit mitgeteilt und sie selber zum ersten Mal die bodenlose Angst empfunden hatte, die sie seither verfolgte und die sie immer wieder mit Gewalt unterdrücken musste.

Als habe diese Erinnerung sie endgültig eingeholt, schlug plötzlich das Chlorwasser über ihr zusammen. Das dauerte nur einen Moment, war aber so beängstigend wie immer. Diese verdammte Angst. Geh weg. Ich will nicht. Heute nicht.

Sie legte alle Kraftreserven in ihre Schwimmzüge und schoss durch das Wasser davon. Bei jedem Zug wurde die Angst ein wenig gedämpft, und das ängstliche Hämmern ihres Herzens machte Erschöpfung Platz. Müdigkeit, die konnte sie jetzt brauchen. Müde sein tat gut, dann merkte sie nicht mehr so viel.

»He, was ist denn in dich gefahren? Trainierst du für die Olympiade?«

Solveig bespritzte sie von der benachbarten Bahn her und holte sie damit in die Gegenwart zurück, wie nur Solveig das konnte.

Pernille lächelte erleichtert. Es war doch nichts. Und damit nichts, vor dem sie sich furchten musste. Es gab nur das Wasser und das Schwimmen und Solveig und die Erwartung des Dampfbades, das ihr die allerletzten Kräfte nehmen und sie in Leib und Seele läutern würde.

Sie schaute auf die Schwimmbaduhr. Sie waren erst seit zehn Minuten im Wasser.

»Sollen wir nicht aufhören?«

»Ach, noch fünf Minuten«, verlangte Solveig.

Gleich darauf hörte Pernille ein Platschen, und alles um sie herum war nur noch Wasser, Wasser und abermals Wasser. Sie spürte, wie sie für einen Moment nach unten gezogen wurde und wie die Panik sie zu überwältigen drohte. Doch dann wurde sie von einem starken Arm gepackt, und spuckend und prustend erreichte sie wieder die Wasseroberfläche.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Ist alles in Ordnung?«

Es war eine Männerstimme, aber im Moment konnte sie noch nichts sehen, und außerdem war sie vollauf damit beschäftigt, sich über Wasser zu halten. Erst, als sie sich das Wasser aus den Augen gerieben und ausgiebig gehustet hatte, sah sie den Jungen, der sie besorgt musterte und ebenfalls Wasser trat.

»Das war mein Fehler«, gab er zu. »Ich bin einfach losgesprungen.«

Er nickte zum Sprungbrett hoch. »Ohne mich richtig umzusehen«, fügte er hinzu.

Sie war zu geschockt, um wütend zu werden. Und außerdem hatte er schöne Augen, genau von derselben Farbe wie der Beckenboden. Ansonsten konnte sie nur Spekulationen anstellen, denn das Wasser verzerrte seine Körperform. Für einen Moment registrierte sie immerhin Solveigs neckendes Lächeln hinter seinem Rücken und sah ihren erhobenen Daumen.

»Ich heiße Poul«, sagte der Junge unaufgefordert und nickte zum Beckenrand hinüber. »Meinst du nicht auch, wir sollten an den Beckenrand gehen? Vielleicht hast du Wasser geschluckt, und überhaupt.«

›Wir.‹

Pernille wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie folgte ihm einfach, als er zum Beckenrand schwamm. Mit einem Zug war er oben. Und schon hatte er einen Arm ausgestreckt und ihr aus dem Wasser geholfen.

»Ich bin sonst nicht so unvorsichtig«, sagte er mit einem Lächeln, das um Entschuldigung zu bitten schien.

Pernille planschte ziellos mit einem Fuß im Wasser herum.

»Das war wirklich eine Überraschung. Aber so schlimm war es auch wieder nicht.«

»Kommst du oft hierher?«

»Jeden Donnerstag, zusammen mit meiner Freundin.«

»Ich auch. Ich meine, nicht mit meiner Freundin . . . allein.«

Pernille wagte kaum, in seine türkisfarbenen Augen zu schauen. Es war fast zu viel. Sie kam sich davon wie geblendet vor.

»Dann sehen wir uns ja vielleicht wieder«, murmelte sie und mochte ihren eigenen Ohren nicht trauen. Was redete sie da bloß für einen Schwachsinn. Es hörte sich an wie ein Spruch aus einem der beiden Liebesromane, die sie mit dreizehn gelesen hatte.

Sie merkte, dass er lächelte.

»Das wäre nett. Ich werde auch bestimmt nicht wieder versuchen dich zu ertränken.«

»Ach, danke.«

Der Dampf quoll ihr entgegen, als sie die Tür zum Dampfbad öffnete.

»Wo steckst du?«

»Hier.«

»Wo ist hier?«

Solveig hatte sich weit in die Tiefe hineingewagt. Pernille kam sich vor wie in einem Ofen, aber trotzdem war es immer eine angenehme Form von Unbehagen. Das Gefühl, dass der Dampf durch ihre Haut und bis zu ihren Knochen vordrang und seine brennende Hitze durch ihren Leib jagte und die Kälte vertrieb. Die Kälte, die Angst und das Gefühl, so schrecklich viel beweisen zu müssen.

»Jetzt hau deinen Hintern schon irgendwo hin«, sagte Solveig, deren Umrisse aus dem Dampf auftauchten. Sie hatte sich in ihrer ganzen Blöße auf eine der alten Marmorbänke fallen lassen.

Pernille gesellte sich zu ihr. Wie immer bei der Begegnung mit dem Dampf nervös und zugleich erregt.

»Meine Fresse, ist das heiß!«

»Wie in der tiefsten Hölle. Versuch dich zu entspannen. Atme tief durch und denke an diesen Poul Newman. – Oder vielleicht solltest du das lieber lassen«, sagte Solveig bei genauerem Nachdenken. »Der hat sicher die genau entgegengesetzte Wirkung.«

»Sicher«, murmelte Pernille, deren Gedanken an zwei Orten zugleich waren. »Was soll ich mit meiner Mutter machen?«

Solveig legte den Kopf in den Nacken und lehnte sich an die Mauer.

»Was sollst du mit deinem Vater machen? Diese Frage kommt mir wichtiger vor.«

»Wieso das?«

»Weil es ihm sicher total dreckig geht. Weil er ein Mann ist und weil er es nicht schafft, sich wie ein Mann zu verhalten. Weil ihr ihn verachtet, du und deine Mutter.«

Pernille seufzte.

»Verachte ich ihn? Vielleicht. Aber ich liebe ihn doch auch.«

»Das will ich hoffen.«

Solveig setzte sich gerade hin und schaute auf Pernille herab.

»Ich mag deine Eltern wirklich beide sehr gern. Sie sind schon ziemliche Sonderlinge, aber ich mag sie trotzdem, und ich war bei ihnen immer willkommen. Sie werden schon eine Lösung finden.«

»Dreiecksdrama«, sagte Pernille theatralisch. »Wird das nicht so genannt?«

»Ist doch egal, wie das heißt. Los jetzt, Niller. Ich weiß, dass es immer etwas anderes ist, wenn es um die eigene Familie geht. Aber du musst versuchen, sie so zu akzeptieren, wie sie sind.«

Pernille schnaubte.

»Die sind einfach bescheuert!«

»Sind sie nicht. Sie wissen bloß nicht, wie sie sich verhalten sollen. Sie haben einander gern und können sich nicht zu einer Trennung aufraffen. Dein Vater möchte lieber mit seiner Rivalin unter einem Dach hausen, und deine Mutter möchte ihm das lieber zumuten, statt einfach endgültig ihrer Wege zu gehen.«

»Und Ruth?«

Solveig rief ärgerlich:

»Ruth ist im Großen und Ganzen ja wohl eher unwichtig. Vergiss sie. Entspann dich. Denk an etwas anderes. Wir können doch etwas unternehmen. Können in die Stadt gehen, mit den anderen zusammen kochen, wir haben einander!«

Pernille erhob sich von der Marmorbank. Allein diese Bewegung ließ sie die Temperatur viel stärker fühlen und jagte eine Hitzewelle durch ihren Körper. Rasch setzte sie sich wieder.

Solveig musterte sie durch den Dampf hindurch.

»Warum verliebst du dich nicht in den Typen vom Zehnmeterbrett? Verliebte Leute sehen immer alles viel positiver.«

»Woher weißt du das denn?«, fragte Pernille neugierig.

»Das hab ich in einem Buch gelesen.«

»Theorie ist sehr gut, aber Praxis ist besser.«

Solveig stellte sich taub. Und wie immer fragte Pernille sich, ob es ihr jemals erlaubt werden würde, bei Solveig in die Rolle der Zuhörerin zu schlüpfen. Und ob sie bei einer, die allen anderen lieber half als sich selber, überhaupt seelische Erste Hilfe leisten könnte.

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