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Berufliche Grundbildung in der Industrie
ОглавлениеIm 19. Jahrhundert wächst die Zahl der Erwerbstätigen, die in der Industrie tätig sind, von 1000 auf 277 000. 1960 wird der Höhepunkt mit 830 000 erreicht, mit 33 Prozent aller Erwerbstätigen, siehe Grafik 2.
Grafik 2 Erwerbstätige in der Industrie, absolut und relativ zur Wohnbevölkerung. (Elsasser 1975, 5, eigene Darstellung)
In den ersten Jahrzehnten der Industrialisierung sind es Handwerker und Bauern, die den Schritt wagen, in Fabriken zu arbeiten bzw. infolge mangelnder oder schlecht bezahlter Arbeit dazu gezwungen werden. [1819a] Sie müssen nicht nur neue Fertigkeiten erwerben, sondern sich an eine neue Kultur anpassen: feste Arbeitszeiten, klare Trennung zwischen Freizeit und Arbeit (ein Schwatz oder eine Rauchpause sind nicht mehr erlaubt), Akkordarbeit etc.
Für anspruchsvollere Arbeiten werden bewährte Handwerker geholt, denen aber die veränderte Kultur oft Probleme bereitet, alle übrigen werden «angelernt». Das heisst, sie werden für einige wenige Verrichtungen qualifiziert, wobei in den 1920er-Jahren Psychologen beigezogen werden, um die Anlernung so zu gestalten, dass die Angelernten möglichst rasch eine möglichst hohe Produktivität erreichen.
Aber nicht alle Angelernten führen «Primitiv- und Repetitivarbeiten» aus. (Jeangros 1955, 23) Im 20. Jh. entwickeln sich manche zu erfahrenen Spezialarbeitern, die «von Weniger viel Mehr wissen und können» als gelernte und erfahrene Handwerker (ebd.) und die zu Unrecht als «Arbeiter zweiter Klasse» betrachtet werden. Es wird sogar diskutiert, ob nicht die Anlernung für die Industrie eine sinnvolle Alternative zur Berufslehre sein könnte, die sich eher an den Bedürfnissen des Gewerbes orientiert.
Es kommt anders: Nachdem einzelne Grossfirmen wie Sulzer bereits Mitte des 19. Jh. begonnen haben, jungen Männern eine Berufslehre zu vermitteln, wird diese Form der Vorbereitung auf die Industriearbeit bis Ende des 20. Jh. zum Normalfall. Allerdings: Dies geschieht anders als im Gewerbe. Angesichts der streng getakteten, arbeitsteilig organisierten Industriearbeit «stören» Anfänger die Abläufe, und niemand hat Zeit, sie einzuführen. Ab 1870 richten Industriefirmen «Lehrwerkstätten» ein, in denen die Lehrlinge die ersten Monate, ja oft sogar zwei Jahre verbringen, bevor sie in die Produktion wechseln. [Betriebl. Lehrwerkstätten] Dies gilt besonders für die Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie, später aber auch für die chemische Industrie (Lehrlabors, Pilotwerke) und für den Handel (Übungsbüros).
Abbildung 7 In der industriellen Schuhproduktion arbeiten in erster Linie angelernte Arbeiterinnen und Arbeiter. Manche von ihnen erwerben sich ein grosses, hochspezialisiertes Erfahrungswissen. Sie werden zu Spezialarbeiterinnen und Spezialarbeitern mit allen Vor- und Nachteilen einer spezialisierten Ausbildung (Vamus, Industriekultur)
Nicht nur der Lernort ändert, auch die Zielsetzung der beruflichen Grundbildung ändert sich, denn neue Arbeitsformen verlangen andere Qualifikationen. Zum Beispiel die Fähigkeit, zu planen und die eigene Arbeit zu kontrollieren, in Teams zu arbeiten, sich den dynamisch ändernden Fertigungsverfahren anzupassen. Und vor allem: Je mehr industrielle Arbeit automatisiert wird, umso mehr ändert sich die Zielsetzung der Berufslehre. Sie bereitet nicht mehr auf eine Berufsarbeit vor, sondern auf ein Studium in der Tertiärstufe. Denn gesucht sind nicht mehr Arbeiter, sondern es wird auf Tertiärniveau technisch und betriebswirtschaftlich geschultes Personal gesucht, das aber auch eine praktische Ausbildung vorweisen kann.
Mit der Einrichtung von Lehrwerkstätten und vergleichbaren Lernorten wurde im 19. Jahrhunderts die Einführung in die Praxis aus der Produktion hinaus verlagert. Im Rahmen der Bemühungen um die Konzentration auf Kernfunktionen («Outsourcing») verlagern viele Unternehmen seit Ende des 20. Jahrhunderts Organisation und Management der Lehrlingsausbildung aus den Unternehmen hinaus in spezielle Organisationen. Es entstehen «Ausbildungsverbünde», die diese Funktionen für eine Gruppe von Betrieben in deren Auftrag und zu deren Lasten übernehmen.[2] Den Beginn machten 1993 die Firmen SIG und Georg Fischer Schaffhausen [1993b]. Ihnen sind seither die meisten grossen Unternehmen der MEM-Industrie und der Chemie sowie Verkehrsbetriebe gefolgt. [Ausbildungsverbund]
Berufsbildung in industriellen Betrieben: siehe Kapitel 14