Читать книгу Finale - Emil Zopfi - Страница 14
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Der Pfad endete in einer Nische unter einer überhängenden Wand. Felix sah, dass es schwierig würde, eine Seilbahn um die Felsstufe einzurichten. An einem Felshaken war ein ausgefranstes Hanfseil befestigt, mit Reepschnurstücken aus Kunstfaser verknotet und verstärkt. Es führte als Geländer aus der Nische um einen Felspfeiler herum, zwanzig Meter, die man hangelnd überwinden musste. Für die Füsse waren Tritte in den Fels gemeisselt. Der Pfeiler sprang weit vor gegen das Tal hin, es war kaum möglich, ein Seil zu spannen und zu verankern. Niemand hatte Felshaken oder eine Bohrmaschine dabei. Die Träger hatten die Bahre abgestellt, ein Dutzend Leute standen in der Dunkelheit herum, redeten durcheinander, rauchten und riefen Vorschläge in die Runde, wie man die Schale mit der Verletzten um den Felspfeiler herumtransportieren könnte. Abseilen zum nächsten Band, mit Flaschenzug heraufziehen durch den felsigen und mit Gestrüpp bewachsenen Abhang. Der Offizier hieb mit der stumpfen Seite seines Beils auf den rostigen Felshaken ein, als ob er damit sicherer würde.
«Lass das», sagte Felix, «du lockerst ihn nur.» Er hatte Erfahrung mit dem alten Material. Der Mann gab einen grunzenden Laut von sich, hörte mit dem sinnlosen Hämmern auf.
Tom schlug vor, ein zweites Geländerseil zu legen, an Bäumen festgebunden und nur leicht gespannt. Drei oder vier starke Männer sollten sich mit ihren Klettergürteln dranhängen, die Schale auf ihre Arme nehmen und sie dann miteinander Schritt um Schritt um den Felspfeiler herummanövrieren. Die Bahre würde mit zusätzlichen Seilen gesichert.
Felix übersetzte, der Offizier zupfte seinen Schnurrbart, liess sich schliesslich überzeugen, einen Versuch zu wagen. Per Funk sprach er sich mit seinen Leuten im Tal ab. Während Tom und ein paar Männer die Seile spannten, begann auf der andern Seite des Felsens ein Stromaggregat zu knattern, ein Scheinwerfer leuchtete auf.
«Gefechtsfeldbeleuchtung», sagte jemand. «Wie im Krieg.»
Ein deutscher Kletterer beugte sich über Andrea, die reglos in der Transportschale lag, fühlte ihr den Puls. Er tippte Felix auf die Schulter. «Ich bin Arzt. Sie müsste dringend ein Schmerzmittel bekommen. Und eine Infusion, damit ihr Kreislauf durchhält. Sag das dem Kommandeur.»
Felix informierte den Offizier, der befahl einem Sanitäter, per Funk eine Spritze anzufordern. «Puntura», vernahm Felix. «No», rief er, «Infusione.» Der Offizier riss dem Sanitäter das Funkgerät aus der Hand, schrie selber ins Mikrofon. Der Deutsche musste nochmals erklären, was er wünschte, Felix übersetzte. Während der Konfusion fiel ihm ein Kinderlied ein, das Anna ihrer Tochter gesungen hatte. Ecco il dottore che fa la puntura, mamma ho paura, mamma ho paura … Die einfache Melodie und die Worte wiederholten sich unablässig in seinem Kopf, mit Wehmut dachte er an seine Tochter, mit der er kaum noch Kontakt hatte. Gelegentlich eine E-Mail, zu Neujahr oder wenn sie Geld brauchte.
Während die Kletterer sich bereit machten, Karabinerhaken einschnappten, Kommandos und Rufe durch die Dunkelheit hin- und herflogen, lehnte er an einen Baum, stützte seinen Kopf auf die Arme und schloss die Augen. Er fühlte sich elend und sterbensmüde, hörte dem geschäftigen Hin und Her der Retter zu, bis eine Hand seine Schulter berührte.
«Was ist?» Sabine stand hinter ihm.
«Nichts.» Felix wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke über die Augen. «Ich bin nur sehr müde.»
«Wie das nur passieren konnte?»
«Ich weiss es nicht. Es ging so schnell.»
«Hina sagte, du hättest das Sicherungsgerät falsch herum eingeklinkt.»
«Sie hat doch nichts gesehen.»
«Behauptet sie aber …»
«Ich habe mit einem Bremsknoten gesichert.»
«War der Knoten richtig? Bist du sicher?»
Er gab keine Antwort mehr. Sabine blieb eine Weile stehen, dann verschwand sie im Schatten zwischen den Bäumen.
Die Lichtkegel von Stirnlampen richteten sich auf die Höhle. Drei Männer ergriffen die Schale mit der Bahre von der Talseite her, Tom in der Mitte. Sie klinkten sich in das Geländerseil. Im Chor riefen sie: «Ooo … op!», hoben die Schale mit einem Ruck auf Brusthöhe. Die Sicherungsseile an beiden Enden strafften sich. Schritt für Schritt bewegten sich die drei Träger über dem Abgrund, Helfer leuchteten ihnen mit Stirnlampen, damit sie die Tritte im Fels nicht verfehlten. Geschrei setzte ein, wenn sich die Schale nach einer Seite neigte. An der Kante des Felspfeilers traten die Träger in den Lichtkegel des Scheinwerfers. Wie in einem Schattentheater bewegten sie sich als schwarze Gestalten die Wand entlang, Insekten schillerten im grellen Licht über ihren Köpfen. Der vorderste Mann, geblendet wohl, machte einen Fehltritt, ein Fuss rutschte weg. Die Schale kippte mit der Spitze nach unten, drohte in den Abgrund zu stürzen. «Tira, tira!», schrien die Männer an den Sicherungsseilen. Zwei Mutige kletterten hinaus, unterstützten, ohne sich zu sichern, die Träger, denen allmählich die Kraft ausging. Langsam schwebte die Schale um die Kante.
Felix lehnte noch immer am Baum, versuchte, sich den Absturz in Erinnerung zu rufen. Hatte er wirklich richtig gesichert? Den Halbmastwurf hatte man zu seiner Zeit noch nicht gekannt, man hatte in alter Manier über die Schulter gesichert oder das Seil einfach durch einen Karabiner laufenlassen. Er erinnerte sich nicht mehr, wie er den Knoten in den Sicherungskarabiner gehängt hatte. Er hatte Andrea zugeschaut, wie sie geklettert war, so gewandt und sicher wie immer. Sie hatte den Stand erreicht, die Umlenkung eingerichtet. Sie hatte ihm etwas zugerufen. Und dann? Dann kam ihm nur noch der Schatten in den Sinn, der sich plötzlich aus der Wand gelöst hatte, das Knacken und Brechen der Zweige, als sie in den Busch stürzte, dann vornüberkippte und mit dem Kopf auf den Boden prallte. Und wie er vergeblich versucht hatte, den Code seines Mobiltelefons zu erinnern. Jetzt war er wieder da. 4181, das zwanzigste Glied der Fibonacci-Folge.
Die Männer mit der Bahre waren auf einer Felsplattform angekommen. Die Helfer lösten die Knoten, sammelten die Seile ein, schossen sie auf. Dann folgte einer hinter dem andern dem Geländerseil entlang auf die andere Seite. Felix war der Letzte. Er trug noch immer den Klettergürtel, Expressschlingen baumelten daran. Er klinkte sich ein, hangelte sich die Wand entlang, tastete im Dunkeln vorsichtig auf den feuchten Tritten nach Halt für die Schuhe. An der Kante blendete ihn das Scheinwerferlicht, Mücken tanzten zwischen glitzernden Regentropfen.