Читать книгу Finale - Emil Zopfi - Страница 5

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Der Morgen war grau. Satte Wolken zogen vom Meer her über den Felsrücken, der sich vom Dorf Orco gegen Süden erstreckt. Der Wind roch nach Salz und Regen.

Andrea parkte ihren Cherokee bei der Kirche, blieb am Steuer sitzen und wartete. Es war der letzte Tag der Kletterwoche in Finale Ligure, einer schwierigen Woche. Insgeheim wünschte sie sich Regen, dann würden sie packen und nach Hause fahren. Sie fühlte sich unwohl, der Cappuccino beim Frühstück in der Bar Centrale in Finalborgo hatte ihr widerstanden, die Brioche lag ihr auf dem Magen. Nach ein paar Jahren gerät jeder Bergführer in die Krise, hatte ihr einmal ein Kollege vorausgesagt. Der Beruf wird zur Routine. Ende des Traums.

Ein Camper mit rot-weiss karierten Vorhängen parkte neben ihrem Jeep. Volker und Sabine stiegen aus, ein deutsches Paar. Die drei andern folgten im Volvo, der Felix gehörte, einem älteren Herrn. Er, Tom und Hina logierten in einem Hotel in Finalborgo. Andrea informierte kurz. Eine Dreiviertel Stunde Anmarsch zur Falesia del Silenzio, einem interessanten Sportklettergebiet. «Löchriger Kalk, etwas für starke Finger. Nehmt Tape mit.»

«Super!» Tom klopfte sich auf die Schenkel. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Hard Rock Café, hatte den Rucksack schon auf den Schultern, ein Seil aufgeschnallt. Während die andern Klettergürtel, Karabiner und Expressschlingen sortierten, Windjacken, Proviant und Wasserflaschen einpackten, balancierte er über das Metallgeländer der Mauerbrüstung am Rand des Parkplatzes.

«Willst du jetzt schon abstürzen?», rief ihm Sabine zu. Hinter der Mauer fiel der Hang steil ab zur Autobahn, die in zwei Tunnelröhren unter dem Bergdorf durchführte.

«No problem. Ich bin im Gleichgewicht.»

«Angeber!» Volker warf die Hecktür des Campers zu. «Können wir endlich los?»

Hina kniete am Boden, wo ihre Ausrüstung verstreut herumlag, durchwühlte ihren Rucksack. «Ich finde meine Kletterschuhe nicht.»

Die andern standen herum, Hände in den Hosentaschen.

Sie richtete sich auf, zupfte ihre Stulpen. «Ich hab sie im Hotel gelassen.»

«Wir holen sie.» Felix trat zu seinem Wagen. «In einer halben Stunde sind wir wieder da.»

«Und wir erfrieren hier inzwischen?» Tom hüpfte vom Geländer herunter.

«Du kannst ja noch etwas Zirkus spielen.» Volker zog den Rotz hoch, spuckte ins Gebüsch.

Andrea zwang sich, ruhig zu bleiben. «Ich gebe dir ein Paar von meinen Kletterschuhen. Die sollten dir passen.»

Hina zog einen Schmollmund, stopfte ihre Sachen in den Rucksack zurück.

Andrea schritt auf dem Schotterweg voran, der dem Friedhof entlangführte. Das Gittertor in der Mauer gab den Blick auf eine Wand mit Gräbern frei. Ein lichtes Gehölz folgte, das vor Jahren abgebrannt war. Einige Föhren hatten überlebt, die angekohlten Stämme dick mit Harz verklebt. Kastanien wuchsen nach, Ginster und Dornengestrüpp wucherte. Tom ging neben ihr, erkundigte sich nach Routen und Schwierigkeitsgraden.

Sie mochte nicht reden und war froh, als sie den Steinmann erreichten, bei dem der Pfad abzweigte, der auf die Höhe des Felsrückens führte. Durch dichtes Gebüsch mussten sie hintereinandergehen. In der Nacht hatte es geregnet, die Blätter waren nass, das Laub auf dem Weg glitschig.

Hinter Andrea folgte Felix, ein Senior mit drahtigem Körper, das schüttere Haar leicht angegraut. Ein Anfänger, so hatte er sich vorgestellt, pensionierter Lehrer. Für sein Alter kletterte er recht gut. Er bedankte sich, als sie einen Zweig festhielt, damit er ihm nicht ins Gesicht schlug. An einer Stelle, wo neben dem Weg das Laub aufgewühlt war, bemerkte er: «Wildschweine. Sie suchen Morcheln.»

«Du kennst dich aus?»

«Mein Schwiegervater war Italiener. Wir sammelten oft Pilze, wenn wir ihn besuchten.»

Auf der Höhe des Felsrückens lichtete sich das Gebüsch, ein Tal öffnete sich gegen das Meer: Val Cornei. Durch die bewaldeten Steilhänge auf beiden Seiten zogen sich Felsbänder aus grauem Kalk. Die Terrassen eines Olivenhains schlossen das Tal an seinem oberen Ende ab. Unter Windstössen wallten die Zweige und Blätter wie silberne Gischt. Irgendwo knatterte eine Motorsäge, ein Hund bellte.

«Das ist Italien», sagte Felix. Seine Stimme hatte einen melancholischen Klang, doch Andrea mochte nicht fragen. Sie liebte diese Felsen über dem Meer, den Geruch von Pinienharz und Eukalyptus. Sie liebte die Kletterwochen in Finale. Doch an diesem Morgen wünschte sie sich, sie wären schon auf dem Rückweg. War es die Krise, die schwierige Gruppe, der Streit mit Daniel vor der Abreise?

Schweigend warteten sie auf der Höhe, bis alle aufgeschlossen hatten. Tom schwatzte auf Sabine ein, Volker stapfte missmutig hinterher. Hina folgte mit einigem Abstand, eingehüllt in Faserpelz und Windjacke, eine Wollmütze mit Ohrklappen auf dem Kopf.

Sie hauchte in die Hände. «Scheisskälte.»

«Unter der Wand der Falesia del Silenzio sind wir im Windschatten», erklärte Andrea. «Vorsicht, der Abstieg ist etwas heikel.»

Sie folgten dem Felsrücken, bis ein Stück Seil, an einen Baum geknotet, den Einstieg in eine senkrechte Wandstufe wies. Hina trat auf die Kante zu, hielt sich an dem Stamm fest: «Da hinunter?»

«Es sieht schlimmer aus, als es ist.»

Andrea griff nach dem Seilstück, hangelte hinab bis zu einer Reihe von Eisenklammern, die in den Fels zementiert waren. Sie schaute nach oben, winkte Hina, sie solle folgen. Ein leichter Schwindel ergriff sie bei dieser Bewegung, ein Gefühl, als ob die Wand schwanke im Wind. Mit beiden Händen hielt sie sich an einer Eisenklammer fest, spürte ihr Herz klopfen. Sie atmete tief durch, überzeugte sich, dass ihre Schuhe nicht rutschten. Das Tal, der Wald, die Felsstufe, alles stand fest. Die Brioche vom Frühstück stiess ihr auf, liess einen sauren Geschmack in ihrem Mund zurück.

«Hilf mir.» Hina tastete mit dem Fuss nach einem Tritt. Andrea packte ihren Schuh, setzte ihn auf eine Eisenklammer. Stufe um Stufe kletterten sie so hinab.

Ein Pfad führte die Felswand entlang, steiler Kalk mit Löchern, Leisten und Sintersäulen unter gelben Überhängen. Bei einer Gruppe junger Eichen stellte Andrea den Rucksack ab. «Hier geht’s los.»

Am Fuss der Wand waren sie geschützt vor dem Wind, der in Wellen über die Büsche und Bäume in der Höhe strich. Andrea erklärte die Kletterrouten, die im Abstand von wenigen Metern die Wand hochführten, gut gesichert mit Bohrhaken.

Sie ass einen Apfel und fühlte sich wieder besser.

Finale

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