Читать книгу Finale - Emil Zopfi - Страница 6
Оглавление2
Felix knüpfte das Seil mit einem Achterknoten an den Gürtel, zwängte seine alten Füsse in die Kletterschuhe. Wenn sie nicht schmerzen, sind sie nicht eng genug, hatte der Verkäufer im Sportgeschäft gesagt. Alles war anders als einst. Zu seiner Zeit hatte man das Seil um Bauch oder Brust gebunden, Wollsocken getragen, Bergschuhe mit Profilsohle.
Hina sass auf ihrem Rucksack, putzte mit der Spitze einer Nagelschere ihre Fingernägel, von denen der schwarze Lack blätterte. Einige Fingerglieder hatte sie mit Tape umwickelt. Den ganzen Vormittag waren sie zusammen geklettert. Jetzt fühlte er sich schlapp, der Mittagsschlaf fehlte ihm, und ein guter Kaffee. Trotzdem wollte er nochmals anpacken, die letzte Route. Er reichte Hina das Seil, damit sie ihn sichere.
«Augenblick noch.» Sie griff in ihren Rucksack, zog eine schmale Bandschlinge heraus. «Häng die bitte oben ein für mich.» Dann stand sie auf, klinkte das Seil ins Sicherungsgerät an ihrem Gürtel. «Na, dann los.»
Felix hängte sich die Schlinge über die Schulter, warf einen Blick auf das Grigri, mit dem sie sicherte, und vergewisserte sich, dass sie das Seil richtig eingelegt hatte. «Pass gut auf.»
«Ist doch klar, oder?» Ihre Stimme klang beleidigt. Mit einer Hand hielt sie das Grigri locker, mit der andern gab sie Seil aus.
Felix begann zu klettern. Die Route setzte steil an, der Fels war grau und löchrig. Einst Klippe im Meer, dachte er, zernagt vom Wellenschlag von Jahrtausenden. Die Löcher waren trügerisch, einige scharfkantig, boten guten Griff, andere stumpf, die Finger glitten ab. Er versuchte, während des Kletterns regelmässig und tief zu atmen, sich ruhig und kontrolliert zu bewegen. Nie hätte er sich träumen lassen, noch einmal Fels zu berühren, harten festen Fels. Er klinkte eine Expressschlinge vom Gürtel, hängte den einen Karabiner in den ersten Bohrhaken, das Seil in den andern, schaute hinab. Hina lehnte an einem Baum. Ihre roten Pulswärmer schimmerten hell im Zwielicht unter den Bäumen.
«Hab eingehängt.»
«Ich pass schon auf.»
Es ärgerte ihn, dass sie nicht heraufblickte. Immer den Kletterer beobachten beim Sichern, hatte ihnen die Bergführerin eingeschärft. Hina hielt sich nicht daran, sie bekomme Nackenschmerzen, wenn sie ständig nach oben schaue. Eine eigenartige Frau, oft zickig und abweisend, dann suchte sie wieder Nähe, drängte sich an ihn und kicherte wie ein Teenager. Ihr Körper war schmal und knochig, als wäre sie magersüchtig. Er traute ihr nicht zu, zuverlässig zu sichern, kletterte bedächtig, prüfte jeden Griff, versicherte sich bei jedem Tritt, dass er nicht rutschte. Gelegentlich griff er ins Magnesiasäcklein am Gürtel und puderte seine Finger ein. Er folgte der Hakenreihe, die sich die Wand hochzog bis zu einem Überhang und darüber zur Kette der Umlenkung. Die neue, sportliche Art des Kletterns hatte ihn vom ersten Tag an begeistert. Er fühlte sich wieder jung, wollte mithalten mit den andern, mit Tom und mit den Deutschen, die gut kletterten. Die Bergführerin bewunderte er, in seinem früheren Leben hatte er viele Kletterer gesehen, aber ihre Leichtigkeit, ihre Sicherheit, das war ein ganz neuer Stil. So zu klettern musste ein Wunschtraum bleiben. Er war achtundsechzig, seine Zeit ging zu Ende.
Der Überhang war gelb und griffig, Sinterfels, ein Spreizschritt nach links brachte ihn zur Kante zu einem Haken. Früher hätte er sich daran festgehalten, doch nun wollte er die Stelle frei schaffen. Er nahm seine ganze Kraft zusammen, zog sich an einer Leiste hoch und erreichte an guten Griffen die Kette. Mit einem Schraubkarabiner hängte er das Seil ein, die Bandschlinge mit einem zweiten Karabiner daneben und rief Hina, sie solle ihn hinunterlassen. Wieder am Boden, band er sich los, zog das Seil ab. Seine Handgelenke schmerzten, die Fingerkuppen waren nach der Woche durchgeklettert, die Knöchel aufgeschürft. Er war müde, es war die letzte Route, und er hatte sie geschafft, sechster Grad, eine stolze Leistung für den Anfänger, als den er sich ausgab. Opa nannten ihn die andern, obwohl er nie erwähnt hatte, dass er wirklich Grossvater war.
«Du kannst gehen.» Er griff nach dem Seil.
Hina zog ihre Schultern hoch, blickte zu Boden. «Mit diesen Schuhen schaff ich das nicht.»
«Komm schon, für dich ist das ein Klacks.»
«Ich mag jetzt nicht, ich friere.»
Noch immer trug sie den Faserpelz und die Wollmütze. Eigentlich kletterte sie besser als er, ihre Bewegungen waren geschmeidig, sie hatte von Joga erzählt, Aerobic und Jazztanz, doch verlor sie im Vorstieg oft die Nerven und blieb hängen.
«Jemand muss nochmals hoch, das Material herunterholen.»
«Für das haben wir doch eine Führerin.» Hina zog einen Beutel aus ihrem Rucksack, schüttete Tabak auf ein Papier, feuchtete es mit der Zunge an, legte einen Filter ein und rollte sich eine Zigarette. Klemmte sie sich zwischen die Lippen, die mit zwei Piercings geschmückt waren, liess ein Feuerzeug aufschnappen. Die Flamme spiegelte sich in ihren dunklen Augen.
«Du rauchst zu viel.» Das hatte Felix oft zu seiner Tochter gesagt. Sie war in Hinas Alter, hatte zwei Kinder und lebte in Kalifornien. Seit dem Tod seiner Frau hatte er sie nie mehr gesehen. Seine Enkel würde er nicht mehr kennen.
Hina nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch durch Mund und Nase aus, schnippte die Asche auf den Boden. Dann begann sie zu kichern.
«Was ist?»
«Ach, nichts.»
Felix setzte sich auf einen Baumstumpf, trank den letzten Schluck Wasser aus seiner Flasche. Es war kühl geworden. Die Sonne schimmerte durch fahles Gewölk über dem Felsrücken jenseits des Tals, hinter dem das Meer lag. Er war müde, Hände und Glieder schmerzten, doch er war zufrieden. Er war gut geklettert, hatte wieder Tritt gefasst.