Читать книгу Finale - Emil Zopfi - Страница 8

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Die Müdigkeit hatte Felix für einen kurzen Moment übermannt, als ein kratzendes Geräusch in der Wand seinen Blick nach oben riss. Ein Schatten stürzte auf ihn zu, in einem Reflex duckte er sich. Ein Block ist ausgebrochen, schoss es ihm durch den Kopf. Er hörte einen dumpfen Aufprall, das Klirren von Karabinern, die auf den Fels schlugen. Es war kein Stein, es war ein Körper, der stürzte. Wie eine Stoffpuppe schleuderte ihn der Aufprall von der Wand weg. Felix’ Hände krampften sich ums Seil, er erwartete den Ruck, der seine Haut aufriss, seine Handflächen verbrannte. Doch das Seil blieb schlaff. Der Körper krachte ins Gebüsch dicht neben ihm, Zweige knickten und barsten, Laub regnete herab. Es schien, als bleibe er im Buschwerk hängen, doch dann drehte er sich kopfüber, schlug mit dem Helm auf den Weg. Ein hohler, hässlicher Ton. Dann Stille.

Felix kauerte am Einstieg, das lose Seil in Händen, das noch immer durch die Karabiner der Expressschlingen die Wand hochzog. Er verstand nicht, was geschehen war. Ein Tier ist vom Grat gestürzt oder ein Wanderer hat sich verirrt und einen Fehltritt gemacht, dachte er. Er schaute hinauf, suchte die Bergführerin, die eben noch an der Umlenkkette hantiert hatte. Dann erst begriff er. Sie war gestürzt.

Er klinkte den Sicherungskarabiner vom Gürtel, richtete sich langsam auf, sah ihren Körper neben dem Weg liegen. Starrte ihn an, gelähmt vom Schock. Der blaue Helm, das hellbraune T-Shirt, die schwarzen Hosen. «Ich träume», stammelte er, seine Hände begannen zu zittern, immer heftiger. Ich träume, wie damals am Eiger. Ich will träumen, weil das, was ich sehe, nicht wahr sein darf. Die Bergführerin lag auf der Seite, den Kopf auf einem Arm, ein Blutstreifen zog vom Mundwinkel über ihre Wange. Ein Bein angezogen, das andere ausgestreckt, der Fuss seltsam verdreht und nackt. Der Aufprall hatte den Kletterschuh weggerissen. Sie friert, dachte er, ich muss sie wärmen. Sie darf nicht so daliegen, so ungeschützt, so verletzlich. Sonst war sein Kopf leer.

«Verdammt, was geht hier ab?» Felix fuhr zusammen. Tom stand neben ihm, warf ihm einen Blick zu, als habe er ihn bei einer schlimmen Tat ertappt. Als sei er schuld an Andreas Absturz. Eine Bergführerin stürzt nicht einfach so. Tom kniete nieder, neigte seinen Kopf über ihr Gesicht, lauschte, griff nach ihrem Handgelenk, fühlte den Puls. «Sie atmet, sie lebt. Gott sei Dank.»

Felix’ Mund war trocken, als er hervorpresste: «Sie ist gestürzt. Ganz plötzlich.»

«Das gibt’s nicht», schleuderte ihm Tom entgegen, «sie war doch am Seil!»

Felix sah auf seine Hände. Keine Brandspuren vom Seil, keine Hautabschürfung. «Das gibt’s nicht», wiederholte er tonlos. Es war kein Traum. Andrea lag da, das T-Shirt war über dem Klettergürtel hochgerutscht und zerfetzt, ihr Rücken war zerkratzt und blutete. Der Busch hatte den Sturz gedämpft, sonst wäre sie jetzt tot. Felix sah auf ihrer Schulter einen blauen Schmetterling eintätowiert. Bleib hier, dachte er, flieg nicht weg.

«Du hast Scheisse gebaut beim Sichern!» Tom schrie.

Felix biss sich auf die Lippen. Ihm fehlte jede Vorstellung, wie der Unfall geschehen konnte. Andrea war am Seil, er hatte korrekt gesichert, glaubte er. Hatte keinen Ruck, hatte nichts verspürt. Ihm, dem grossen Alpinisten von einst, musste das passieren.

«Wach auf, Opa!» Tom griff ihn an der Schulter, schüttelte ihn. «Wir müssen was unternehmen. Ein Helikopter muss her, subito. Hast du ein Handy, eine Notfallnummer?»

«Vielleicht im Kletterführer …»

«Und wo ist der?»

«In Andreas Rucksack, denke ich.»

Tom eilte davon.

Felix beugte sich über die Verletzte. «Andrea, hörst du mich? Hast du Schmerzen?»

Sie gab keine Antwort. Ihr Gesicht war leichenblass, mit schweren Atemzügen rang sie nach Luft. «Andrea, wir sind da. Hab keine Angst. Es wird schon wieder.»

Er ergriff ihre Hand, sie war so kalt, dass ihn schauderte. Tom hatte recht. Sie mussten etwas unternehmen. Aber was? Andrea jedenfalls auf der Seite liegen lassen, nicht bewegen, falls ihr Rücken verletzt war. Bei ihr bleiben, mit ihr reden, sie warmhalten. Vor Jahrzehnten hatte er einen Nothelferkurs besucht, Seitenlagerung und Mund-zu-Mund-Beatmung geübt und Herzmassage. Nun war alles weg, keine Erinnerung mehr, Blackout. Noch immer heftig zitternd, wankte er zu seinem Rucksack, holte sein Mobiltelefon aus der Deckeltasche. Schaltete ein. Es verlangte den Code, doch sein Gedächtnis versagte auch jetzt. Vier Ziffern, von 1111 bis 9999, also 8888 Möglichkeiten. Stimmt das nach dem Gesetz der Permutation? Oder waren es 8889? Das lernte man im ersten Semester am Gymnasium. Jahrzehntelang hatte er Mathematik unterrichtet, er liebte sein Fach, das Spiel mit Zahlen und Zeichen, doch die Schüler begriffen das nicht. Sie hassten Mathematik, und sie hassten ihn, weil er seine Begeisterung nicht weitergeben konnte. Was denke ich für einen Unsinn, ich rechne und überlege und sollte doch etwas tun. Wenn Andrea überleben soll, kommt es auf jede Minute an. Sein Code wollte ihm nicht einfallen. Der brillante Mathematiker scheiterte an vier Ziffern.

Tom eilte atemlos herbei, hinter ihm die Deutschen. Sabine kniete nieder, strich Andrea Haare aus der Stirn, sprach leise auf sie ein. Dann stand sie auf, Tränen im Gesicht.

«Hast du die Bergwacht angerufen?», fragte Volker.

«Am Meer gibt’s keine Bergwacht.»

«Dummkopf!», schrie Tom. «Es muss eine Rettungsorganisation geben.»

«Hast du die Nummer gefunden?»

«Andrea hat die Notnummern bestimmt in ihrem Handy gespeichert.»

«Und wo ist das?»

«Keine Ahnung.»

Tom hatte Andreas Rucksack angehängt, warf ihn auf den Boden, durchwühlte ihn, fand eine Taschenapotheke, aber weder den Kletterführer noch ein Telefon.

«Der hat ja sein Handy in der Hand.» Volker packte Felix am Ärmel. «Mann, versuch doch den Euronotruf, 112.»

«Akku leer», murmelte Felix. Er lehnte sich an einen Baum, zermarterte sein Hirn. Tausend mathematische Formeln purzelten durch seinen Kopf, Matritzen, Differentialgleichungen, Eulersche Zahl, Binominalkoeffizienten, nutzloses Schubladenwissen, mit dem er ein Leben lang seine Studenten gequält hatte. Er schlug mit der Stirn gegen den Baumstamm, als ob er seine grauen Zellen wachrütteln könnte. 8889 Möglichkeiten gab es, doch die vier Ziffern des Codes waren aus seinem Gehirn gelöscht.

«Hina hat doch ein Handy dabei.»

«Wo steckt sie denn?» Tom sah sich um. Rief nach ihr, bekam keine Antwort.

«Ich lauf mal der Wand entlang, bestimmt sind noch andere Kletterer in der Nähe.» Sabine hatte sich gefasst, Volker eilte ihr nach.

Felix holte seine Sturmjacke aus dem Rucksack. «Wir müssen Andrea warm halten.»

Tom half ihm, die Jacke vorsichtig unter ihren Körper zu schieben. Mit Watte und Merfen aus der Apotheke tupften sie ihren zerschundenen Rücken ab, bedeckten ihn mit ihrer Regenhaut und dem Faserpelz. Felix zog ihr den Helm aus, löste den Klettverschluss des Kletterschuhs, streifte ihn vorsichtig von ihrem rechten Fuss, der unversehrt schien. Der linke war blauschwarz unterlaufen, mehrfach gebrochen wohl. Er redete leise auf sie ein. So, wie er manchmal mit seiner Frau sprach, wenn er sich vorstellte, sie sei noch am Leben. Einmal glaubte er, Andrea krümme die Zehen des unverletzten Fusses, gebe ihm ein Zeichen, dass sie ihn höre, dass seine Stimme ihr versunkenes Bewusstsein erreiche. Laut sprach er sie an, und erneut krümmte sie fast unmerklich die Zehen. Die Bewegung liess hoffen, dass ihr Rückenmark nicht oder doch nicht schwer verletzt war. Felix holte ihre Socken aus den Turnschuhen, die sie zum Klettern ausgezogen hatte, streifte sie ihr über die Füsse, zog dann ihren leeren Rucksack darüber. So hatte er es am Eiger gemacht, als er allein auf einer Eisstufe biwakierte, nachdem sein Freund abgestürzt war. Tausend Meter, und da war kein Busch gewesen, der seinen Sturz aufgefangen hätte.

Tom begann am Kletterseil zu zerren, das noch immer in der Wand hing. Er schüttelte es, die Karabiner der Expressschlingen klirrten.

«Es ist verklemmt. Irgendwas stimmt da nicht.»

Stimmen näherten sich, zwei junge Kletterer eilten herbei, fragten auf Italienisch, was geschehen sei. Felix deutete zur Wand. «È caduta.»

«Habt ihr Alarm durchgegeben?»

Felix schüttelte den Kopf. Einer der beiden zog sein Mobiltelefon aus der Tasche, stellte eine Nummer ein, redete schnell, gab Erklärungen in einem lokalen Dialekt, den Felix nicht verstand.

«Die Feuerwehr schickt einen Helikopter von Savona.»

«Die Feuerwehr?»

Der Junge schnitt ein Gesicht. «Hier ist die Feuerwehr für Rettungen zuständig. Mi dispiace.»

«Was heisst das?»

«Das wirst du schon noch sehen.» Der Kletterer deutete mit dem Daumen nach unten.

«Du sprichst gut Italienisch», bemerkte der andere.

«Meine Frau stammte aus der Toscana.»

«Ist sie das da?» Der Kletterer deutete mit der Spitze seines Turnschuhs auf Andrea.

«Nein, das ist unsere Bergführerin.»

«Mamma mia. Wie konnte das passieren? Habt ihr nicht richtig gesichert?»

Felix hob die Schultern.

«Die meisten Unfälle passieren hier beim Sichern.»

Sabine und Volker kehrten zurück in Begleitung von zwei Italienern. Sie gaben ihre Faserpelzjacken her, um die Verletzte zuzudecken. Mehr konnten sie nicht tun, bis der Hubschrauber eintraf.

Nach einer Weile tauchte Tom auf. Er habe Hina gefunden, völlig ausser sich kauere sie am Fuss der Eisenleiter, heule und sei kaum ansprechbar. «Steht unter Schock. Hat wohl zugesehen, wie Andrea gestürzt ist.»

Sabine wollte sich um sie kümmern, nahm Andreas Taschenapotheke mit. Vielleicht brauche Hina ein Beruhigungsmittel. Volker begleitete sie.

«Sie soll eins kiffen», rief ihnen Tom nach. «Das hilft.»

Volker drehte sich um, tippte mit dem Finger an die Schläfe.

«Mein Ernst», gab Tom zurück. «Cannabis beruhigt. Das ist wissenschaftlich erwiesen.»

Vom Meer her schoben sich Wolkenbänke über den Grat jenseits des Tals. Felix schaute auf die Uhr, später Nachmittag, doch es schien schon zu dämmern. Die Kälte nahm zu. In seinem Rucksack fand er Dörrfrüchte, bot den Italienern an. Sie erzählten, drüben an der Rocca di Corno hänge eine Gedenktafel für einen jungen Deutschen. «Dirk Voigt, 1995.» Sein Kollege habe die Sicherung gelöst und ihn fallen lassen, weil er glaubte, Dirk seile sich selber ab von der Umlenkung. Ein fatales Missverständnis. Sie schauten Felix an, als ob sie von ihm eine Erklärung erwarteten. Er kaute eine gedörrte Aprikose und schwieg.

Einige Zeit später drang aus dem Tal das Wimmern von Sirenen herauf.

«Ambulanz und Polizei», bemerkte einer der Italiener. «Ich sause mal hinab.»

«Wo bleibt der Helikopter?»

Die Jungen zuckten die Schultern.

«Subito, haben sie gesagt. Aber was heisst das schon in diesem Land.»

Finale

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