Читать книгу Das Herz und die Dunkelheit - Emily Byron - Страница 10

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Nach einer unruhigen und sehr kurzen Nacht hatte ich am Freitagmorgen in der Schule angerufen und mich bei der Schulleiterin für den Tag krankgemeldet. Patricia war der fürsorgliche Muttertyp und hatte sofort gerochen, dass hinter der Krankmeldung mehr steckte als nur ein dummer Sturz und aufgeschlagene Hände. Auf ihre hartnäckige Nachfrage hin hatte ich sie schließlich ins Vertrauen gezogen, mit der Bitte, die Sache nicht im Kollegium breitzutreten. Patricia hatte mir daraufhin versprochen, die Angelegenheit für sich zu behalten, allerdings nur unter der Bedingung, dass ich sofort zur Polizei ging und Anzeige gegen Unbekannt erstattete. Die gute Seele hatte sogar gefragt, ob sie am Wochenende mal bei mir vorbeischauen sollte, falls ich irgendetwas brauchte. Ich fand ihre Anteilnahme rührend, lehnte aber dankend ab. Die nächsten drei Tage wollte ich erstmal zur Ruhe kommen und alles verdauen. Am Montag, so sagte ich, würde ich wieder einsatzbereit sein, wenn auch mit verletzungsbedingten Einschränkungen.

Wie von Cayden angekündigt, hatten sich die Verbände im Verlauf der letzten Stunden mit Wundwasser und Gel vollgesogen. Bevor ich mich auf den Weg zur Polizei machte, entschloss ich daher, sie abzunehmen und die Wunden nochmals zu begutachten. Das Ergebnis war erleichternd. Auch wenn meine Hände weiterhin schlimm aussahen, so war der Heilungsprozess bereits erkennbar fortgeschritten.

Vor dem Duschen zog ich mir als Notlösung zwei Plastiktütchen über die Hände und befestigte sie mit Gummibändern. Das war zwar eine anstrenge Aktion und tat auch ziemlich weh, aber ermöglichte mir, im Anschluss nicht wie eine Spelunke stinkend in frische Klamotten zu schlüpfen. Die Anbringung der neuen Verbände mit Leukoplast war ebenfalls eine langwierige Geschichte, doch gelang es mir mit zusammengebissenen Zähnen. Es musste einfach klappen, schließlich war niemand anderes da, der mir helfen konnte. Wenn Cayden doch nur hiergeblieben wäre …

Schnell schüttelte ich den Kopf und klebte den letzten Tapestreifen notdürftig auf meine rechte Hand. Wieso stahl sich dieser merkwürdige Typ immer wieder in meine Gedanken? Und weshalb machte mein Herz jedes Mal einen Satz, wenn ich an ihn dachte? Ich konnte meine eigene Reaktion nicht einordnen. Recht ungeschickt versorgte ich nach dem Duschen noch meine zwei Stubentiger mit ihrem täglichen Mahl und kleckerte den Inhalt der Päckchen hier und da neben die Schalen. Aber das war kein Problem, denn die beiden Staubsauger schleckten die verirrten Fleischstücke in Windeseile wieder auf.

Der Weg zur Wache mit den Öffentlichen gestaltete sich recht unangenehm, zu intensiv starrte meine Sitznachbarin im Bus auf meine eingepackten Hände.

„Verbrüht“, sagte ich peinlich berührt mehr aus der Not heraus, damit sie endlich aufhörte, mich anzuglotzen. Leider ging der Plan nicht auf, so dass ich eine Station früher ausstieg und den restlichen Weg zu Fuß zurücklegte. Auf der Wache nannte ich mein Anliegen und wurde nach wenigen Minuten von einer jungen, blonden Polizistin in einen separaten Raum geführt. Sie ließ mich in aller Ruhe das Geschehene berichten und tippte währenddessen protokollgerecht alles in ihren Computer. Cayden ließ ich bei der ganzen Geschichte unerwähnt. Was sollte ich auch sagen? Dass mir ein Fremder, von dem ich nichts wusste außer seinen Vornamen, zu Hilfe geeilt war, mich bis nach Hause begleitet und dort verarztet hatte, nur um danach im Handumdrehen zu verschwinden? Kurz überlegte ich, doch die ganze Wahrheit zu sagen, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Es tat einfach nichts zur Sache und selbst, wenn ich Cayden als Zeugen aufgeführt hätte, hatte ich keinen Anhaltspunkt, wie er zwecks Aussage kontaktiert werden konnte. Ich betrachtete die junge Beamtin, wie sie konzentriert auf den Bildschirm starrte. Warum ich nicht sofort gekommen sei, wollte sie wissen. Der Schock, antwortete ich und beruhigte mich damit, dass das nicht mal gelogen war. Anschließend stellte die Polizistin mir Fragen darüber, ob ich das Gesicht des Angreifers gesehen oder sonst etwas Auffälliges bemerkt hätte, was ich jedoch verneinen musste. Mit Blick auf meine verbundenen Hände riet sie mir eindringlich, einen Arzt aufzusuchen, woraufhin ich einfach nickte, um mich nicht länger als nötig in der Wache aufhalten zu müssen. Ich war ja bereits fachmännisch versorgt worden, was ich aber ebenso für mich behielt. Die Beamtin war sichtlich unzufrieden mit meiner Reaktion, respektierte aber meine Entscheidung. Was sollte sie auch sonst tun? Sie half mir beim Unterschreiben des Protokolls, indem sie mir den Stift zwischen die Finger klemmte und gab mir abschließend noch einige Standardverhaltensratschläge für die Zukunft. An oberster Stelle stand ganz klar, nie wieder allein im Dunkeln nach Hause zu gehen. Ab sofort war abends Taxi Pflicht, das musste ich ihr regelrecht versprechen. Offenbar hatte das tollpatschige Setzen meiner Unterschrift mit zugeklebten Händen ihren harten Berufspanzer ein Stück weit aufgeweicht und doch noch einen kleinen Mitleidsschalter umgelegt. Ich versicherte ihr, dass nächtliche Kneipentouren für alle Zeit gestrichen seien. Dass ich eigentlich sowieso nie wegging, musste ich ihr ja nicht unbedingt auf die Nase binden.

Mit mehr Aufwand als sonst drehte ich daheim den Schlüssel im Schloss um und vernahm, wie die beiden Wohnungstiger bereits ungeduldig auf der anderen Seite maunzten.

„Ich hab’s gleich“, rief ich ihnen entgegen und öffnete die Tür. Wie geölte Blitze schossen Jen und Berry an mir vorbei auf den Flur, um an der obersten Treppenstufe wie gebannt nach unten zu stieren. Irritiert schaute ich den zwei Katern hinterher.

„Was habt ihr denn?“, rief ich und griff mit beiden Händen äußerst vorsichtig nach der Dose mit den Leckerlis, die auf der Kommode im Gang stand. Meine Hände brachten mich um, aber es half nichts. Durch diese Schmerzen musste ich die nächsten Tage einfach durch. Kurz schüttelte ich die Leckerchen klackernd in ihrem silbernen Behälter. Normalerweise war das ein Lockmittel mit unschlagbarer Erfolgsquote, aber dieses Mal dauerte es einige Sekunden, bis sich meine vierbeinigen Mitbewohner wieder auf den Weg zurück in die Wohnung machten. Ich gab jedem einen kleinen Snack und schloss die Tür hinter ihnen.

„Ihr benehmt euch wirklich seltsam seit letzter Nacht“, sagte ich mehr zu mir selbst als zu den Katzen, während ich mir in meiner kleinen Küchenzeile im Schneckentempo einen wundervoll duftenden Lavendeltee aufgoss. Ich wollte mich noch eine Runde aufs Ohr hauen, um den verpassten Schlaf der letzten Nacht nachzuholen. Das beruhigende Aroma des Tees begann, meine kleine Dachgeschosswohnung auszufüllen. Zwar war meine Eineinhalbzimmerbleibe mit Wohnküche und der Quadratmeteranzahl einer Waldmausbehausung gerade so ausreichend für mich als Singlefrau – der Miete nach hätte es sich dagegen um ein Loft handeln müssen –, aber ich war sowieso ein genügsamer Typ. Außerdem bot sie mir einen herrlichen Blick auf eine kleine Parkanlage, in die ich immer dann ging, wenn ich den Kopf frei bekommen musste. Wäre ich nicht so müde gewesen, wäre das auch jetzt meine Option Nummer Eins gewesen.

Es war schon sehr verwirrend, was sich alles innerhalb der letzten zwölf Stunden ereignet hatte. Mich schauderte allein bei dem Gedanken an den Angriff, und zugleich wunderte ich mich über meine eigene geistesgegenwärtige Reaktion. Vor langer Zeit hatte ich, kurz nachdem Dani mich verlassen hatte, bei einem Selbstverteidigungsseminar mitgemacht, weil Nine vehement darauf bestanden hatte. Sie war der Meinung gewesen, jetzt, wo mir der Mann weggelaufen war, sei es umso wichtiger zu wissen, wie man im Notfall selbst seine Frau stehen konnte. Damals hatte ich nur widerwillig ihrem Drängen nachgegeben. Wozu sollte ich auch diverse Handgriffe oder Taktiken lernen, ich ging ja im Gegensatz zu ihr sowieso nie aus dem Haus. Aber Nine war so unnachgiebig gewesen, dass ich mich letztlich ihrem Willen gebeugt hatte. Das Seminar hatte mir dann überraschenderweise richtig Spaß gemacht, weil die Lehrerin die Inhalte sehr freundlich und witzig transportiert hatte. Jetzt, so wurde mir deutlich bewusst, musste ich Nine für ihre Hartnäckigkeit tatsächlich dankbar sein, denn offenbar war doch was vom Kursinhalt in meinem Unterbewusstsein hängen geblieben und hatte unter Umständen sogar verhindert, dass der Täter gleich in die Vollen hatte gehen können. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was wohl sonst noch passiert wäre, hätte ich ihm nicht die Tasche auf die Nase gedonnert … und wäre mein merkwürdiger Schutzengel mit den Eiswasseraugen nicht im Anschluss erschienen. Erneut wanderten meine Gedanken wie von selbst zu Cayden.

Wo er jetzt wohl war?

Was hatte er überhaupt in der Bar gemacht?

Er war am Anfang so abweisend und kalt gewesen, als wollte er niemanden um sich haben. Sich betrinken konnte man wiederum auch allein daheim, dazu musste man in keine Kneipe gehen. Vielleicht hatte er ja gar kein Zuhause? Vorsichtig umfasste ich mit meinen verbundenen Händen die Tasse und trug sie unter Schmerzen zur Couch. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr erhärtete sich meine Vermutung, dass Cayden womöglich obdachlos war. Seine äußere Erscheinung passte bereits zu dieser Theorie, und der Rest fügte sich nahtlos in dieses Bild. Allerdings hätte er sich auch irgendeinen billigen Fusel kaufen und am Bahnhof trinken können, anstatt sein Geld in einer Spelunke zu versaufen, ganz abgesehen davon, dass sich Obdachlose nur selten Whiskey in einer Bar leisten konnten. Hier passte eindeutig etwas nicht zusammen. Trotz seiner heruntergekommenen Erscheinung wirkte Cayden nicht wie der Typ für Tetrapakplörre und Zwei-Euro-Branntwein. Zu stolz hatten seine Augen gewirkt, zu stark und entschlossen seine Worte geklungen. Vielleicht war er deshalb so schnell wieder aus meiner Wohnung verschwunden und hatte meinen unbeholfenen Versuch, ihn zum Bleiben zu überreden, als reinen Akt aus Mitleid gewertet. Ich kannte Cayden nicht, aber Mitleid, so war ich mir bereits jetzt sehr sicher, war etwas, das er definitiv nicht wollte. Abermals dachte ich zurück an den Moment, in dem er mir mit seinem schmutzigen und dennoch schönen Gesicht so nah gewesen war, dass ich ihn hätte küssen können, wenn ich denn gewollt hätte, und erneut fuhr ein elektrisierendes Beben durch meinen Körper.

„Was zum Geier ist nur los mit dir?“, schimpfte ich mit mir selbst und nahm einen großen Schluck aus meiner grünen Lieblingstasse. Ich betrachtete sie eine Weile sehr sorgfältig, so als hätte ich sie und den auf dem Henkel thronenden Froschkönig noch nie zuvor gesehen. Dani hatte mir diese Tasse zu unserem ersten Jahrestag geschenkt, im Zuge eines romantischen Winterpicknicks mit Glühwein aus der Thermoskanne, während es uns langsam auf der Parkbank, wo wir uns kennen gelernt hatten, einschneite. Nichts hatte ich mir aus unserer gemeinsamen Zeit aufbewahrt, zu schmerzlich waren die Erinnerungen, außer dieser kitschigen Tasse. Sie war für mich ein Symbol dafür, dass es tatsächlich Momente in meinem Leben gegeben hatte, in denen ich mich geliebt gefühlt hatte. Ich dachte zurück an unser Kennenlernen. Er hatte auf genau dieser Bank sitzend Gitarre gespielt und zu seinen eigenen Songs gesungen. Ich weiß bis heute nicht, was über mich gekommen war, aber ich hatte mich sofort Hals über Kopf in seine gefühlvolle Stimme verliebt. Unvermittelt schlugen meine Gedanken einen Haken wie ein Feldhase und kehrten zurück zu Caydens sonorem Bass, zurück zu dem Augenblick, als er im Bad vor mir gekniet und meine Wunden versorgt hatte ... Doch bevor ich tiefer in die Geschehnisse der letzten Nach abdriften konnte, vernahm ich ein Scheppern aus dem Gang, gefolgt von zwei lauten Maunzern. Dieses Gepolter hatte erfahrungsgemäß nichts Gutes zu bedeuten.

„Was habt ihr jetzt schon wieder umgeworfen?“, rief ich und ging dem anhaltenden Lärm nach. Ich kannte meine zwei Plüschterroristen. Wenn sie wieder die Notizzettel samt Halterung auf dem Boden verteilt haben, dachte ich genervt, dann können sie was erleben. Doch als ich um die Ecke bog, eine Gardinenpredigt bereits auf den Lippen, hielt ich verdattert inne. Mitten im Flur tollten Jen und Berry um ein schwarzes Objekt herum, das sie wie von Sinnen durch die Gegend kickten.

„Was habt ihr denn da?“, fragte ich, während ich mit beiden Händen nach dem unbekannten Quader fasste und ihn vom Boden aufhob. Meine Augen wurden fast so groß wie die meiner beiden Delinquenten

„Wo habt ihr das her?“, fragte ich sie und bekam statt einer zufriedenstellenden Auskunft nur lautes Miauen serviert. Meine Gedanken überschlugen sich förmlich, während ich das Handy betrachtete, als hätte ich in meinem ganzen Leben noch nie eines gesehen.

„Es muss ihm wohl im Bad aus der Hosentasche gerutscht sein, als er sich hingekniet hat“, flüsterte ich und starrte wie gebannt auf das kleine Telefon. Auf einmal wurde mir siedend heiß. Ich setzte mich zu Jen und Berry auf den Boden, weil sich meine Beine schlagartig in Wackelpudding verwandelten. Das ist es, rotierte es unablässig in meinem Kopf. Mein Herz schlug so schnell, als wollte es einen neuen Rekord pro Minute aufstellen. Das ist die Möglichkeit, ihn wiederzusehen. Ich begann gerade, mich zu freuen, als mir umgehend ein neuer Gedanke die Tour vermasselte.

„Ich habe zwar sein Handy“, sagte ich zu Jen, der sich mit musterndem Blick vor mich positioniert hatte, während Berry seinen Kopf unablässig an meinem Oberschenkel rieb. „Aber wie erfährt Cayden denn jetzt davon?“

Jen ließ daraufhin einen solch markerschütternden Maunzer ertönen, dass selbst Berry vor Schreck kurzzeitig hinter meinen Rücken flüchtete. Im Anschluss erhob er sich und schlug einmal mit seiner Pfote auf das Display. Berry und ich wechselten einen Blick, als sei Jen nicht mehr ganz bei Trost. Dieser tatzte wie zur Bekräftigung weitere Male auf die Handyoberfläche.

„Wie? Du meinst, ich soll es anschalten? Erstens macht man das nicht, und zweitens ist es sicher mit einem Code geschützt“, erwiderte ich dem renitenten Kater. Gott sei Dank war sonst niemand da, der das Gespräch zwischen meinen Stubentigern und mir mithören konnte. Ansonsten hätte man mir wohl nahegelegt, meinen Kopf mal genauer untersuchen zu lassen. Jen kümmerten meine Befürchtungen dagegen recht wenig. Da ich immer noch nicht tat, was er wollte, ließ er erneut einen herzzerreißenden Maunzer ertönen, dass ich dachte, jeden Moment würden die Nachbarn klingeln und fragen, was ich dem armen Tier nur antat.

„Na gut. Auf deine Verantwortung“, ermahnte ich meinen schwarzen Mitbewohner und tippte auf gut Glück mit dem rechten Daumen auf das Display. Tatsächlich leuchtete es auf. Zu meiner Verwunderung war es nicht gesperrt. Ich musste kurz nach Luft schnappen, so aufgeregt wummerte mein Herz in meiner Brust. Ein zittriger Wischer mit dem Finger über die Oberfläche und schon war ich im Menü.

Mit voller Wucht schlug mir eine unsichtbare Faust in den Magen, als ich das Hintergrundbild sah. Es war das Portrait einer jungen Frau, so hübsch, dass sie geradewegs einem Märchen entsprungen zu sein schien. Sie lachte in die Kamera, was ihrem filigranen Gesicht einen beinahe elfenhaften Zauber verlieh. Ich spürte, wie sich die Faust in meinem Bauch umdrehte. Diesmal packte sie meine Organe und drückte fest zu. Dieser Blick, den die unbekannte Schönheit der Kamera zuwarf, war so voller Lebenslust und Zuneigung, dass es mir den Brustkorb einschnürte.

Ein fragendes Miau neben mir lenkte kurzzeitig meine Aufmerksamkeit auf Berry, der mich eindringlich musterte. Ich hielt ihm das Handy mit dem Foto direkt vor die Nase.

„Damit wäre das dann auch geklärt“, antwortete ich belegt und benötigte einen Moment, um mich zu sortieren. Mein gerade noch so freudig rasendes Herz hatte eine Vollbremsung hingelegt. Ein saures Gefühl breitete sich rasch in meinem ganzen Körper aus. Auch wenn es mir nicht gefiel, brachte es nichts, mir was vorzumachen. Es setzte mir tatsächlich zu, dass Cayden eine Freundin hatte.

„Kannst du mir bitte sagen, wieso mich das jetzt so runterzieht?“, fragte ich den Stummelschwanz, der mich weiterhin genau taxierte. „Ich kenne ihn doch gar nicht, und besonders anziehend fand ich ihn auch nicht, so verdreckt wie er war.“

Ein weiterer Maunzer ertönte, diesmal wieder von Jen. Ich schaute ihn eine Weile schweigend an. Lüg dir nur schön weiter in die eigene Tasche, schienen mir seine klugen, gelben Augen sagen zu wollen, und je länger sie mich anstarrten, desto unwohler wurde mir. Jen wusste offenbar ganz genau, dass mich die Begegnung mit Cayden nicht kalt gelassen hatte, auch wenn ich das nicht wahrhaben wollte.

„Ach, was soll das Affentheater?“, sagte ich genervt zu mir selbst und tippte auf das Telefonbuch. Ich wusste zwar nicht, was ich mir davon erhoffte, aber zumindest tat ich einfach irgendwas. Planlos scrollte ich durch diverse Einträge, bis mir auffiel, dass ein Nachname mehrfach vorhanden war.

„McÉag …“, murmelte ich vor mich hin, „was ist das? Irisch? Gälisch?“ Berry hatte sich mittlerweile neben Jen gesetzt und beobachtete mich, als sei ich ganz großes Kino.

„Irgendwoher kommt mir der Name bekannt vor. Ihr wisst auch nicht, woher, oder?“, fragte ich die beiden. „Wenn der Name so oft auftaucht, ist das doch sicherlich seine Familie.“

Leider blieben meine Mitbewohner diesmal stumm und starrten mich nur weiterhin aufmerksam an. Ich überlegte hin und her, ob ich einfach eine der Nummern anrufen sollte, war mir aber nicht sicher, ob ich damit nicht vielleicht irgendeine unangenehme Situation heraufbeschwören würde. Cayden hatte nicht den Eindruck gemacht, als würde er in einem gemütlichen Zuhause leben. Vielleicht hatte er sich ja mit seiner Familie überworfen? In dem Fall wollte ich wirklich nicht zwischen die Fronten geraten. Meine anderweitigen Optionen waren allerdings rar gesät, und mein eigener Anspruch im Sinne von Ehrlichkeit ließ mir letztendlich keine andere Wahl. Also tippte ich wahllos eine der Nummern an und lauschte mit klopfendem Herzen dem Freizeichen. Nach nur zweimaligem Klingeln meldete sich eine besorgte Männerstimme am anderen Ende der Leitung.

„Menschenskind, Cayden, endlich rufst du an. Geht es dir gut? Wo steckst du?“

Ich schluckte einmal kräftig und versuchte, möglichst gelassen zu reagieren.

„Hallo, ähm, nein, hier ist nicht Cayden. Mein Name ist Jordis Olsen. Ich habe dieses Handy gefunden und rufe an, damit es seinem richtigen Besitzer zurückgegeben werden kann.“

Dass ich das Handy in meiner Wohnung gefunden hatte, behielt ich genauso für mich wie den Umstand, dass ich Cayden kannte. Ich wollte erstmal abwarten, wie sich das Gespräch entwickelte.

„Oh … hallo“, antwortete der Unbekannte hörbar überrascht. „Entschuldigung, das hat mich jetzt kalt erwischt. Ich dachte, mein Bruder würde anrufen. Mein Name ist Alan.“

„Hallo, Alan“, sagte ich daraufhin und freute mich, bereits einen Schritt weiter zu sein.

„Jordis, von wo aus rufen Sie an?“

„Aus Hamburg“, antwortete ich wahrheitsgemäß, verschwieg aber den Stadtteil.

„Hamburg?“, wiederholte Alan grübelnd. „Da hätte ich Cayden nun wirklich nicht vermutet.“

Eine unangenehme Pause entstand, und ich zerbrach mir schon den Kopf darüber, wie ich das Gespräch am Laufen halten konnte, als Alan mich vollkommen überrumpelte.

„Kennen Sie Cayden denn?“

Mist. Hatte ich am Anfang noch versucht, alles so neutral wie möglich zu halten, so drängte mich diese Frage in eine Ecke, die ich unbedingt hatte vermeiden wollen.

„Ich …“ stammelte ich. Händeringend kramte ich in meinem Gehirn nach einer Lösung, so elegant wie möglich aus dieser Nummer wieder herauszukommen. Doch Alan schnitt mir erneut den Weg ab.

„Bitte, Jordis. Ich darf Sie doch Jordis nennen?“

Ich bejahte mit belegter Stimme.

„Bitte haben Sie keine Angst. Ich weiß, die Situation ist für uns beide komisch. Dennoch bin ich froh, dass sie mich angerufen haben. Mein Bruder ist vor einiger Zeit verschwunden und hat seitdem jeden Kontakt abgebrochen. Natürlich ist er erwachsen und kann auf sich selbst aufpassen, aber wir machen uns trotzdem große Sorgen um ihn. Wir … einen Moment bitte.“

Ich hörte, wie Alans Stimme plötzlich dumpf wurde, so als würde eine Hand auf das Mikrofon gelegt. Allem Anschein nach sprach er mit jemandem. Das wiederum gab mir ein paar Sekunden, um mich zu sortieren. Mein Verdacht war also richtig gewesen. Cayden hatte Familie, und die hatte er, warum auch immer, verlassen. Irgendetwas, das war klar, musste passiert sein. Irgendetwas Schlimmes. Man verließ seine Angehörigen nicht wegen irgendeiner Lappalie, und so besorgt, wie sein Bruder klang, wartete auf ihn ein durchaus fürsorgliches Zuhause.

„Entschuldigung. Jordis, sind Sie noch da?“

Erneut bejahte ich.

„Wir wollen einfach nur wissen, wie es Cayden geht. Wenn Sie irgendeine Information haben, dann sagen Sie es uns bitte. Es braucht Ihnen auch nichts unangenehm zu sein.“

Hitze schoss mir raketengleich ins Gesicht und ich war froh, dass mich außer meinen Katzen niemand sehen konnte. Tausend Sachen rasten im Schweinsgalopp durch meinen Kopf. Dachte Alan etwa, ich sei eine von Caydens Eroberungen oder gar ein One-Night-Stand? Anders konnte ich mir seine letzte Bemerkung sonst nicht erklären.

„Es ist mir nichts unangenehm“, antwortete ich etwas pikiert. „Ich habe nichts mit Ihrem Bruder, falls Sie das meinen.“

„Siehst du, jetzt hast du sie verärgert.“ Eine Frauenstimme erklang im Hintergrund, woraus ich folgerte, dass Alan mich auf Lautsprecher gestellt hatte. „Gib mir das Handy und lass mich das machen. Hallo, Jordis, mein Name ist Franziska. Ich bin Alans Freundin. Bitte entschuldigen Sie, er hat das nicht so gemeint. Wir sind einfach nur froh, endlich ein Lebenszeichen von Cayden zu erhalten, und möchten Sie ermutigen, uns alles zu sagen, was Sie wissen.“

„Hallo, Franziska“, antwortete ich der freundlichen Frauenstimme. „Ist in Ordnung. Ich wollte das einfach nur klarstellen.“

„Verständlich“, sagte Franziska und ich meinte, in ihrer Stimme ein Lächeln zu vernehmen. „Jordis, das ist für uns alle eine schwierige Situation. Cayden hat vor einiger Zeit etwas erlebt, das ihn veranlasst hat, alles, was ihn daran erinnert, zurückzulassen. Wir haben das akzeptiert, manchmal braucht man einfach Abstand. Allerdings hat Cayden sich seit Monaten nicht mehr gemeldet, und als Familie machen wir uns doch Sorgen, wie es ihm geht und ob er klarkommt. Ich bitte Sie nochmals in aller Form, uns alles zu erzählen. Wir wollen nur wissen, ob es ihm gut geht.“

Franziskas Worte enthielten eine Ehrlichkeit, die mein Herz mit der gleichen Wärme füllte wie der duftende Lavendeltee meinen leeren Magen. Ich spürte, dass sie die Wahrheit sagte, und war gerührt von diesem Zeugnis familiärer Fürsorge. Diese unbekannte Frau vergegenwärtigte mir, wie sehr ich meine eigene Familie vermisste. Jeder Mensch sollte dankbar dafür sein, wenn er auf dieser Welt jemanden hatte, der sich so um ihn sorgte. Deshalb entschloss ich, mich ein Stück weit zu öffnen.

„Cayden hat mich gestern Nacht auf dem Heimweg vor einem Überfall bewahrt. Er hat den Angreifer verjagt, mich nach Hause begleitet und unsere Schrammen verarztet.“

Ein leiser Pfiff ertönte im Hintergrund, und ich hörte Franziska laut ausatmen.

„Wow. Wie schlimm sind Sie beide verletzt, haben Sie sich schon durchchecken lassen? Wissen Sie, ich bin Ärztin.“

Oha. Jetzt musste ich Franziska gegenüber Farbe bekennen und zugeben, dass ich mich vor diesem Gang bisher gedrückt hatte.

„Es ist schon okay. Ich habe mir nur die Handflächen aufgeschürft, und Cayden hat eine Platzwunde im Gesicht.“ Ich holte einmal tief Luft und wagte anhand dieser Vorlage einen Vorstoß. „Er hat uns beide so fachmännisch verarztet, als sei das nicht das erste Mal gewesen, dass er solche Wunden davonträgt.“

Ein unangenehmes Schweigen entstand. Fast befürchtete ich, zu weit gegangen zu sein, als Franziska erneut das Wort ergriff.

„Nun, Cayden ist nur mit Brüdern aufgewachsen. Da gab es schon mal Zoff und man hat sich hier und da geprügelt. Jungs eben.“

Ein weiteres Stöckchen. Ich wollte Franziska zwar nicht aushorchen, aber ich war zugegebenermaßen auch ziemlich neugierig, mehr über meinen so verschlossenen Retter herauszufinden.

„Wie viele Brüder hat er denn?“

„Sieben. Es sind insgesamt acht Brüder.“

Jetzt war es an mir, einen lauten Pfiff auszustoßen.

„Ganz schön viele.“

„Das können Sie laut sagen. Jordis, was ist passiert, nachdem Cayden sich um sie beide gekümmert hat?“

„Nichts. Er ist einfach gegangen. Ich wollte ihm zum Dank noch etwas zu essen anbieten, aber er hatte es ziemlich eilig, von hier zu verschwinden.“

„Hat er denn irgendwas von sich erzählt?“

„Nein, gar nichts“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Er war sehr in sich gekehrt, und ich hatte das Gefühl, dass er mich so gut wie möglich auf Abstand halten wollte – also, so gut das eben geht, wenn man jemanden verarztet. Er war sehr unterkühlt in seiner Art, fast abweisend.“

„Verdammt“, fluchte Alan im Hintergrund.

„Das hätte jetzt auch von Aline stammen können“, sagte Franziska mehr zu ihrem Freund denn zu mir.

„Wer ist Aline?“, fragte ich und mein Herz begann erneut zu klopfen. War das vielleicht die unbekannte Schönheit auf dem Hintergrundbild?

„Ach, das ist nur die Freundin von Daron, Caydens jüngstem Bruder.“ An der Tonlage in Franziskas Stimme erkannte ich, dass sie zu dieser Aline offenbar eine enge Beziehung hatte. „Verdammt ist eins ihrer Lieblingswörter, und das hat schon ziemlich auf uns abgefärbt. Jordis, ist Ihnen denn sonst noch etwas an Cayden aufgefallen? Hat er vielleicht irgendeinen Hinweis darauf gegeben, wo er sich derzeit aufhält?“

Franziska und Alan schienen mir vom ersten Eindruck her sehr nette Menschen zu sein. Ich wollte ihnen deswegen ungern erzählen, in welcher Verfassung ich Cayden angetroffen hatte, aber andererseits wollte ich auch nicht lügen.

„Ich befürchte, dass ich da keine guten Nachrichten habe. Er hat mir wie gesagt nichts erzählt, aber sein Äußeres wies für mich darauf hin, dass er nicht unbedingt im Kempinski abgestiegen ist.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Alan im Hintergrund.

„Er hat sehr ungepflegt gewirkt. So, als hätte er länger nicht geduscht. Er war generell ziemlich schmutzig. Tut mir leid.“

„Nein, nein, das ist in Ordnung. Sie können doch nichts dafür, dass Cayden seine Körperpflege im Moment vernachlässigt. Meinen Sie denn, dass er überhaupt einen Schlafplatz hat?“

„Franziska!“, wies Alan seine Freundin scharf zurecht.

„Was denn? Du weißt, wie es ihm ging, als er untergetaucht ist. Auch wenn er sich locker ein Hotel leisten könnte, heißt das nicht, dass er das automatisch auch tut. Als Ärztin habe ich schon längst befürchtet, dass er abstürzt, so traumatisiert wie er …“

Plötzlich brach Franziskas Stimme ab. Mir stockte zeitgleich der Atem. Offenbar hatte Caydens Beinaheschwägerin in ihrer Unterhaltung mit Alan vergessen, dass ich noch am Hörer hing. Mein Herz wurde schwer. Er musste etwas sehr Schlimmes erlebt hatten, wenn eine Ärztin von einem Trauma sprach.

„Entschuldigung“, räusperte sich Franziska hörbar peinlich berührt, „das war vertraulich.“

„Keine Bange“, beruhigte ich sie sofort, „ich bin Lehrerin und habe auch ein gewisses Auge für Menschen. Mir war von Anfang an klar, dass Cayden etwas widerfahren sein muss, das ihn tief erschüttert hat. Er wirkt auf der einen Seite so stark, sein Blick und seine Worte sind vollkommen klar. Man merkt, dass er einen gefestigten Charakter hat. Auf der anderen Seite passt das so gar nicht mit seinem aktuellen Äußeren zusammen. Wenn man ihn sieht … es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber er sieht aus, als würde er auf der Straße leben.“

Kaum hatte ich das ausgesprochen, bereute ich es auch schon.

„Scheiße“, sagte Franziska, und es wirkte so ehrlich verzweifelt, dass ich mir wünschte, ich könnte meine Worte umgehend wieder zurücknehmen. Ich wollte nicht diejenige sein, die eine solche Nachricht übermittelte und somit auf ewig in den Köpfen der Betroffenen mit den schlechten Neuigkeiten gekoppelt blieb. Ich überlegte kurz. Eigentlich konnte das mir ziemlich egal sein, schließlich waren Franziska und Alan genau genommen vollkommen Fremde für mich. Komischerweise war es das aber nicht.

„Es tut mir leid, ich wollte nicht …“

„Nein bitte, Sie müssen sich nicht entschuldigen“, meldete sich Alan zu Wort. „Im Grunde sind wir Ihnen dankbar für Ihre Ehrlichkeit. Wir sind ja Fremde für Sie, und Sie müssten uns das alles nicht erzählen.“

Mir blieb die Spucke weg. Hatte er etwa gerade meine Gedanken gelesen?

„Jordis, haben Sie irgendeine Ahnung, wo Cayden sich jetzt aufhalten könnte?“

„Nein, leider nicht. Ich wohne in Farmsen-Berne, falls Ihnen das irgendwie hilft. Hier habe ich Cayden auch kennengelernt. Vielleicht ist er ja noch irgendwo in der Gegend. Aber Hamburg ist riesig, und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kann er sich mittlerweile sonstwo aufhalten.“

„Danke für diese Information. Ich weiß zwar nicht, ob sie uns weiterhilft, aber auf jeden Fall danke. Dürften wir Sie eventuell um einen Gefallen bitten, Jordis?“

Mir fiel auf, wie oft Alan und Franziska meinen Namen nannten. Den Trick kannte ich. Sie versuchten auf diese Weise, eine Verbindlichkeit herzustellen. Ich fand solche Psychomanipulationen zwar nicht sehr prickelnd, aber wenn aus meiner Familie jemand vermisst würde und es meldete sich eine Person, die Informationen hatte, würde ich auch versuchen, denjenigen in irgendeiner Weise zu binden.

„Würden Sie uns bitte wieder anrufen, sobald Sie etwas Neues von Cayden erfahren? Sie sind seit Langem das erste Lebenszeichen, das wir von ihm bekommen haben. Wir wollen ihm helfen, und er braucht diese Hilfe dringend. Egal wie oft wir ihn angerufen haben, er hat uns immer weggedrückt. Wenn sich jemand nicht helfen lassen will, dann kann man ihn natürlich auch nicht dazu zwingen. Aber man kann warten und in dem Moment da sein, wenn derjenige nach einem ruft.“

Ich nickte, bis ich merkte, dass Franziska und Alan mich nicht sehen konnten.

„Geht klar. Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich Cayden sein Handy wiedergeben kann, aber sollte ich Neuigkeiten haben, dann melde ich mich wieder bei Ihnen.“

„Danke“, sagten die beiden wie aus einem Mund, und Alan fügte hinzu „Wir sind Ihnen wirklich sehr dankbar dafür, dass Sie angerufen haben. Wenn Sie mal Hilfe brauchen sollten, irgendwann, egal worum es geht, dann können Sie sich jederzeit melden. Wir sind eine sehr traditionsbewusste und verbindliche Familie. Wer uns beisteht, der kann sich sicher sein, bei uns in der Not immer eine Anlaufstelle zu haben.“

Ein dicker Kloß bildete sich umgehend in meinem Hals und blieb dort so fest stecken, dass ich mehrfach schlucken musste, bevor ich sprechen konnte.

„Danke. Das ist eine …“, ich suchte händeringend nach einem passenden Ausdruck und fand doch keinen, „… nette Geste.“

Nett.

Das war bekanntlich die kleine Schwester von Scheiße. Aber auf die Schnelle war mir einfach nichts anderes eingefallen.

„Wir meinen es auch so. Danke nochmal, Jordis. Geben Sie gut auf sich acht.“

„Mach ich“, antwortete ich, aber da hatte Alan schon aufgelegt.

Wie versteinert starrte ich mehrere Minuten lang auf das Mobiltelefon in meiner Hand, bis Berry sich mit seinem Kopf an meinem Handgelenk rieb und mich aus meinen tranceähnlichen Gedanken holte.

„Das wird alles immer seltsamer“, sagte ich zu den beiden Stubentigern und wollte mich gerade ins Wohnzimmer begeben, um das Telefonat auf der Couch in einem dringend fälligen Nachholnickerchen zu verarbeiten, als es an der Tür klingelte. Vor Schreck hätte ich fast das Handy fallen lassen. Mit zittrigen Beinen ging ich an die Gegensprechanlage.

„Jordis, ich bin‘s. Bitte mach auf. Ich hab gehört, was passiert ist.“

Nines kratzig-dunkle Stimme zeugte davon, dass heute auch bei ihr ein Kater zu Gast war. Allerdings war der nicht annähernd so haarig wie meine beiden Mitbewohner.

„Komm hoch“, antwortete ich und drückte auf den Summer.

Dass sich Nine mit einem solchen Restalkohol aus dem Bett bewegte, kam einmal alle hundert Jahre vor. Mein Nickerchen konnte ich somit vergessen.

„Jetzt wird’s spannend“, flüsterte ich Jen zu, der neben mir durch den Türspalt gen Treppe linste. „Entweder treibt sie das schlechte Gewissen, dass sie sich so zugeschüttet hat, oder sie macht sich wirklich richtige Sorgen.“

Ein mahnendes Miau verließ Jens Kehle, und er warf mir sogleich einen Blick zu, dass ich mich fragte, wie viel er von dem, was ich gerade gesagt hatte, verstanden hatte. ‚Sei nicht so fies’, schienen seine Augen zu sagen. ‚Deine Aktion mit dem einsamen Nachhauselaufen war auch nicht gerade eine Glanzleistung.’

„Okay, hast ja recht“, zischte ich ertappt und öffnete die Tür, als ein ziemlich zerknautschtes Häufchen Mensch mit einer übergroßen Sonnenbrille auf der Nase die Treppe heraufgestiegen kam.

„Süße, es tut mir so leid, wie geht’s dir?“, fragte Nine, als sie mich umarmte.

„Ich glaube fast, besser als dir“, antwortete ich ehrlich, als mir der Duft von hundert Schnäpsen entgegenschlug, den Nine wie ein strenges Parfum verströmte.

„Komm rein. Rollmops?“, fragte ich, während ich die Tür hinter ihr schloss. Auch ohne dass sie die Brille abnahm, konnte ich sehen, wie ihre Augen zu leuchten anfingen.

„Hast du auch Mayo da?“

„Sicher“, antwortete ich und musste grinsen, als meine Freundin den Kühlschrank öffnete, sich im Schneidersitz davor niederließ und mit den bloßen Fingern den ersten Mops aus dem Glas fischte.

„Danke, das rettet mir das Leben“, sagte sie schmatzend, um im nächsten Moment erschrocken innezuhalten.

„Oh. Bitte entschuldige, das war dumm und unpassend.“

„Schon in Ordnung“, antwortete ich und hielt ihr meine verbundenen Handflächen entgegen.

„Was Dummheiten betrifft, habe ich letzte Nacht auch ein echtes Kunststück vollbracht.“

Während sich Nine nickend einen Riesenklecks Mayo aus der Tube auf ihren nächsten Rollmops drückte, fügte ich im Stillen hinzu:

‚Und so, wie es aussieht, war das gerade erst der Anfang.’

Das Herz und die Dunkelheit

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