Читать книгу Das Herz und die Dunkelheit - Emily Byron - Страница 9
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Оглавление„Sagt mal, was ist denn nur los mit euch?“
Noch während ich mehr schlecht als recht mit meinen Fingerspitzen im Badezimmerschrank nach dem Erste-Hilfe-Set kramte, hörte ich es aus dem Gang ununterbrochen maunzen und schnurren. Das lautstarke Verhalten meiner felligen Mitbewohner war mehr als ungewöhnlich, und so rief ich in Richtung Flur: „Normalerweise suchen die beiden bei Fremden sofort das Weite. So redselig kenne ich sie gar nicht.“ Ich kniff bedacht eine Ecke des weißen Verbandsbeutels zwischen Daumen und Zeigefinger und zog ihn langsam zwischen Tamponbox und Wattebehälter hervor. „Hab ihn“, jubilierte ich und wartete darauf, dass Cayden das Bad betrat. Aber nichts tat sich. Verwundert lugte ich um den Türstock herum und ließ vor Überraschung glatt das kleine Täschchen fallen. Cayden stand mitten im Flur und hatte meinen schwarzen Kater Jen wie ein Baby im Arm, während der getigerte Berry sich an seiner Hose rieb, als sei sie mit Katzenminze weichgespült worden. Das Taschentuch, das ich dem blonden Riesen als provisorischen Druckverband für den Weg ausgehändigt hatte, lag vollgeblutet auf dem frisch geputzten Parkettboden.
„Gibt’s ja nicht“, sagte ich verblüfft mehr zu mir selbst als zu Cayden.
„Ich sagte doch, ich mag Katzen“ erwiderte er, während er weiter unablässig Jens Bauch kraulte, was dieser mit anhaltendem Schnurren quittierte.
„Ja, schon“, stammelte ich, „aber normalerweise lassen sie sich von keinem Fremden anfassen. Ich habe ewig gebraucht, bis sie mir so vertraut haben.“
„Was ist denn passiert?“
Ein erneuter Schnurrer von der Lautstärke eines verstopften Auspuffrohrs ertönte unter Caydens Fingern. Jen genoss seine Extraportion Schmuseeinheiten sichtlich, während sich Berry eine Etage tiefer nahezu um den Verstand rubbelte.
„Keine Ahnung“, antwortete ich und erinnerte mich daran, wie scheu die beiden bei unserem ersten Kennenlernen gewesen waren. „Man hat sie eines Herbstmorgens vor der Tierheimtür gefunden, eingepfercht in eine Transportbox. Sie waren in einem erbärmlichen Zustand und mussten mühsam wieder aufgepäppelt werden. Berry fehlte ein Stück vom Schwanz und die Wunde war schon so schlimm entzündet, dass man ihm seinen Launenanzeiger schließlich bis auf einen kleinen Stummel amputieren musste.“
Wie zur Bestätigung seines Schicksals ließ der Tiger in diesem Moment einen herzerweichenden Maunzer ertönen. Das Ergebnis war offenbar das gewünschte – Cayden ging in die Hocke und nahm auch den zweiten Kater mit auf den Arm. Ich konnte über die plötzliche Vertrauensseligkeit meiner Stubentiger gegenüber einem Fremden nur noch den Kopf schütteln.
„Der Tierarzt meinte, so gerade, wie die Wunde verlief, sei der Schwanz wohl absichtlich abgetrennt worden. Ich mag gar nicht daran denken, was der Kleine für Schmerzen durchlitten haben muss.“ Bei der Vorstellung schüttelte es mich vor Entsetzen.
„Menschen können grausam sein.“
Auch, wenn ich dem inhaltlich nicht viel hinzuzufügen hatte, bemerkte ich doch, wie sich der bisher so neutrale Klang von Caydens Stimme bei diesem Satz veränderte. Ich konnte es nicht richtig greifen, aber ich hatte das Gefühl, die Worte würden weniger dem kleinen Stummelschwanz als ihm selbst gelten. Auf einmal schwang in ihnen eine solch schwere Traurigkeit mit, dass ich meinte, unter ihrem Gewicht ersticken zu müssen. Leider konnte ich Caydens Mimik nicht erkennen, denn sein Gesicht verbarg er gekonnt hinter den langen, fast schon dreadlockartig verfilzten Strähnen.
„Wieso heißen sie Jen und Berry?“ fragte er abrupt, wie um vom Thema abzulenken. Inzwischen hatte das Stummelchen begonnen, ihm unablässig über den Handrücken zu schlecken.
„Es gibt da so eine Eismarke“, antwortete ich und ging in die Hocke, um den Verbandsbeutel aufzuklauben. „Die mag ich sehr gern. Hab einfach nur die Anfangsbuchstaben vertauscht.“
Caydens silberne Augen warfen mir einen Blick zu, als sei ich nicht mehr ganz bei Trost.
„Du nennst deine Katzen nach einer Eiscreme?“
„Warum nicht? Immer noch besser als Allerweltsnamen wie Maunzi, Schnurri oder Miezi.“
Kurz schien Cayden darüber nachzudenken.
„Stimmt“, bestätigte er knapp.
Besten Dank fürs Einverständnis. Als ob ich das von einem völlig Fremden brauchte.
„Können wir dann langsam mal hiermit anfangen?“ fragte ich leicht genervt und hielt mit schmerzverzerrtem Gesicht das Verbandszeug hoch. „Meine Hände brennen wie Feuer und du hast wieder zu bluten begonnen.“
Wie zur Untermalung fiel just in diesem Moment ein dicker Blutstropfen aus Caydens Wunde auf Jens Bauch. Das missfiel dem Kater hörbar. Er fauchte einmal laut und sprang wie ein geölter Blitz von seiner bisherigen Schmuseposition auf den Boden. Berry schaute seinem Kumpel zunächst irritiert hinterher, bis auch er einen Tropfen abbekam und angewidert das Weite suchte.
Im Bad versuchte ich derweil, das Verbandsmäppchen aufzubekommen, aber scheiterte kläglich, zu sehr stachen meine Handflächen.
„Lass mich das machen“, sagte Cayden und öffnete den Beutel. Fachmännisch durchforstete er den Inhalt und fischte schließlich ein Wundgel, Kompressen und einige Pflaster hervor. „Ich kümmere mich erst um mich, damit ich nicht alles vollblute. Danach schaue ich mir deine Hände an.“
Diese vorausschauende Planung überraschte mich etwas. Aber mehr als ein verwundertes „Okay“, brachte ich nicht hervor. Caydens Stimme hatte einen so bestimmenden, sicheren Ton, dass ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, er habe solche Maßnahmen womöglich schon öfter vornehmen müssen. Vielleicht war er ja ein Arzt oder zumindest jemand, der genau wusste, was im Fall solcher Wunden zu tun war. Erst jetzt wurde mir wirklich klar, wie unbekannt mir der Mann war, der sich hier mit mir in mein winziges Badezimmer quetschte. Dabei wusste ich es eigentlich besser, als meine Meinung über einen Menschen von seinem Äußeren abhängig zu machen. Nun ja, rechtfertigte ich mich vor mir selbst, aber wenn der Betreffende ein müffelnder Griesgram war, war es natürlich etwas schwerer als gewöhnlich, keine Vorurteile zu haben. Ich setzte mich auf den Badewannenrand und wartete, bis ich an der Reihe war. Während Cayden erst sein Gesicht sowie die Platzwunde mit Wasser säuberte und danach das Gel auftrug, nutzte ich die Gelegenheit, mich noch ein wenig über mich selbst zu wundern. Nach der Trennung von Dani hatte ich doch einen Bannkreis gegen alles Männliche drei Meter rings um meine Wohnung gezogen. Und doch saß ich nun hier auf engstem Raum mit einem Mann, mit dem ich mich Stunden zuvor noch aufs Heftigste angelegt hatte, nur um mich dann von ihm retten zu lassen. In der Kneipe war er mir wie ein arrogantes Arschloch vorgekommen. Aber Arschlöcher halfen keinen Frauen in Not ...
„Fertig“, riss mich Cayden aus meiner Grüblerei heraus, strich sich noch einmal das große Pflaster auf der Wange glatt und drehte sich zu mir um.
„Aber das könnte eine dicke Narbe geben, wenn nicht noch mehr“, gab ich zu bedenken. Platzwunden mussten meines Wissens umgehend genäht werden, und mich irritierte Caydens Verfahrensweise. Dieser aber wischte mit einer Handbewegung meine Bedenken vom Tisch. Gut, dann nicht, dachte ich. Er war schließlich erwachsen und wusste selber, was er tat. Nur meine Vermutung, dass er ein Arzt oder jemand mit medizinischem Fachwissen sein könnte, verwarf ich nun doch ganz schnell wieder.
„Das Pflaster reicht völlig aus. Jetzt lass du mal sehen.“
Mit diesen Worten kniete sich Cayden vor mir auf den Boden. Brav zeigte ich ihm meine Handflächen. Bis zu mir nach Hause hatte ich sie notdürftig mit Taschentüchern bedeckt gehalten, die ich sofort in die Badewanne befördert hatte, als ich nach dem Verbandstäschchen suchte. Die Heilung hatte bereits eingesetzt und das Blut hatte zusammen mit einigen Fetzen Zellulose eine erste, leichte Kruste gebildet. Dieser Umstand blieb auch Cayden nicht verborgen.
„Das müssen wir noch einmal aufmachen.“
„Was?“ Ich dachte, mich verhört zu haben, und schaute entsetzt von meinen Handflächen auf.
Unerwartet traf mich Caydens direkter Blick. Mein Herz machte einen solchen Satz, dass es mich fast vom Badewannenrand gefegt hätte. Sein Gesicht war mir so nah, dass ich meinte, seinen Atem auf meinen Wangen spüren zu können. Dann packte er wortlos meine Handgelenke mit einer seiner riesigen Pranken, öffnete den Wasserhahn über der Badewanne und zog meine Handflächen unter das laufende Nass.
„Autsch, spinnst du?“, fluchte ich und versuchte, mich aus dem festen Griff zu befreien, während das warme Wasser über meine Handinnenseite lief als sei es ein Strom aus unzähligen, feinen Nadeln.
„Halt still, das muss komplett gesäubert werden, sonst entzündet es sich und beginnt zu eitern.“
Caydens Tonfall war abermals sehr bestimmend, doch diesmal besaß er eine zusätzliche Schärfe, die mir sagte, dass er nicht zögern würde, sich notfalls mit noch gröberen Mitteln durchzusetzen. Also hielt ich widerwillig still, biss die Zähne zusammen und schaute an die Decke, während Cayden meine Hände hielt und mit den Fingern über meine beißenden Verletzungen schrubbte.
„Handtuch?“ fragte er kurz darauf knapp.
„Unterm Waschbecken“, knurrte ich und gab mir keine Mühe, mein Missfallen zu vertuschen. Allerdings hütete ich mich davor, wie ein Rohrspatz zu schimpfen, auch wenn ich nicht übel Lust dazu hatte. Erstaunlich vorsichtig tupfte Cayden im Anschluss meine Hände trocken, bestrich die Handflächen mit dem Gel, das er bereits für sich selbst verwendet hatte, und klebte danach zwei sterile Kompressen großflächig auf die fies brennenden Wunden. Misstrauisch beäugte ich meine neuen Accessoires.
„Nicht sehr schick“, brummte Cayden, „aber erfüllt seinen Zweck.“
Irritiert schaute ich auf. Sollte das gerade etwa witzig gewesen sein? Caydens Mimik war ernst wie eh und je. Nein, wohl eher nicht.
„Lass sie drauf, bis es durchnässt. Wird wahrscheinlich in ein paar Stunden soweit sein. Dann wechselst du sie.“
„Danke“, erwiderte ich in Ermangelung einer anderen Antwort.
Wortlos erhob sich Cayden und machte sich auf den Weg in Richtung Wohnungstür.
Überrascht sprang ich auf und lief ihm hinterher. „Wo willst du hin?“
„Weg“, war seine karge Antwort, als er die Türklinke herunterdrückte.
„Aber …“, sagte ich und wusste selbst nicht, was ich sagen sollte. Es war völlig verrückt. Aber irgendetwas in mir schrie förmlich, dass ich ihn jetzt nicht gehen lassen durfte. Ich hatte plötzlich das überwältigende Gefühl, dass sich hinter dem Schmutz der letzten Tage und Wochen etwas verbarg, das es verdient hatte, entdeckt zu werden. Das ich entdecken wollte. Mein Herz wummerte lautstark in meinen Ohren, während ich mich innerlich noch entgeistert fragte, was um alles in der Welt auf einmal in mich gefahren war.
In diesem Moment ertönte ein Doppelmiauen hinter uns. Cayden und ich schauten wie auf Kommando in Richtung Wohnzimmer. Jen und Berry lugten mit großen funkelnden Katzenaugen um die Ecke und setzten sich wie abgesprochen nebeneinander in Positur. Da hatte ich endlich eine Idee.
„Ich habe mich noch gar nicht richtig für deine Hilfe bedankt. Du hast doch sicher auch so einen Hunger wie ich? Wir könnten uns was kochen. Magst du Tortellini? Ich hab …“
Der Anflug eines Lächelns stahl sich ins Caydens Eiswasseraugen, als sein Blick von den unablässig miauenden Gesellen zu mir wanderte. Eine unsichtbare Faust boxte mir in den Magen, als ich erkannte, dass er mein Vorhaben durchschaut hatte.
„Pass auf dich auf“, sagte er, trat hinaus in den Gang und zog, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Tür hinter sich zu.
Dann war er weg.
Vollkommen perplex blieb ich im Flur stehen, als hätte man mir soeben eine schallende Ohrfeige verpasst. Erneut erklang das Katzenkonzert in meinem Rücken, diesmal aber mit einem eher fragenden Unterton. Langsam drehte ich mich zu meinen pelzigen Mitbewohnern um.
„Was zur Hölle war denn das?“, fragte ich die beiden und fühlte mich auf einmal einfach nur leer. Jen legte seinen Kopf schief, während Berry an mir vorbeilief und zweimal halbherzig an der Tür kratzte. Dann schaute auch er mich fassungslos an.
‚Warum bloß hast du ihn so einfach gehen lassen?’, schien er mich mit seinen großen Augen zu fragen.
Und auch ich wunderte mich noch einmal, warum ich mir just in diesem Moment denselben Vorwurf machte.