Читать книгу Das Herz und die Dunkelheit - Emily Byron - Страница 13
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ОглавлениеSchweigend saßen wir auf dem Sofa. Jeder für sich blickte ratlos auf die Teller mit dem nunmehr nur noch lauwarmen Essen. Es war eine gefühlte Ewigkeit vergangen, bis Cayden mir gestattet hatte, mich aus seinen Armen zu pellen und wieder einigermaßen auf Normalität herunterzuschalten. Wobei das eine Art Selbstbetrug war. Denn normal war an dieser ganzen Situation rein gar nichts mehr. Nachdem ich erneut nach dem Löffel hatte greifen wollen, nur um irgendeine Beschäftigung zu haben, hatte Cayden ihn mir behutsam, aber nachdrücklich aus den verletzten Händen genommen und mich auf die Couch verwiesen. Noch immer ziemlich durch den Wind, hatte ich nicht widersprochen und mich einfach auf das weiche Polster gepflanzt. Alles an mir fühlte sich an wie Wackelpudding, und auch, wenn ich kein Freund von Alkohol war, so hätte ich jetzt liebend gern einen Schnaps oder zwei getrunken. Ich hatte zugesehen, wie Cayden wie selbstverständlich, wenn auch etwas fahrig, in meiner Küche herumhantiert und uns schließlich zwei Teller voller Korma auf den Couchtisch gestellt hatte. Es roch immer noch wunderbar, doch mein Magen war seit dem Erlebnis wie zugeschnürt. Ich schaute neben mich. Auch Cayden aß keinen Bissen, sondern stocherte nur wie ein verwirrtes Huhn mit der Gabel in seinem Reis herum.
„Was war das gerade?“, fragte ich, um die bedrückende Stille zu unterbrechen, erwartete darauf aber nicht wirklich eine Antwort. Das soeben Geschehene war eindeutig das Ergebnis eines Zusammenpralls zweier furchtbarer Komponenten. Als hätte man hochaggressive Plutonium-Isotope zusammen mit hyperaktiven Neutronen in ein Zimmer gesperrt und einfach mal abgewartet, was dabei herauskam. Natürlich hinkte dieser Vergleich, zumal ich keine Ahnung vom Aufbau einer Atombombe hatte, doch angesichts der aktuellen Situation waren derlei Ungenauigkeiten nebensächlich.
„Stress“, antwortete Cayden abwesend, ohne dabei von seinem Teller aufzuschauen.
„Wie meinst du das?“, hakte ich vorsichtig nach. Es war nicht ratsam, gleich aus allen Rohren zu feuern. Ich wollte mehr über den Mann neben mir erfahren, und dafür bedurfte es Fingerspitzengefühl.
Ja, genau.
Als ob ich das gerade parat gehabt hätte.
Nach dem, was wir gerade erlebt hatten, fühlte ich mich in etwa so feinfühlig wie eine Planierraupe im Ballettunterricht.
„Ich habe dich durch meine Art und meine schnelle Handlung an die letzte Nacht erinnert. Dein Unterbewusstsein steht noch auf höchster Alarmstufe und ist deswegen sofort angesprungen. Du solltest dir Hilfe suchen, um den Überfall besser verarbeiten zu können. Mit solchen posttraumatischen Symptomen ist nicht zu spaßen.“ Dann wandte Cayden mir sein Gesicht zu und schaute mich direkt an. „Tut mir wirklich leid, dass ich so ausgeflippt bin. Ich habe nicht nachgedacht.“
Hätte ich gerade etwas gekaut, so hätte ich mich jetzt vor Verwunderung verschluckt.
„Schon gut“, hörte ich mich sagen, während ich wie hypnotisiert in Caydens Augen starrte. Abermals wollte ich in sie hineinspringen und in ihrem Glanz wie im Wasser eines kristallklaren Bergsees baden. „Die Situation ist für dich im Moment ja auch nicht einfach.“
Daraufhin zog Cayden eine Braue hoch.
„Wie meinst du das jetzt?“
Oh Mist.
Wenn Cayden dachte, ich wüsste mehr über ihn als er bisher angenommen hatte, dann war das nicht nur falsch, sondern barg auch die Gefahr, dass er sofort wieder dichtmachte und auf Nimmerwiedersehen verschwand. Es blieb mir also nur eine Möglichkeit, um dem vorzubeugen. Ich sagte ihm einfach die Wahrheit.
„Weißt du, ich bin nicht dumm und kann mir ganz gut ein paar Dinge zusammenreimen. Alan und Franziska haben mir keine Details verraten, aber nach dem zu urteilen, was ich mitbekommen habe, musst du einen dir sehr nahestehenden Menschen verloren haben. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann ist es die Frau auf deinem Handy.“
Hoch gepokert, fürwahr. Die Chance, dass der Herr nun bockte und sich wieder in sich zurückzog, stand bei genau 50 Prozent. Ich hoffte sehr, dass die anderen 50 gewinnen würden.
„Stimmt“, flüsterte Cayden nur kurz darauf und senkte seinen Blick wieder in Richtung Teller. Danach sagte er nichts mehr, sondern stocherte weiter lustlos mit seiner Gabel in dem armen Reis herum. Ich beschloss, es vorerst bei dieser Auskunft zu belassen, denn das Gespräch war trotz seiner zähen Form um Klassen besser als jegliche Kommunikation, die zuvor zwischen uns stattgefunden hatte. Außerdem blieb mein Gast weiterhin ruhig neben mir sitzen. Ich wertete das als gutes Zeichen und schob mir mühsam einen Löffel Korma in den Mund. Es war zwar nur noch lauwarm, aber als das fruchtige Aroma meine Geschmacksknospen kitzelte, begann mein Magen so lautstark nach mehr zu knurren, dass ich vor Schreck fast vom Sofa gefallen wäre. Peinlich berührt hielt ich mir eine verbundene Pfote vor den Bauch und schaute geknickt in Caydens Richtung. Zu meiner Verwunderung hatte sich ein kleines Lächeln in sein bisher so hartes Gesicht gestohlen. Es verlieh ihm einen neuen, mir bisher unbekannten Ausdruck. Auf einmal sah ich einen Hauch von Güte, dort wo vorher nur verhärmte Abwehr bestanden hatte.
„Du solltest endlich auch was essen“, lenkte ich von meinem brüllenden Magen ab, „das schmeckt extrem gut. Wäre schade, wenn es komplett kalt wird.“
Stumm nickend nahm daraufhin auch Cayden einen ersten Happen zu sich. Als hätten sich unsere Innereien abgestimmt, begann sein Magen ebenso im Handumdrehen zu knurren. Nur eine Sekunde später stimmte meiner in den Kanon ein. Da mussten wir beide lachen. Auf meiner Haut bildete sich sofort Gänsehaut, als Caydens voller Bass durch meine Wohnung hallte. Er war wie die wärmenden Sonnenstrahlen nach einem tosenden Gewittersturm.
„Steht dir gut, wenn du lachst“, sagte ich und nahm einen weiteren Löffel Korma zu mir.
„Danke. Es gab in den letzten Monaten nichts, worüber ich hätte lachen können.“
Da war sie auch schon wieder, die so mühsam verscheuchte dunkle Wolke, und ließ sich mit einer geradezu rasanten Geschwindigkeit erneut auf Caydens Gedanken nieder. Also setzte ich alles auf eine Karte, um den gerade erarbeiteten Spalt, den er in meine Richtung aufgemacht hatte, offen zu halten. Ich beugte mich zu ihm und legte ihm meine linke Hand auf den Arm. Tatsächlich zuckte er nicht zurück, sondern ließ mich gewähren, ohne aufzusehen. Seine langen Haare fielen ihm wie ein schützender Vorhang ins Gesicht, so dass ich nicht sehen konnte, was gerade in ihm vorging. Ohne weiter nachzudenken hob sich wie von selbst meine rechte Hand und schob Caydens seidenweichen Sichtschutz zur Seite. Immer noch rührte er sich keinen Millimeter, sondern saß wie eingefroren neben mir, der Blick fest ins Leere starrend. Es versetzte mir einen Stich, ihn so zu sehen.
„Ich weiß, dass es mich nichts angeht. Ich will mich dir auch nicht aufdrängen. Aber du scheinst deinen Kummer schon zu lang allein mit dir herumzutragen. Das ist nicht gut. Wenn du reden willst, dann bin ich da und höre dir zu.“
Insgeheim fragte ich mich selber, woher meine Kühnheit plötzlich herkam. Es war so seltsam. Da war er, dieser riesige Kerl, und ich, die sich von genauso einem Kerl schon einmal so furchtbar hatte verletzen lassen. Aber in diesem Moment spielte das keine Rolle. In diesem Moment war ich einfach so viel stärker als er. Er konnte mir nichts anhaben, das wussten wir beide, und wenn er über noch so viel Muskelkraft verfügte. Überwältigend deutlich spürte ich, dass sich hinter der Mauer aus Ablehnung und Schroffheit ein zutiefst verletzter Mann verbarg, der noch vor Monaten ein ganz anderer gewesen sein musste. Ich begriff: Cayden hatte mir soeben einen verschwindend kleinen Einblick in seine Seele gewährt. Ein unbeschreiblich kostbarer Beweis seines Vertrauens, dessen ich mich unbedingt als würdig erweisen wollte. Dabei war mir klar, dass er mir nicht sofort sein Herz bis auf den letzten Tropfen ausschütten würde. Ich rechnete vielmehr damit, dass er mich spätestens jetzt wieder von sich stoßen würde, weil ich zu schnell zu viel gefordert hatte. Doch zu meiner Überraschung geschah etwas ganz anderes. Cayden legte seine Hand auf meine.
„Die Erinnerung ist zu schlimm. Aber ich weiß dein Angebot zu schätzen“, flüsterte er und wandte mir unvermittelt das Gesicht zu. Ein Blitz traf mich mitten in meine Eingeweide. Aufrecht war er, voller Stolz, und doch so sehr von Gram erfüllt. Das ganze Elend der Welt schien sich in seinem Blick zu bündeln und mich damit bis ins Mark zu erschüttern. Ich hatte am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlte, wie ein Stück Dreck am Wegesrand abgestreift zu werden, und lange Zeit gedacht, ich würde daran zerbrechen. Wie lächerlich kam ich mir jetzt vor angesichts des unausgesprochenen Leids, das Cayden erlebt haben musste.
„Was immer auch passiert ist – es tut mir sehr, sehr leid.“
Cayden musterte mich eine Weile, und ich hielt ihm stand. Unsere Blicke ruhten ineinander, minutenlang, so kam es mir vor. Er schien zu ahnen, dass ich weitaus mehr erkannt hatte, als ich sagte, spürte aber wohl auch, dass ich ihn zu nichts drängen wollte. Genau genommen waren wir einander ja immer noch völlig fremd, trotzdem wir in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft schon mehr miteinander erlebt hatten als manch andere in zehn Jahren.
Vielleicht war diese kurze, aber so intensive Zeit verantwortlich für das, was dann geschah. Vielleicht aber waren auch meine Worte einfach die ersten voller aufrichtiger Anteilnahme, die Cayden nach einer langen Zeit qualvoller Einsamkeit an sich heranließ. Was immer es war – im nächsten Augenblick nahm er mein Gesicht in beide Hände und küsste mich mit einer solchen Hingabe, dass es mir die Luft zum Atmen nahm. Ich benötigte einige Sekunden, bis ich verstand, was da gerade geschah. Zuerst wollte ich protestieren und hob bereits meine Hände, um Cayden wegzudrücken. Dann aber, sei es aus Angst, ihn mit einer Ablehnung meinerseits zu verschrecken, oder aus einem rein egoistischen Gefühl der Verzauberung heraus, ließ ich ihn gewähren und ergab mich seiner Liebkosung. Seine Lippen waren samtig weich und zugleich voll fordernder Energie. Unsere Zungen tanzten wie von selbst den gemeinsamen Reigen einer rätselhaften Verbundenheit, und mit jedem Herzschlag entfachte Caydens wachsendes Verlangen in meiner Mitte ein Feuer, das ich schon lange nicht mehr verspürt hatte. Wie in Trance legte ich ihm meine verbundenen Hände um den Hals und glitt rückwärts auf das Sofa, während sich Cayden widerstandslos von mir mitziehen ließ. Seine Haare fielen wie kühle Seide in mein Gesicht und umrahmten unseren Kuss unerwarteter Leidenschaft, dessen Intensität immer stärker wurde, je länger sich unsere Lippen im Gleichklang miteinander bewegten. Unser beider Atem wurde immer flacher und ich war nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, was gerade mit uns geschah. Ich ergab mich diesem so wunderbaren Kuss, der in seiner schwermütigen Magie eine solche Macht besaß, die ich weder greifen, geschweige denn ansatzweise verstehen konnte. Ein Stöhnen verließ meine Kehle, als Cayden sein Gewicht ein Stück weit auf mich verlagerte und seinen gesamten Körper auf mich legte. Er war so massiv, dass er mich mit Leichtigkeit hätte zerquetschen können, und dabei zugleich so zärtlich, als würden Daunenfedern mein Gesicht streicheln, während er sich von meinem Mund löste und meine Wangen bis zum Hals mit zahllosen Küssen bedeckte. Wie lange schon hatte mich kein Mann mehr so berührt, und wie sehnsüchtig, das erkannte ich jetzt, hatte ich tief in mir einen Moment wie diesen herbeigewünscht! Doch anstatt mich dafür zu öffnen, hatte ich mich all die Monate in mich selbst zurückgezogen und hinter einer Mauer aus Trotz verbarrikadiert. Jetzt wurde mir bewusst, dass ich mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht hatte.
Ich wollte Liebe und Leidenschaft.
Ich wollte sie so sehr, wie es einen Gefangenen in seinem dunklen Loch nach dem tröstenden Licht der Sonne verlangte.
Als Cayden begann, seine Hand unter mein Shirt zu schieben und meine Brust zu umfassen, war mir, als würde ich vor Begierde den Verstand verlieren. Der jedoch meldete sich just in diesem Moment mit einem letzten, noch verbliebenen Rest an Kraft und bäumte sich auf gegen die Welle der Lust, die ihn hinwegzuwaschen drohte. ‚Jordis’, rief er mir zu, während er an einem Stück Treibholz festgeklammert auf den Sturzfluten meiner Empfindungen dahintrieb, ‚sei vernünftig! Du hast doch keine Ahnung, wie viel Kummer dir dieser Mann bringen kann! Denkst du, du könntest eine solche Enttäuschung noch einmal überstehen?’
Das war der Moment, in dem ich aus der Trance meiner Leidenschaft erwachte.
„Stopp, bitte aufhören“, keuchte ich atemlos, und versuchte, mit meinen lädierten Händen Caydens Griff um meine Brust zu lockern. Das jedoch verlief nicht ganz so wie gedacht, und so musste ich trotz der Schmerzen, die durch meine Handinnenflächen schossen, mehrfach auf seine Arme klopfen, ehe er aus seinem eigenen Rausch auftauchte.
„Entschuldige, ich kann das nicht“, sagte ich atemlos, aber bestimmt, „zumindest nicht so schnell.“
Zugegeben, meine Rhetorik war auch schon mal besser gewesen, doch der Inhalt war trotzdem unmissverständlich und klar. Verwundert schaute Cayden mich an, und es war ersichtlich, wie sich in seinem Kopf das rationale Denken mühsam, aber zielstrebig durch den Strudel der Erregung an die Oberfläche kämpfte.
„Oh … ja. Nein. Ich meine, du musst dich für nichts entschuldigen. Vielmehr muss ich das.“
Vorsichtig erhob er sich von mir und griff nach meinen Handgelenken, um mich an ihnen neben sich in die Senkrechte zu ziehen. „Jetzt habe ich dich bereits zum zweiten Mal überrumpelt.“
„Ist schon in Ordnung“, entgegnete ich und strich ihm vorsichtig eine Strähne aus dem Gesicht. „Die letzten 24 Stunden waren ziemlich verwirrend für uns beide, meinst du nicht auch?“
„Sicher“, antwortete Cayden.
Aufmerksam musterte ich ihn. Zu meiner Enttäuschung erkannte ich, dass er gerade dabei war, sich wieder ein Stück weit in sich zurückzuziehen.
„Nicht“, sagte ich hastig und legte ihm meine unverletzten Fingerspitzen auf seine Wangen, „nicht wieder verschließen. Es war schön, sehr schön sogar. Es war einfach nur zu schnell. Ich war darauf nicht vorbereitet. Vielleicht sollten wir uns erstmal besser kennenlernen.“
Kaum waren die Worte ausgesprochen, hinterließen sie einen staubigen Film aus abgedroschener Belanglosigkeit.
„Das kam jetzt anders rüber als gedacht“, knüpfte ich schnell an, „ich meinte damit nicht, dass wir uns überhaupt besser kennenlernen müssen. Ich meine, ich will schon. Aber ich respektiere, wenn du noch nicht soweit bist.“
Himmel, was redete ich da nur für einen Stuss? Es war, als würden sich die Worte in meinem Mund einfach von selber aneinanderreihen, ohne sich um jedwede Ordnung zu scheren.
„Ach Mist. Tut mir leid. Sonst bin ich nicht so schlecht mit Worten, aber gerade bekomme ich einfach keinen einzigen Gedanken so formuliert, wie er gemeint ist.“
Während ich verzweifelt versuchte, wieder das Kommando über die Synapsen zwischen der Gedankenflut und meinem Sprachzentrum zu erlangen, zeichnete sich der Anflug eines Lächelns um Caydens Mundwinkel ab.
„Keine Sorge.“
Erneut gab er mir einen Kuss, flüchtig und scheu wie der Flügelschlag eines Schmetterlings im Frühlingswind, und dabei doch gezeichnet von einer Selbstsicherheit, die mir die Knie wieder weich werden ließen. Gott sei Dank saß ich auf meinen vier Buchstaben.
Dann streichelte er mir einmal über die Wange.
„Schlaf dich aus.“
„Aber …“, wollte ich noch einwenden, doch wie aus dem Nichts legte sich eine bleierne Schwere auf mich, die mich hinabzog in eine dunkle, bodenlose Tiefe.